Ästhetik als Erinnerung an die Zukunft

Wer einer Sache auf den Grund gehen will, braucht Zeit. Roland Halfen (1958–2023) hat sich für das, was er sich vorgenommen hat, Zeit genommen. Jetzt ist er plötzlich und unerwartet gestorben. 


Eine Biografie, die auf Jahrhunderte angelegt schien, ist abrupt zu Ende gegangen. Unermüdlich und methodisch arbeitete sich Roland Halfen durch enorme Mengen an Literatur und Archivgut, legte Zusammenhänge frei wie ein Archäologe, der mit Spaten und Pinsel Erdschichten und Schutt vorsichtig beseitigt, um Entferntes und Vergessenes ans Licht zu bringen. Sein Denken war umsichtig, bewegte sich empathisch in Kreisbewegungen und weiten Bögen um den Gegenstand. Erst muss das Territorium gut erkundet und die Ausgrabungsstätte ausgemessen werden. Dann gilt es, sich über die Instrumente und die für den spezifischen Gegenstand richtige Herangehensweise zu vergewissern. Wo bin ich, womit habe ich zu tun und wie werde ich dem gerecht? Dieses hermeneutische Bewusstsein, das vielen als Trockenschwimmen anmuten mag, war für Roland Halfen Teil der Sache selbst. Immer wieder hat er in Vorträgen und in Texten die eingenommene Perspektive mitreflektiert und damit sowohl die Distanz zum Gegenstand wie auch die Überzeugung gewonnen, dass erst ein Denken, das sich selbst stets gewiss ist, Brauchbares zu leisten vermag. Das klingt nach Arbeit. 

Detail, Skulpturen am Nordportal der Kathedrale von Chartres, Foto: Guy Dugas

Ich erinnere, wie er als Erstes bei einem Vortrag, einer Sitzung oder in einem Gespräch die Ärmel seines blauen oder weißen Hemdes hochgekrempelt hat im Sinne von: Jetzt beginnen wir und als Erstes müssen wir uns erinnern, wo wir stehen geblieben sind, als Erstes müssen wir hineinschmecken, ein paar Wörter in den Mund nehmen, mal probieren, ob wir sie aussprechen können, mal sehen, wie sich der Raum verändert, wenn wir sie einmal so und einmal so aussprechen. Die Überlegung, das Argument, das Nachdenken und das Abwägen schienen für Roland Halfen eine Erfahrung zu sein, vergleichbar mit der sinnlichen Berührung. Deshalb das Hochkrempeln der Hemdsärmel, sich dem Gedanken möglichst direkt aussetzen, die Handschuhe beiseitelegen, erst einmal den Raum bestimmen, die Region erkunden, die Wetterlage klären, einen Gedanken herausgreifen, diesen hochhalten, von verschiedenen Seiten anschauen, seinen reichhaltigen Inhalt auskosten, die scheinbar banalen und vermeintlich längst verstandenen Bezüge vor Augen führen, damit sich der Gedanke selbst aussprechen kann. Nicht nur angesprochen sein, aussprechen will sich der Gedanke. Dafür müssen wir uns klar ausrichten, unsere Haltung befragen und sie gegebenenfalls neu justieren und wir müssen den Denkraum adäquat einrichten.

Rudolf Steiner, ‹Ich schaue den Menschen im Wirbel›, undatiertes Notizblatt (Ausschnitt), Rudolf-Steiner-Archiv

Roland Halfen – so kommt er mir jetzt im Erinnern vor – war schon immer da gewesen und das Hochkrempeln der Hemdsärmel war Ausdruck davon, von Anknüpfung und Erinnerung, vom Versuch, jetzt doch wirklich mal einen Schritt nach vorn zu gehen. Tatsächlich hat er sich in den letzten 30 Jahren äußerlich kaum verändert. Das Hemd, die schwarze Weste, die Jeans und das dichte Haar mit feinen Locken in Pagenschnitt. Immer schon da, sich immer schon erinnernd und dabei die Gewissheit ausstrahlend, dass das Gesuchte immer schon da war, etwa wie es bei Blaise Pascal heißt: «Tröste dich! Du würdest mich nicht suchen, wenn du mich nicht gefunden hättest.» Ein Ruf, der mich an Roland Halfen erinnert und mir vielleicht gerade deshalb so stimmig erscheint. Eine paradoxe und widerständige Formulierung, die der Erwartung zuwiderläuft, dass wir das zu suchen haben, was wir gerade nicht haben, und nicht das, was wir bereits haben, und deshalb nicht suchen müssen. Sie erinnert mich an einen Vortrag, den er am 1. Oktober 2008 zur Eröffnung der Tagung ‹Anderzeit› in Dornach zum Thema ‹Ästhetische Erfahrung› gehalten hat.1 An diesem Abend entwickelte Roland Halfen die These, dass die ästhetische Erfahrung durch die Formulierung von Paradoxien erfasst werden kann. Insgesamt sieben paradoxe Aussagen führte er an diesem Abend vor, Aussagen wie: «das Wesen liegt auf der Oberfläche», oder den Philosophen Dieter Henrich, bei dem er in München studiert hatte und dem er lebenslänglich treu blieb, paraphrasierend: «Normalerweise ist es immer so im Bewusstsein, dass man sich auf eine Sache konzentriert, das Bewusstsein fokussiert, oder man schweift eben mit der Aufmerksamkeit unkonzentriert herum. Aber beim Kunstwerk ist das Merkwürdige, dass gerade durch das Schweifen die Konzentration erhöht wird.» Gerade um diesen Bewusstseinsgewinn bzw. die Bewusstseinssteigerung dank der ästhetischen Erfahrung ging es Roland Halfen. Ein zweites Aufwachen, das dann eintritt, wenn das Bewusstsein sich selbst als denkend erschließt. Die ästhetische Erfahrung leitet diesen Bewusstseinsruck ein. Das Erleben ist zwar sinnlich affiziert, der Inhalt der ästhetischen Erfahrung ist aber nicht aus den Sinnen abgeleitet, sondern eine geistige oder ideelle Qualität. Ich erinnere ein Gespräch mit Roland Halfen über die Frage nach dem Spirituellen in der Kunst. Er fragte leicht irritiert, jedoch mit milder und lächelnder Stimme, die so auszeichnend für ihn war, ob nicht alle Kunst spirituell sei. Damit meinte er nicht die Materialität des Werkes, sondern die Kunsterfahrung oder eben die Erfahrung einer ideellen Qualität. Aber gehen wir zurück zum Vortrag. Um zu verdeutlichen, berief sich Roland Halfen auf drei Kategorien der Schönheit, wie sie Thomas von Aquin definiert habe: Einheitlichkeit (‹integritas›), Stimmigkeit (‹proportio›) und Klarheit (‹claritas›). Diese Qualitäten sind uns allerdings in der Regel nicht als solche bewusst. Wir erfassen den ästhetischen Akt in seiner Konstitution nicht voll bewusst mit. Aber die sinnlich erlebte Klarheit im Ton eines musikalischen Werkes oder in der Betrachtung eines Gemäldes erinnert uns an eine vorbewusste Geisterfahrung dieser Qualität, so führte es Halfen aus, und durch diese Erinnerung, die sich wie ein Schatten ins sinnliche Erleben schlägt, bildet sich die ästhetische Erfahrung. Eine ästhetische Erfahrung ist eine geistige Erfahrung oder eine Erfahrung des Ich selbst als geistige Tätigkeit.

Roland Halfen bei einer Führung im Rudolf-Steiner-Archiv 2008, Foto: Charlotte Fischer

Wieder spielt Dieter Henrich mit: «Wer das Glück hatte und in der Lage war, mit Henrich denkend in die Tiefen und Rätsel des menschlichen Selbstbewusstseins und des Verhältnisses des Menschen zu sich selbst einzudringen, kann sich nie mehr mit jeglicher kruden verdinglichenden Rede vom ‹Ich› zufriedengeben, als handele es sich hierbei um eine besondere Art von Objekt. Er hat umsichtige und behutsame, zugleich gedanklich erhellende Einblicke in etwas – wie Henrich es nennt – ‹Unvordenkliches› erhalten.» Roland Halfen steuert auf seinen finalen Gedanken zu. Wir kommen der Natur der ästhetischen Erfahrung näher, wenn wir uns auf einen Prozess der Selbstvergewisserung einlassen und gewissermaßen im Rückwärtsgang die sinnlich eingeleitete Erfahrung als Qualitäten des Geistes, die wir vorbewusst schon kennen, betrachten. Paradox formuliert hieße es: «Ästhetische Erfahrung ist eine Erinnerung an die Zukunft. Etwas fällt mir auf, weil ich das kenne, aber ich kenne es nur aus meinem eigenen Inneren, nämlich aus meinem eigenen unbewussten Erlebnis des Geistes.» Wieder dieser merkwürdige Gedanke: «Du würdest mich nicht suchen, wenn du mich nicht gefunden hättest.» Ich bin zwar mit meiner Aufmerksamkeit auf das vor mir Liegende gerichtet, etwas, das ich taste, sehe oder höre, aber ich bin zugleich innerlich aktiv, in einer Gleichzeitigkeit von Erwartung und Erinnerung. Aber warum eine Erinnerung an die Zukunft? Weil der Geist, so Roland Halfen, «nicht einmal nur Gegenwart, sondern immer Zukunft» ist. «Er kann gar nicht Vergangenheit sein, weil er nicht vergeht.» Und so kommt die sonderbare Wendung, dass die vertiefte ästhetische Erfahrung in eine Denkerfahrung führt, die uns sogar in eine «ästhetische Stimmung» versetzen kann. Wer also «zuerst mal ein bisschen bei sich selber anfängt, Kriterien zu sammeln», steigert seine «Lebensqualität», macht sich sensibel für die Fülle und den Reichtum der sinnlich-ästhetischen Erfahrung. So beendete Roland Halfen seinen Vortrag an jenem Oktoberabend. Ein Vortrag, der in meinen Augen den Kern seines Denkens und seine Leidenschaft für die Kunstphilosophie, insbesondere die von Rudolf Steiner, intim zum Ausdruck bringt; seine unermüdliche Arbeit an Steiners nie vollendetem Ästhetik-Projekt und dem Versuch, das Natürliche und das sinnlich Erfasste mit dem Übernatürlichen und dem Geistig-Ideellen so zusammenzudenken, dass beide Bereiche in ihrem Eigenrecht voll anerkannt werden. Niemand hat dieses Erbe so gründlich und ernst genommen wie Roland Halfen. Er wird uns noch lange als stabile Referenz bleiben.


Titelbild Roland Halfen bei einer Führung im Rudolf-Steiner-Archiv 2008, Foto: Charlotte Fischer

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Footnotes

  1. Folgende Zitate stammen aus der unveröffentlichten Dokumentation ‹Anderzeit II›, redigiert von Johannes Nilo, Philipp Tok.

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