Neue Melodien

Rabbi Mosche Teitelbaum, der Schüler des ‹Sehers von Lublin›, erzählte: «Wenn Rabbi Schmelke am Sabbat und an den Festtagen im Gebete stand, besonders aber am Versöhnungstag, wenn er den Opferdienst des Hohepriesters, wie er an diesem Tag gewesen war, vortrug, wurde das Geheimnis tönend zwischen Wort und Wort, und er sang neue Melodien, Wunder der Wunder, die er nie gehört hatte und die kein Menschenohr je gehört hatte, und er wusste gar nicht, was er singt und welche Weise er singt; denn er haftete an der oberen Welt.»

Ein sehr alter Mann, der als Knabe in Rabbi Schmelkes Chor gesungen hatte, pflegte zu erzählen: «Es war der Brauch, dass man für alle Gesänge die Noten zurechtlegte, damit man sie beim Beten vor dem Pult nicht herbeiholen müsste. Aber der Rabbi kehrte sich nicht dran und sang ganz neue, nie gehörte Weisen. Wir Sänger verstummten alle und lauschten ihm. Wir konnten es nie fassen: Woher kommt ihm diese Melodie?»

Martin Buber
Aus: Die Erzählungen der Chassidim. Zürich 2014, S. 261.


Wenn die jüdische Welt in diesen Tagen mit Jom Kippur den Versöhnungstag feiert, hat ein neues jüdisches Jahr bereits begonnen. Die Sehnsucht nach neuen Melodien, die über die Religionszugehörigkeit hinaus Frieden stiften, vereint den jüdischen Versöhnungstag mit der ganzen Welt.


Auswahl und Kommentar Johanna Lamprecht
Zeichnung Philipp Tok

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