In der Mitte die Empfindung

Ich stelle die Empfindung in die Mitte. Sie ist das wirkliche Bindeglied zwischen der Natur und allem meinem Schaffen. Sie ist dasjenige, was in meinem Innern von einer Wahrnehmung zurückbleibt. Für gewöhnlich erlebe ich meine Empfindungen als passiv. Dann verblassen sie allmählich, je weiter das hervorgerufene Erlebnis zurückliegt. Es ist aber möglich, mit einer Empfindung aktiv umzugehen, wenn man sie willkürlich zu etwas macht, was sie von selbst nicht ist.


Erster Schritt ist die Steigerung der Erlebnisintensität durch Konzentration und Beobachtung. Hierbei ist es sinnvoll, sich auf eine Sache zu beschränken (zum Beispiel bei einer Landschaft auf einen ganz bestimmten, festgelegten Eindruck). Die Wahrnehmung muss dauern, solange das Erlebnis sich durch sie noch steigern lässt. Fängt es an nachzulassen, so ist der zweite Schritt notwendig. Jetzt muss die Wahrnehmung bewusst abgestellt werden. Alles, was ab jetzt im eigenen Innern entsteht, darf nicht unmittelbar mit der Wahrnehmung zusammenhängen. Durch einen Willensakt wird als dritter Schritt die von der bestimmten Wahrnehmung herrührende Empfindung so in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestellt, dass sie jetzt selbst Gegenstand ist, nicht mehr nur Wirkung.

Hält man dieses Erlebnis genügend lang, ohne es durch etwas Fremdes zu zerstören, dann erlebt man die Empfindung allmählich immer stärker als wirkende Kraft. Als ein Wesenhaftes, das selbst bewirken kann. Dann drängt sie nach einer äußeren Gestaltung, nach einem sinnlichen Bild. Und was aus einer solchen Kraft entsteht, ist weder bloß Abbild der wahrgenommenen Natur noch persönliche Erfindung meinerseits, sondern sinnliche Erscheinung einer in der Wahrnehmung verborgenen Kraft.

Jedes Mal, wenn ich in diesem Sinne gestalten kann, lebt ein Stück verborgener Natur in meinem Schaffen auf, und ich erlebe die Brücke zwischen Natur und Mensch! (München, 1985)


Titelbild Ulrich Schulz, Animus grün

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