Zur rechten Zeit am rechten Ort

Schon als Medizinstudent hat Tankred Stöbe gewusst, dass er sich für diejenigen einsetzen will, die sonst keine Hilfe erfahren. So war er schon im Studium an Kliniken in Indien, Lesotho und Kenia. Seit 20 Jahren ist er mit Ärzte ohne Grenzen an Krisenorten unterwegs, zuerst in Thailand, dann von Nepal über Gaza und Somalia bis zum Einsatz auf dem Mittelmeer zur Rettung von Bootsflüchtlingen. Sonst ist Stöbe als Internist am anthroposophischen Klinikum Havelhöhe tätig. An der Jahrestagung der Medizinischen Sektion sprach er von seinen aktuellen Erfahrungen in Herat, einer der fünf Hauptstädte Afghanistans. Die Fragen stellte Wolfgang Held.


Es sei eigentlich ein reiches Land, so eröffnete Tankred Stöbe seinen Bericht und umriss vier Aufgaben für die dortige medizinische Versorgung: 1. Es gebe im Land eine hohe Zahl an Binnenflüchtlingen. Weil Ernten ausfielen, brach die Lebensgrundlage weg, die politische Lage kam hinzu. Weil seit Monaten Ärzte, Ärztinnen und Pflegende kein Gehalt mehr bekämen, hätten alle staatlichen Kliniken die Arbeit einstellen müssen. Ärzte ohne Grenzen hat deshalb eine Tagesklinik aufgebaut und dieses Jahr schon 54 000 Konsultationen durchgeführt. 2. Besonders bitter ist die Lage für die Kleinsten: Mütter bringen ihre kaum ein Jahr alten Kinder mit schwerer Mangelernährung ins Krankenhaus. Stöbe berichtet von einem 18 Monate alten Kind, das auf sein Geburtsgewicht zurückgefallen ist. Dieses Problem herrsche seit Jahren und bedeute für die 40 Bettenstationen von Ärzte ohne Grenzen, dort über 100 Kinder zu versorgen. 3. An den verbleibenden Krankenhäusern sei die Hygiene so schlecht, dass man oft nicht sagen könne, ob es besser sei, mit den Kranken in ihren Heimatdörfern zu bleiben. Es gebe weder Medikamente noch Geräte und oft nicht einmal Strom, weil der Treibstoff für die Generatoren fehlt. 4. Die dritte Welle der Coronapandemie scheint in Afghanistan überwunden zu sein, aber vom westlichen Iran kommt bereits die vierte. Im Zentrum der Stadt haben Ärzte ohne Grenzen deshalb ein Zentrum zur Behandlung aufgebaut, denn in dem bestehenden Krankenhaus würden über 90 Prozent der beatmeten Covid-Erkrankten sterben.

Tankred Stöbe, zweiter von rechts, im Einsatz, Foto: z. V. g.

Soldaten in kugelsicheren Westen auf dem Basar und Ärzte Ihrer Organisation im weißen Ärztekittel – sind das Gegenbilder?

Tankred Stöbe Wir können in Krisengebieten nur arbeiten, wenn wir akzeptiert werden. Wir reden mit den Menschen vor Ort und fragen nach ihren medizinischen Bedürfnissen. Das ist tatsächlich eine andere Rolle als jene der westlichen Besatzungsmächte. Unsere Sicherheit ist eine ‹verhandelte› Sicherheit, wie wir sagen. Wenn die Konfliktparteien unsere Neutralität und Unabhängigkeit und den Zugang zu den Kranken gewährleisten, werden wir tätig. Deshalb sprechen wir regelmäßig mit allen Machthabern, auch den Talibanführern. Die beste Visitenkarte, die wir dabei abgeben können, ist eine gute medizinische Versorgung. Militärärzte oder -ärztinnen haben vielleicht eine ähnliche Ausbildung wie wir, aber wir arbeiten doch nach ganz anderen Prinzipien und haben uns in den letzten 20 Jahren in Afghanistan auch von den Besatzungsmächten abgegrenzt. Uns geht es nicht darum, politisch oder kulturell Einfluss zu nehmen, wir helfen medizinisch. Wohin sich das Land entwickelt, das müssen und sollen die Afghaninnen und Afghanen selbst entscheiden.

Was ist der Kern der Arbeit?

Leben retten und Leid lindern, vor allem in Konfliktgebieten, wo die Not besonders groß und weniger Helfende verfügbar sind. Viele der größten Krisen der Gegenwart erreichen wenig internationale Aufmerksamkeit: in der Demokratischen Republik Kongo, in Jemen, Mozambik und Südsudan. Ursachen sind meist menschengemachte kriegerischen Auseinandersetzungen, aber auch Naturkatastrophen, die Klimaveränderungen oder religiöse Spannungen.

Christus speist beim Zöllner, im Islam ist es eine der fünf Regeln, der ‹Säulen›: Barmherzigkeit ist überkonfessionell – oder?

Für Religionsfragen bin ich kein Spezialist, aber die Hilfe für die Leidenden, diese grundmenschliche Tugend, findet sich in allen Weltreligionen. Die Neutralität bei Ärzte ohne Grenzen schließt deshalb Religion ein. Ich habe in der humanitären Hilfe oft gesagt, dass ich keiner Religion angehöre, um nicht zu polarisieren, nicht angreifbar zu sein. Dann merkte ich, dass es Vertreter und Vertreterinnen aller Religionen irritiert, wenn ich das sage. Ein Talibankämpfer wollte mich gerade zum Islam konvertieren und ich hielt dagegen, dass ich als Arzt an die Prinzipien der humanitären Hilfe glaube. Das akzeptierte er schließlich und wir sprachen über die medizinische Versorgung. Da konnten wir uns verständigen.

Was geht durch die Seele, wenn man im Einsatz ist?

In Afghanistan spürte ich deutlich: Ich bin zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Es gibt hier so viel zu tun, medizinisch, aber auch seelisch, denn die Unsicherheit unter den Menschen ist groß – was wird die Zukunft bringen? Es gibt kaum ein Land, wo die Zukunft derzeit unklarer ist. Das gilt vermutlich auch für die neuen Machthaber, die von ihrem schnellen Erfolg selbst überrascht wurden.

Die Neutralität bei Ärzte ohne Grenzen schließt deshalb Religion ein. Ich habe in der humanitären Hilfe oft gesagt, dass ich keiner Religion angehöre, um nicht zu polarisieren, nicht angreifbar zu sein.

Ein Kind mit 18 Monaten wieder auf Geburts­gewicht und hier in Mitteleuropa 30 Käse­sorten im Kaufregal. Was fühlt man da?

Die Bilder aus Herat werden bleiben. Und die Rückkehr aus einem solchen Land, wo alles fehlt und überall Not herrscht und jede helfende Hand gebraucht wird, fällt mir schwerer als die Fahrt dorthin. Bei unserer materiellen Überversorgung und Gemütlichkeit fällt es mir manchmal schwer, die Unzufriedenheit und Sinnsuche hier zu akzeptieren.

Was wünschen Sie Afghanistan?

Das Land ist seit 40 Jahren im Bürgerkrieg, seit fast 200 Jahren Spielball fremder Mächte. Ich wünsche dem Land, dass endlich Ruhe einkehrt und sich die Menschen auf ein friedliches, verlässliches Leben einstellen können, was für uns so selbstverständlich ist. Wir dürfen dieses Land nicht vergessen.

Wie kam es zu den Interviews mit cnn oder Al Jazeera?

Die Presseanfragen sind meist zufällig, aber wir sind oft auch die einzigen externen Zeugen. Ich hatte an dem Morgen Mitte September gerade mit einer Waldorfklasse in Sydney ein Life-Teaching zu Afghanistan. Für solche Dinge habe ich normalerweise keine Zeit, aber dort unterrichtet mein Bruder Jonas. Direkt danach rief der Kommunikationskoordinator von Ärzte ohne Grenzen an und fragte, ob ich mit cnn sprechen könnte. Danach gab es mit sechs weiteren internationalen Medien Interviews. Idealerweise werben wir bei Ärzte ohne Grenzen nicht um Spendenmittel, sondern wünschen uns, dass unsere Arbeit für sich spricht. Wichtiger noch ist uns, auf diesem Weg den Menschen in den Krisengebieten eine Stimme zu geben.

Wo bewährt sich die eigene Spiritualität, wenn man solcher Not und Gewalt begegnet?

Der humanitär fühlende Arzt in mir, der oft schnell entscheiden und handeln muss, der ist mir am nächsten. Es ist vielleicht ein einfaches Wertesystem, aber ich halte die Autonomie und Freiheit jedes einzelnen Menschen für existenziell. Ein Kranker ist jedoch kaum in der Lage, souveräne Entscheidungen zu fällen. Wenn wir ihm dann helfen, gesund zu werden, kann er wieder selbst entscheiden. Ob mir diese Entscheidungen gefallen oder nicht, darum geht es nicht. Meine Aufgabe ist es, die Menschen bestmöglich zu befähigen, ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Das ist manchmal schwer auszuhalten, aber es ist die Freiheitsmaxime unserer Arbeit.


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