Woher kommen die guten Ideen?

Die Corona-Krise beschleunigt die Wandlungsprozesse in Gesellschaft und Arbeitswelt. Diese rufen nach neuen Ideen und Inspirationen. Uwe Urbschat begleitet und berät Unternehmen in Entwicklungsfragen und untersucht hier, in welchem Klima sich neue Ideen und Perspektiven zeigen.


Stellen wir uns vor, die aktuelle Corona-Krise ist überwunden, das Virus eingedämmt und das normale Leben hat uns wieder. Dann ist doch alles gut. Die Reset-Taste ist gedrückt und wir können getrost zu unseren Gewohnheiten zurückkehren. Diese Vorstellung, einmal kurz zugelassen, ruft die Empfindung hervor: Nein, irgendwie können wir so nicht weitermachen.

Vielmehr zeigt die globale Krise auf, wo die Welt aus der Spur geraten ist: Lieferketten, Preisbildung, Systemrelevanz von Berufen und Tätigkeiten, die Frage von Arbeit und Einkommen, Spekulationen und die Abhängigkeit von Algorithmen, die Eigentumsfrage von Grund, Boden und Unternehmen, die Freiheit und Unabhängigkeit der Forschung, Kultur als Inspirationsquelle. Schon die Frage, wem eigentlich der Impfstoff gehört, lässt spannende Auseinandersetzungen erwarten. Dazu noch die bedrohliche Erwärmung unseres Planeten, unser Umgang mit der Natur, mit Boden, Pflanzen und Tieren. Hunger in der Welt, enorme und dramatische Fluchtbewegungen, Kriege immer noch als Mittel der Konfliktbewältigung usw. Man sieht: Da warten existenzielle Aufgaben – da will ein neuer, gesellschaftlicher Konsens erarbeitet werden, und das weltweit.

Ein großer Teil der Verantwortlichen hängt noch in alten mentalen Modellen fest1, in fixierten Ideen von ständigem Wachstum, Marktgerechtigkeit durch Wettbewerb oder singt noch immer das Lied der Vollbeschäftigung, trotz technischem Fortschritt mit erheblichen Konsequenzen für unsere Arbeitswelt – großen Chancen und großen Risiken.

Die alten Konzepte verlieren ihre Tragfähigkeit

Schon vor dieser Virus-Krise war deutlich: Die alten Konzepte verlieren ihre Tragfähigkeit. Wir erleben die Welt als unbeständig, unsicher, komplex und mehrdeutig.2 «Und gegen Komplexität kann man nicht protestieren.»3 Eine neue Art des Miteinanders ist gefragt. «Wer gegenwärtig die Welt um sich betrachtet, der sieht überall das sich mächtig erheben, was man die soziale Frage nennt», so Rudolf Steiner 1905/06.4 Der Satz gilt auch heute.

In einer Zeit des Übergangs

Übergänge, so Nathalie Knapp5, werden als unsicher erlebt, bieten aber auch kostbare Ereignisräume, die Potenzial bergen, poetische Zonen des Lebens und inspirierende Begegnungen ermöglichen und einladen, uns mit der kreativen Kraft des Lebens neu zu verbinden – ein Schulungsweg der Interessensentwicklung. Frederic Laloux6 formuliert das so: «Es liegt etwas in der Luft – es ist eine Bewegung in Gang, eine stille Revolution. Nicht mehr höher, schneller, weiter – sondern Ich und Du für eine lebenswerte Zukunft. Experimente sind viele auf dem Weg …»

Formen: ‹Gestures› von Ella Lapointe, vektorisierte Tusche.

Wir können es besser. Dazu gibt es viele inspirierende und ermutigende Veröffentlichungen in der letzten Zeit.7 8 9 10

Krise als Chance – Chaos als Möglichkeit. Hier haben auch die Medien, hat die Kultur eine gesellschaftliche Aufgabe. Solange den Sensationen und dem Börsenbarometer mehr Aufmerksamkeit zukommt als der begleitenden Suche nach der guten Zukunft und Journalisten den Dissens und das Trennende suchen und betonen, solange werden Medien und Journalisten ihrem gesellschaftlichen Auftrag nicht hinreichend gerecht. Es gibt Ausnahmen.11 Aber der Mainstream orientiert sich eher am Dogma der Einschaltquoten und Auflagen als an der Substanz.

Was fehlt

Was heute fehlt, ist ein breiter gesellschaftlicher Diskurs über die Frage, wie wir morgen leben wollen. Der wird nicht von der Politik kommen – auch nicht aus der Wirtschaft. Die Politik greift die Themen auf, wenn sie mit der Chance einer Mehrheitsfähigkeit verbunden sind oder Wählerinnen und Wähler zumindest nicht abschrecken. Da haben innovative Ideen wenig Raum. Und die Wirtschaft reagiert bei Kundenrelevanz. Neue Ideen kommen gesellschaftlich aus dem freien, selbstorganisierten Geistesleben. Wichtig ist die Schaffung von einer neuen Art von Begegnungsräumen, die neue Ideen einladen, in Beziehung bringen und passende Pflastersteine erfinden, für den guten neuen Weg. Da ist jede belebende Initiative im besten Sinne erfreulich.12

Wie kommt das Neue in die Welt?

Der Neurobiologe Gerald Hüther geht der Frage nach, wie ein neues Denken zu einem neuen Handeln werden kann. Also wie ist der Weg von der Idee zum Ideal? Dafür braucht es, so der Wissenschaftler, eine «mittlere Qualität», sonst bleiben die Gedanken im Abstrakten hängen. Theoretische Ideen wirken erkältend. Und diese mittlere Qualität kennzeichnet Hüther mit den Begriffen Begeisterung, Leidenschaft und Mitgefühl. Also sich erwärmen, entzünden, Feuer fangen für eine gute Idee, dafür braucht es Anwesenheit, Nähe und Begegnung.13 Sie sind Voraussetzung für ein inspirationsfähiges und innovationsoffenes soziales Klima. Es ist wie ein Netz, das zwischen den einzelnen mitwirkenden Menschen und der Fragestellung gesponnen wird, die in den Fokus genommen wird: Je engmaschiger, desto mehr Einfälle bleiben hängen – je grobmaschiger, desto mehr gehen uns durchs Netz.

Aller guter Anfang ist Wärme

Wille und Wärme sind die erste Voraussetzung, um etwas begreifen und behandeln zu können. Wenn etwas Neues beginnen soll, entwickelt sich ein eigener Wärmekörper, der sich gegenüber der gegebenen Umgebung behaupten kann und muss. Wärme verändert Zustände, durchdringt sie, dehnt Stoffe aus und weitet sie zur Sphäre hin.14 «Wenn Wärme die Luft durchdringt, tritt ihre kosmische Orientierung hervor. Wärme bewegt die Luft und dehnt sie aus. Sie ist Tätigkeit, die sich im Stofflichen auswirkt, und damit unserem Willen verwandt.»15 Zukunftsorientierung beginnt mit der Bildung von Wärmeräumen. Der wärmende, liebevolle Blick lässt Widerstände schmelzen und schließt auf für das räumlich-zeitliche Umfeld.16

Ein raumgreifender Wärmekörper bildet sich, wo wohlwollende Aufmerksamkeit sich sammelt. Durch diese Aufmerksamkeit schälen wir die Besonderheit heraus aus dem Gleichgültigen, durch Widmung prägen wir Bedeutung ein. Fokussierung konturiert Formen. Zuwendung ist ein Willensakt17 – Interesse entsteht – ein Da-Zwischen. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch der Welle-Teilchen-Dualismus aus der Quantenphysik: Durch bloße Aufmerksamkeit und Wahr-Nehmung verändert sich Energie zum Stoff, Welle zum Teilchen und umgekehrt. Unsere Wahrnehmung ist einflussreich!

Formen: ‹Gestures› von Ella Lapointe, vektorisierte Tusche.

Ich sehe dich

Die Ubunti, ein kleines afrikanisches Volk, pflegen eine wunderbare Begrüßungsformel. Der Zuruf bei Begegnung lautet: «Ich sehe dich!» Und der Ruf zurück: «Ich bin da!» Für mich heißt das: Wenn du mich siehst, bin ich mehr da, als wenn du ohne Achtung an mir vorübergehst. Ich stehe auf in deinem Blick. Mangelnde Wertschätzung ist ein sicherer Burn-Out-Treiber – ich strenge mich an, gebe mein Bestes – und niemand nimmt Notiz davon. Das ist, wie wenn man aus einer prallen Luftmatratze vielleicht versehentlich das Ventil entfernt – und langsam und stetig die Lebensenergie entweicht. In dem bekannten Hawthorne-Experiment ist schon zwischen 1927 und 1933 in der Fabrik der Western Electric Company in Hawthorne/USA nachgewiesen worden, dass die menschlichen Beziehungen und ein gutes Betriebsklima entscheidenden Einfluss haben auf den unternehmerischen Erfolg: Allein die Kenntnis darüber, an einer Studie teilzunehmen, und die wahrnehmende Anwesenheit der Forscherinnen und Forscher hat zu stetiger Produktivitätssteigerung geführt. Das war für die Psychologie und die Soziologie damals am Ende des Taylorismus eine neue Erkenntnis. WWW = Wahrnehmung wirkt Wunder.18

Wer im Sozialen heilsam wirken will, kommt an sich und am Du nicht vorbei

Vor einigen Jahren eröffnete ein Berater ein Seminar mit den Worten: «Jetzt bin ich gerade 50 Jahre alt geworden, und so langsam kapiere ich, dass Menschen verschieden sind»: Gewusst hat er das sicher schon früher – aber es schien seine 50 Jahre gebraucht zu haben, um wirklich zu Herzen zu gehen. Jede und jeder ein Souverän. Und jede und jeder kann die Lösung bringen, den rettenden Baustein hineintragen in den Prozess. Rudolf Steiner bietet uns für einen zeitgemäßen Blick auf unsere Nächsten an, davon auszugehen, dass der eigentliche Mensch unsichtbar sei. Und in der Tat können wir Gedanken, Empfindungen, Intentionen, Biografie, Erfahrungen, Prägungen, Muster, Vorlieben u. ä. nicht sehen. Eine Einladung zu der angemessen abständigen Frage: Wer bist du? Wie bist du heute?, dieser jungfräuliche Blick öffnet einen Raum, der nicht rappelvoll angefüllt ist mit Erfahrungen, Vergangenem, Vorurteilen – sondern voller Morgenröte. «Jeden so sehen, als hätte man ihn schon hundertmal gesehen und sähe ihn doch zum ersten Male», so beschreibt Elias Canetti diese Herausforderung. Dieser Begegnungsqualität hat Ingo Krampen schon mit dem Titel seines Artikels in der Wochenschrift eine weitere, besondere Note mitgegeben: ‹Liebe deinen Nächsten als dich selbst. Oder: Wie werde ich gemeinschaftsfähig?›19

Auf den Dialog kommt es an

Der Physiker David Bohm attestiert der Menschheit in seinem lesenswerten Buch ‹Der Dialog – Das offene Gespräch am Ende der Diskussionen›20 ein massives Kommunikationsproblem. Er empfiehlt, auf gesellschaftlicher Ebene Dialogkreise und Dialogforen für die Fragen der Gegenwart einzurichten und diese mit Ausdauer und Hingabe zu pflegen.

Die Bedingungen zum Gelingen eines solchen Dialogprozesses schildert er detailliert in dem genannten Buch, das auch als Arbeitsbuch genutzt werden kann. Und es wird sehr schnell deutlich: Dieser Weg ist ein Lern- und Schulungsweg und die daraus hoffentlich entwickelte gewünschte Zukunft gibt es nicht zum Nulltarif. Bohms These: Die Bewegung hin zu Kohärenz ist angeboren. Und für das Reisegepäck bescheinigt uns der Schriftsteller Robert Musil einen Möglichkeitssinn21 – und das Mögliche sei mindestens so bedeutsam wie das Geschehene.

Auf der Suche nach dem Möglichen

Erste Voraussetzung für einen Dialog ist die Bereitschaft und Fähigkeit zur Reflexion und unbedingt auch zur Selbstreflexion. Wir haben jede Menge Erfahrungen, Annahmen, Hypothesen, Meinungen, Filter, Blockaden, Vorlieben, Ängste im Gepäck. Alle. Diese Faktoren wollen reflektiert, befragt, erkundet und eventuell aufgelöst und neu geformt werden. Dafür ist die Bereitschaft nötig, sich einzulassen und ein vertrauensvolles Klima zu bilden. Vertrauen lässt sich nicht verkünden, sondern bildet sich langsam mit der Zeit in einem kontinuierlichen Prozess von Distanz und Nähe. «Vertraulichkeit und Fremdheit – es gibt sie nur zusammen», schreibt Iris Wolf in ihrem Roman ‹Die Unschärfe der Welt›.22 Ständig rührt das eigene Leben an anderen Leben – und umgekehrt. Das ist unvermeidlich.

Der Macht der Annahmen und ihrer virusähnlichen Natur, so Bohm, können wir begegnen mit einem anhaltenden, ernsthaften Einsatz, nicht urteilender Neugier und voller Aufmerksamkeit. Wenn die Teilnehmenden an ihren Annahmen in jedem Fall festhalten, denken sie nicht gemeinsam. Jeder steht für sich allein.

Zukunftsorientierung beginnt mit der Bildung von Wärmeräumen. Der wärmende, liebevolle Blick lässt Widerstände schmelzen und schließt auf für das räumlich-zeitliche Umfeld.

Zuhören einer anderen Ordnung

«Vorurteilsfrei zuhören, ohne zu versuchen, sich gegenseitig zu beeinflussen. Das Interesse eines jeden muss in erster Linie der Wahrheit und Kohärenz gelten, sodass Bereitschaft entsteht, alte Vorstellungen und Absichten fallen zu lassen und, wenn nötig, zu etwas anderem fortzuschreiten», so beschreibt Bohm diesen Kraftakt.

Da ist Arbeit notwendig, bis die Wahrnehmung hinreichend erfasst ist, Übereinstimmung entsteht und die passende Idee Gestalt annehmen kann. Zunächst nehme ich die Meinungen, Perspektiven, Ansichten und Hypothesen des oder der anderen auf – sie arbeiten in mir. Wir teilen einen gemeinsamen Inhalt, selbst wenn wir nicht oder nicht völlig übereinstimmen. Verständnis muss nicht unbedingt Zustimmung bedeuten. Aber es entsteht ein gemeinsames Bewusstsein, ein gemeinsamer Geist, der das Individuelle nicht ausschließt. Zumindest annähernd: Es ist gut, davon auszugehen, dass die Bedeutungen immer nur ähnlich sind und nicht identisch. Es bleibt ein Unterschied zwischen dem, was jemand sagt, und dem, was der oder die andere verstanden hat. Manchmal beschwerlich. Und um dem agilen Doppelgänger, der so gerne mit am Tisch sitzt und sich geltend macht, nicht den Raum zu überlassen, möchte ich hier ein bezauberndes Lied von Marshal Rosenberg, dem Begründer der gewaltfreien Kommunikation, anführen. Es ist auf Youtube zu finden und heißt: ‹See me beautiful!› Schau auf meine schöne Seite, ich weiß, es gibt auch eine andere. Dieses Lied in kritischen Momenten zu erinnern, kann helfen, die Brücke zu finden.

Formen: ‹Gestures› von Ella Lapointe, vektorisierte Tusche.

Anziehend werden für gute Ideen

Eine gemeinsame Beratung ist immer die Suche nach einem Ur-Teil, einem fehlenden, passenden und anschlussfähigen Teil zum Ganzen. Die gefragte Idee zu finden, beginnt mit dem Zusammenlegen der diversen Wahrnehmungsbilder, dem kritischen und selbstkritischen Hinterfragen der mitgebrachten Annahmen und Hypothesen – bis eine zunehmende Übereinstimmung der gegebenen Ausgangslage entsteht. Erst das Bild gestalten23, ein Durchblick entsteht für den Gesamtzusammenhang. Dogmatismus, Festlegungen und Vorurteile dagegen verbauen den Zugang zu Einsicht und Erkenntnis und stauen den Prozess. Deshalb empfiehlt Claus Otto Scharmer24, so lange bei der Wahrnehmung zu bleiben («observe, observe, observe»), bis uns ein Licht aufgeht.

Die gemeinsame Suche nach der lösenden Idee kann man berechtigterweise, wenn es gelingt, als Gedankenkunst bezeichnen. Wir arbeiten uns in und mit dem Denken in den Kontext hinein und ertasten stimmige Formen und Vorformen. Das Denken wird fließend. Dieser Lebensprozess findet Ausdruck und Widerstand in den Formen, die wir bilden, umformen, vielleicht wieder loslassen. Der lebendige Strom für sich ist ewig fließend, bewegt, fluid und formvergänglich. Plastizität ist gefragt. Bohm nennt diese Prozessqualität: «in der Schwebe halten». Mit sensiblen Tentakeln spüren wir den Raum ab: Was geht vor, was wird vorgebracht, was mit besonderem Gewicht, was zur Sache, was eher als persönliche Präferenz oder Annahmen – die hinterfragt werden wollen? Und auch: Wie geht es mir dabei? Wir nehmen die Verbindungen wahr – das Da-Zwischen. Gerne möchte ich hier ein längeres Zitat von David Bohm einfügen: «Wir haben über den Dialog und das Denken gesprochen und darüber, wie wichtig es ist, die Aufmerksamkeit dem Gesamtprozess zuzuwenden, nicht nur dem intellektuellen Gehalt aller verschiedenen Meinungen und Ansichten. Wir verfolgen, wie wir alles zusammenhalten, und wir beobachten den Prozess der Auswirkungen auf uns selbst, unsere Gefühle und körperlichen Reaktionen, und die Auswirkungen auf die übrigen Teilnehmer. Das ist von entscheidender Bedeutung, dieses Zuhören und Beobachten, das Achten auf den konkreten Denkvorgang und die Reihenfolge der Denkabläufe, das Ausschauhalten nach Inkohärenz, nach Fällen, wo das Denken nicht richtig arbeitet.»25 Also der Idee eine Chance geben, sich gut zu entwickeln. Erste Verbindungsfäden finden sich, einzelne Gedanken erfahren besondere Betonungen, Sinnzusammenhänge erscheinen und bislang unbekannte Deutungen tauchen auf, aus Unbestimmtheit wird Deutlichkeit – ein Gefäß entsteht – eine Idee wird eingeladen und macht sich auf, wenn wir uns aufmachen. Unser Part: Wir arbeiten der Idee mit annähernden Bildern entgegen, laden Anwesenheit ein – bis ein Zusammenklang der Einzelelemente zu einem sinngebenden Ganzen entsteht. Evidenz erscheint. Das ist viel mehr ein klangliches Erleben von Stimmigkeit als ein logisch-additives Nachrechnen. «Unser Fühlen, unser in Hingabe entwickelter Wille wird dabei zum Wahrnehmungsorgan für etwas dem bisherigen Bewusstsein Verborgenes. Das ist eine Evidenzerfahrung, der gegenüber es keine Unsicherheit gibt, keinen inneren Widerspruch und keinen Zweifel.»26 Es kann nichts ökonomischer sein, um im Leben zu wirken, als diese geistigen Kräfte zur Mitwirkung einzuladen.

Was ist Hingabe an die Außenwelt? Hingabe an die Außenwelt, die uns durchdringt, die unser Handeln mit Gedanken durchdringt, ist nichts anderes als Liebe.

In der Talk-Reihe der Mahle-Stiftung im Stadtpalais Stuttgart war Harald Schwaetzer von der Kueser Akademie für europäische Geistesgeschichte zu Gast. Einer der zentralen Sätze dieses lebendigen Gesprächs27: «Wir müssen uns als Menschen neu erfinden und müssen zusehen, dass unser Denken eine Handlungskompetenz hat […] und wir müssen begreifen, dass Wahrheit etwas ist, was sich erst im Prozess zwischen uns vollzieht.»28

Formen: ‹Gestures› von Ella Lapointe, vektorisierte Tusche.

Pilger, die aufeinander zuwandern

«Wer sich für den Brückenbau schlecht vorbereitet, dem wird sein Mangel bald klar werden, wenn er an die Praxis herantritt … Wer sich aber für das Wirken im sozialen Leben schlecht vorbereitet, dessen Mängel können sich nicht so schnell erweisen. Schlecht gebaute Brücken stürzen ein; und dem Befangensten ist dann klar, dass der Brückenbauer ein Pfuscher war. Was aber im Sozialen verpfuscht wird, das zeigt sich nur darinnen, dass die Mitmenschen darunter leiden … Die Verhältnisse, in denen man lebt, sind von den Mitmenschen geschaffen; und man wird niemals selbst bessere schaffen, wenn man nicht von anderen Gedanken, Gesinnungen und Empfindungen ausgeht, als jene Schöpfer hatten.»29 «Wir kommen zu einem immer vollkommeneren Handeln eigentlich dadurch, dass wir diejenige Kraft in uns ausbilden, die man nicht anders nennen kann als Hingabe an die Außenwelt … Dadurch aber gerade, dass wir den Weg finden, um hingegeben zu sein an die Außenwelt, gelangen wir dazu, dasjenige, was in unserem Handeln liegt, mit Gedanken zu durchdringen. Was ist Hingabe an die Außenwelt? Hingabe an die Außenwelt, die uns durchdringt, die unser Handeln mit Gedanken durchdringt, ist nichts anderes als Liebe.»30 Wir sind auf dem Weg. «Pilger, die auf verschiedenen Wegen einem gemeinsamen Treffpunkt zuwandern.»31

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Footnotes

  1. Peter M. Senge, Die fünfte Disziplin, Stuttgart 1998.
  2. Die sogenannte VUCA-Welt: Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity.
  3. Niklas Luhmann (1927–1998), Soziologe.
  4. Rudolf Steiner, Geisteswissenschaft und soziale Frage, Dornach 1982.
  5. Nathalie Knapp, Der unendliche Augenblick. Warum Zeiten der Unsicherheit so wertvoll sind, Hamburg 2020.
  6. Frederic Laloux, Reinventing Organizations. Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit, München 2014.
  7. Harald Lesch, Wenn nicht jetzt, wann dann? Handeln für eine Welt, in der wir gerne leben wollen, München 2018.
  8.  Rutger Bregman, Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit, Hamburg 2021.
  9. Harald Welzer, Alles könnte anders sein, Frankfurt 2020.
  10.  Maja Göbel, Unsere Welt neu denken. Eine Einladung, Berlin 2020.
  11. Beispielsweise Perspective Daily
  12. Siehe z.B. auch World Goetheanum Forum.
  13. Die Grundzüge des Dialogischen Managements, siehe Uwe Urbschat, ‹Goetheanum› 50/2020.
  14. Anna Seydel, Stirb und Werde, Stuttgart 2019.
  15. E. M. Kranich, Anthroposophische Grundlagen der Waldorfpädagogik, Stuttgart 1999.
  16. Wim Wenders, Der liebevolle Blick, Youtube, Universität Fribourg, 9.12.2019.
  17. Karl Martin Dietz, Dialog – die Kunst der Zusammenarbeit, Heidelberg 1998.
  18.  Hans-Christian Zehnter, Zeitzeichen. Essays zum Erscheinen der Welt, Dornach 2011.
  19. Ingo Krampen, Liebe deinen Nächsten als dich selbst. Oder: Wie werde ich gemeinschaftsfähig?, ‹Goetheanum› 50/2020.
  20.  David Bohm, Der Dialog. Das offene Gespräch am Ende der Diskussion, Stuttgart 2002.
  21. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Band 1, Hamburg 1970.
  22. Iris Wolf, Die Unschärfe der Welt, Stuttgart 2020.
  23. Bernhard Lievegoed, Soziale Gestaltung am Beispiel heilpädagogischer Einrichtungen, Frankfurt am Main 1986.
  24. Claus Otto Scharmer, Theory U. Von der Zukunft her führen, Heidelberg 2009.
  25. David Bohm, Der Dialog. Das offene Gespräch am Ende der Diskussion, Stuttgart 2002.
  26. Anna Seydel, a.a.O.
  27. Welches Denken führt in die Zukunft?
  28. Siehe auch Lebendige Philosophie mit einem berufsbegleitenden Ausbildungsangebot für Verantwortliche in werteorientierten Organisationen.
  29. Rudolf Steiner, Geisteswissenschaft und soziale Frage. In: Lucifer – Gnosis, Dornach 1904/05, GA 34.
  30.  Rudolf Steiner, Die Brücke zwischen der Weltgeistigkeit und dem Physischen des Menschen, Dornach 1920, GA 202.
  31. Antoine de Saint-Exupéry, Brief an einen Ausgelieferten, aus: Worte wie Sterne.
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