Wieso ist die Welt denkbar?

Der Schritt von der Verstandes – zur Bewussteinsseele hängt mit der Verbindung zwischen Mikro- und Makrokosmos zusammen.


1.

Als ich als Junge zum ersten Mal das berühmte Zitat von Albert Einstein hörte: «Das Unverstehbarste am Universum ist im Grunde, dass wir es verstehen können», fühlte ich mich lange davon gequält, weil mir die Wurzel des Verstehens dunkel und unverständlich erschien. In unserem Alltagsbewusstsein scheint es selbstverständlich, dass wir die Welt verstehen können, so wie wir sprechen können. Aber als Babys können wir weder sprechen noch die Welt verstehen. Das Verstehen ist keine starre und selbstverständliche Sache, sondern ein Vermögen, das sich sowohl in der allgemeinen als auch in der individuellen menschlichen Geschichte von null an entwickelt. Worin wurzelt dieses wunderbare Vermögen? Man kann verschiedene Spekulationen anstellen. Vielleicht ist es nur Zufall? Eine Überlebensstrategie in der Evolution der Menschheit? Oder ein Geschenk der Götter? Worin liegt der Sinn des Verstandesvermögens?

2.

Es gibt etwas in uns, das in der Lage ist, die Welt zu verstehen, in anthroposophischer Terminologie die Verstandesseele genannt. Wahrscheinlich ist die Verstandesseele von Einstein die bisher vollkommenste der ganzen Menschheit, denn sie vermag die Grundelemente des Verstehens, nämlich Zeit und Raum, als veränderbare Denkobjekte anzusehen. Einstein behauptet in seiner Relativitätstheorie, dass Bewegung und Masse nicht, wie Newton meint, im ewig konstanten Zeitlichen und Räumlichen eingeschränkt sind, sondern das Zeitliche und Räumliche quantitativ bestimmen. Dies ist kontraintuitiv und lässt sich als eine kopernikanische Revolution verstehen. Im Alltag braucht man zuerst ein zeitlich-räumliches Bewusstsein, obwohl öfter unbewusst, um über das darin bestehende ‹Etwas› zu denken, was sich in der Grammatik der Sprache anschauen lässt. Nach Einsteins Logik schafft eigentlich dieses ‹Etwas› zunächst das Zeitlich-Räumliche, um sich denken zu lassen. Es wäre so, als ob der Schauspieler oder die Schauspielerin nicht mehr auf einer vorgegebenen Bühne spielte, sondern anfinge, die Bühne selbst zu gestalten. Nach dieser großartigen Errungenschaft in der Physik ist diese wunderbarste Verstandesseele noch nicht befriedigt und stellt eine weitere und grundlegendere Frage: Wieso ist die Welt verstehbar? Diese Wieso-Frage hebt sich über die Wie-Frage, nämlich ‹Wie kann ich die Welt richtig verstehen?›, also über die Wissenschaft hinaus und befindet sich auf der philosophischen Ebene. Ist die Wieso-Frage Teil der Welt oder des verstehenden Subjektes? Im ersten Fall könnte ich weiterfragen: Ist die Verstehbarkeit der Welt auch verstehbar und wieso? Hier würde ich in einen unendlichen Zyklus geraten, fühlte mich wie eine Ameise, die entlang eines Kreises läuft und nie an den Endpunkt gelangen kann. Es scheint, dass wir uns an das die Frage stellende Subjekt wenden müssten, um die Wieso-Frage zu lösen: Wieso kann ich die Welt verstehen? Jetzt bin ich dem Kreis entsprungen und kann auf einem Standpunkt stehen.

3.

Diese Ich-Frage ist nicht leicht zu beantworten. Ähnlich: Wieso kann ich die Welt sehen? Weil ich ein Paar Augen habe. Man erwidert: Ja, du hast ein Paar Augen und kannst damit die Welt sehen. Aber kannst du auch deine Augen sehen? – Offensichtlich kann ich meine Augen mit denselben Augen nicht mehr sehen, nur wenn ich einen Spiegel hätte. Doch die Augen, die sich im Spiegel spiegeln, sind nicht mehr meine eigenen Augen, die sich in meinem Körperorganismus als Teil des Ganzen lebendig befinden, so wie der Strahl des Mondes nicht mehr der der Sonne ist, obwohl er ursprünglich aus ihr stammt.

4.

Wieso kann ich also die Welt verstehen? Man antwortet: Wegen unseres Denkvermögens. Ja, wir verwenden es, um die Welt zu verstehen oder über die Welt zu denken. Das bedeutet, dass das Denkvermögen uns ein Organ ist wie das Auge, mit dem die Welt auf die verständliche oder gesetzmäßige Weise wahrgenommen werden kann. Die Gesetzmäßigkeit wirkt außerhalb und gewissermaßen unabhängig von uns, den Denkenden, in die Welt hinein. Weswegen lässt sich die Welt vom Denkvermögen des Menschen begreifen? Auffällig ist, dass die Denktätigkeit die Resultate, also die Gedanken, ständig hervorbringt. Die Beziehung zwischen Denken und Gedanken ist genauso wie die zwischen Wachstum und Frucht einer Pflanze. Nach der Reifung der Denkfrucht, das heißt dem Entstehen des Gedankens, können wir mühelos darüber nachdenken, wie wir es im Alltag gewöhnlich tun. Die nächste Frage wäre: Vermögen wir über das Denken zu denken, anstatt über den Gedanken nachzudenken? Vermögen wir also, uns auf den Wachstumsprozess der Pflanze einzulassen, anstatt nur ihre Frucht zu genießen? Im ersten Falle denkt die denkende Person zuerst, dann gewinnt sie einen Gedanken, danach denkt sie über diesen gewonnenen Gedanken nach. Dies ist zeitlich sukzessiv und einschichtig. Im zweiten Falle denkt die denkende Person über das Denken nach, das hier und jetzt stattfindet – die zwei Denktätigkeiten, also das Denken und über das Denken zu denken, sind gleichzeitig und zweischichtig. Bis hierhin haben wir eine kopernikanische Wendung vollzogen. Die anfängliche Frage, nämlich ‹Wieso ist die Welt verstehbar?›, hat eher mit der äußeren Welt als mit dem denkenden Subjekt zu tun und wird nach außen gestellt. Indem wir das denkende Subjekt, also die Verstandesseele, unter die Lupe nehmen, haben wir diese Frage in eine nach innen gerichtete Frage verwandelt, nämlich: ‹Wieso bin ich in der Lage, die Welt zu verstehen?› Ich verstehe die Welt durch den Gedanken, den ich oder andere geschaffen haben. Deshalb muss ich diesen Gedanken untersuchen. Woher kommt er und wohin geht er? Aus dem Denkprozess und ins Bewusstsein. Tendierte ich dazu, den dynamischen Denkprozess als einen bereits gestalteten starren Gedanken zu erfassen, wäre ich noch weit vom Kern entfernt. Nun frage ich danach, in den hier und jetzt stattfindenden Denkprozess unmittelbar hineinzutreten. Ich will über das Denken als ein im Hier und Jetzt vorgehendes Geschehen denken.

5.

Wieso ist es so schwierig, über das Denken direkt zu denken, sogar schwieriger, als das Auge mit dem Auge zu sehen? Wahrscheinlich wegen des Bewusstseinszustandes. Was ereignet sich in unserer Seele und unserem Gehirn, wenn wir denken? Beim Denken, typischerweise in der Mathematik, neigen wir dazu, zu einem gewissermaßen autonom laufenden Automaten zu werden. Anders gesagt: Wir neigen dazu, tief darin zu schlafen und zu träumen. Erst wenn das Resultat dieses Denkprozesses in unserem Gehirn auftaucht, wachen wir auf und sind uns dessen bewusst. Oft habe ich versucht, zu beobachten, wie ich einschlafe. Dann konnte ich nicht mehr einschlafen, weil ich wach sein musste, um das Einschlafen zu beobachten. Dies ist ein Paradox. Gleicherweise verhält es sich, wenn wir versuchen, über das Denken zu denken, dann unterbrechen wir den jetzigen Denkprozess und können nicht mehr in ihn eintauchen. Danach kann natürlich der zweite Denkprozess stattfinden, aber er ist nicht mehr der erste, der da war und nun vorbei ist! Wir nehmen einen Apfelbaum als Gleichnis. Dieser Apfelbaum lebt außerhalb von uns. Wir müssen ihn gut pflegen, rechtzeitig gießen, mit Nährstoffen versorgen, um im Herbst die reifen Äpfel zu ernten und zu genießen. In ähnlicher Weise haben wir einen Denkbaum zu Hause, besser gesagt, ‹zu Seele›. In gewissem Sinne lebt er auch außerhalb von uns, und zwar außerhalb von unserem Bewusstsein und unserer absichtlichen Kontrolle. Wenn wir nicht denken, werden wir des Denkbaumes kaum gewahr, obwohl er im Hintergrund weiterwächst. Der Denkbaum und der Apfelbaum haben vieles gemeinsam: Beide sind aus der Lebenssubstanz, dem Ätherischen, aufgebaut; beide gehen aus einem Samen, und zwar einer Idee, hervor; beide tragen nach einem Wachstumsprozess Früchte. Dennoch ist der Apfelbaum auf instinktive Weise mit der Erde und dem Kosmos verbunden und wächst und fruchtet mit den Jahreszeiten der Erde. Er ist Teil des Erdorganismus und weiß, wann und wie er wachsen soll. Dagegen ist der Denkbaum auf ein sich entwickelndes individuelles Ich angewiesen. Im Vergleich zum Apfelbaum ist er zu jung und zu unreif, um auf eine weisheitsvolle und harmonische Weise zu fruchten. Deshalb fällt die Denkfrucht, also der Gedanke, öfter, wenn nicht immer, unreif, willkürlich und unharmonisch in unser Gehirn ein. Vielmals sind wir uns über die im Kopf ständig auftauchenden Denkfrüchte gar nicht bewusst, weil unser Bewusstsein wie ein Sieb ist, dessen Löcher zu grob sind, um die kleinen Denkfrüchte aufzufangen.

Das Denken ist eine innerliche empfindungsvolle Ich-Tätigkeit.

6.

Neben dem Denkbaum steht noch ein geschwisterlicher Baum, nämlich der Kunstbaum. Es wird immer gesagt, das Kunstschaffen, welches eigentlich das Wachsen dieses Kunstbaumes ist, sei ein wacher Traum.1 In diesem Sinne sei das Denkschaffen, also das Wachsen des Denkbaumes, vom Bewusstseinszustand her trüber als das Kunstschaffen. Es ist ein sich dem Schlaf nähernder Tieftraum, weil die Elemente des Denkschaffens, entweder die Begriffe oder die Logik, weder sichtbar noch hörbar, nur denkbar, begreifbar sind.

7.

In der nordischen Mythologie sind alle Welten auf dem Weltenraum Yggdrasil aufgebaut. Dies als Sinnbild: Die lebendige Welt, der Makrokosmos ist auf dem Lebendig-Pflanzlichen, dem Ätherischen, geschaffen. Anthroposophisch formuliert, offenbart sich das Geistige durch das Ätherische, durch die ätherische Strömung und die ätherische Struktur in Natur- oder Kulturwelt, beispielsweise in einer Blume, einem Satz oder dem Rechnen in der Mathematik. Die Gesetzmäßigkeit, die hinter der Offenbarung wirkt, ist gerade die Mäßigung und Regelung des Geistigen. Dem Weltenbaum gegenüber ist der Denkbaum des Menschen ja noch ein Baby. Wann und wie er in der allgemeinen sowie individuellen Menschenentwicklung auftrat oder auftritt, ist eine interessante Frage. In der individuellen Menschenentwicklung erwirbt das Kind nach dem Zahnwechsel einen sozusagen freien Ätherleib (er ist nicht als ein im Zeitlich-Räumlichen existierender Gegenstand vorzustellen, denn er entfaltet sich durch das Zeitlich-Räumliche), wobei das Geistige noch als das Geisteskindliche innewohnt. Dieser Ätherleib ist die Grundlage des individuellen Denkbaumes. Von da an muss das Kind seinen eigenen Denkbaum in seinem Leben, nämlich seinem Mikrokosmos, aufbauen, pflegen und betreuen.

8.

Wesentlich gesehen ist der Apfelbaum doch ein Denkbaum: Sein Wachsen ist zugleich sein Denken und sein Wachstumsprozess ist zugleich sein Denkprozess. Nur mangels eines Nerven- bzw. Gehirnsystems kann dieser Prozess nicht ins Bewusstsein gespiegelt werden. In ähnlicher Weise ist der Weltenbaum auch ein Denkbaum! Verfügt er denn über ein Bewusstseinssystem wie der Mensch? Ja, die ganze Menschheit dient als ‹Gehirn› für den Kosmosorganismus.

9.

Gehen wir auf den individuellen Menschen zurück. Weshalb spielt die Denkschulung für das Kind, für den Jugendlichen in der Pädagogik eine zentrale Rolle? Geisteswissenschaftlich gesehen gibt es einen tiefsten Grund. Wenn das Kind durch sein Denken die von den Kräften belebte Gesetzmäßigkeit und die nach dieser Gesetzmäßigkeit wirkenden Kräfte im Denkbaum des Makrokosmos erkennt, in dem das Geistige gewissermaßen reif und vollkommen ist, dann wird der individuelle Denkbaum im Kind oder Jugendlichen nach dem reiferen ‹Weltendenkbaum› aufgebaut und das Geistige im Mikrokosmos nach derselben Gesetzmäßigkeit des Makrokosmos geschult. In diesem Sinne sind das Denken und das Erkennen der Gesetzmäßigkeit sowie der geistigen Kräfte eben eine Ich- und auch Geistesschulung. Dadurch wird der junge Mensch schrittweise vorbereitet, ein Schöpfer zu sein, wie sein Vorbild im Makrokosmos. Danach wird der kleine individuelle Denkbaum zu einem neuen Weltenbaum.

10.

Bis dahin ist es sinnvoll, die drei ähnlichen menschlichen Tätigkeiten, nämlich das Verstehen, das Denken und das Erkennen, zu differenzieren. Die Verstandesseele erstellt aus den Sinneserfahrungen zunächst eine innerliche Vorstellung über die Welt, extrahiert daraus die Logik, also die Kausalität hinter der Vorstellung, und bringt sie ins Bewusstsein als das Verständnis. Nun ist sie davon überzeugt, dass sie die Welt verstanden hat. Der Prozess des Verstehens ist ein Abkühlungsprozess, wobei ein intellektuelles Befriedigungs- und Sicherheitsgefühl erregt wird. Die objektive Kausalität der Welt ist der Seele übergeordnet und scheint ihr, die sich als ein sterbliches Wesen fühlt, unsterblich zu sein. Die Seele kann diese nur demütig empfangen. Das Verstandessubjekt kann das noch schlafende Ich weder wahrnehmen noch empfinden, deshalb kann es nur die leblose Gesetzmäßigkeit ohne die geistigen Kräfte begreifen. Einerseits fühlt es sich wegen des Besitzes der ewigen Weltgesetze hochmütig, andererseits angesichts derselben eisernen und stummen Gesetze minderwertig. Das Denken hingegen ist eine innerliche empfindungsvolle Ich-Tätigkeit. Das Ich saugt die Sinneserfahrungen, die sich an der Grenze zwischen Ich und Welt ergeben, in seine Seele hinein. Dann bildet es daraus gestalterische Erscheinungen im Zeitlichen und Räumlichen. Daraus extrahiert beziehungsweise abstrahiert das Ich aus der Erscheinung die die ewigen Kräfte regelnde Gesetzmäßigkeit. Es entkleidet also das Astralische und taucht in das Ätherische ein, bis es das Ewige erreicht. In dem Sinne ist das reine Denken ein bloßer innerer Wille, der sich seelisch offenbart und am wenigsten mit dem Körper zu tun hat. Das Erkennen steht am Endpunkt des Denkprozesses und am Anfangspunkt des Bewusstseinsprozesses. Es befindet sich gerade an der Berührungsgrenze zwischen Denken und Bewusstsein. Im Moment des Erkennens erkennt das Ich nicht wie im Verstehen die allgemeine Kausalität der Welt hinter der Vorstellung, sondern die hinter der Erscheinung stehende, von den Kräften verlebendigte Gesetzmäßigkeit und zugleich die nach dieser Gesetzmäßigkeit wirkenden Kräfte. Denn das denkende Ich ist hier bereits wach. Es kann sich selbst als die erste Kraft innerhalb aller Kräfte sowohl wahrnehmen als auch empfinden. Nun fühlt das Ich nicht mehr die in der egoistischen Ebene liegende intellektuelle Befriedigung, sondern eine sich immer verstärkende Schönheitsempfindung und ein Gefühl des Staunens. Es spaltet die Gefühle nicht mehr wie die Verstandesseele in Hochmut und Minderwertigkeit ab, sondern gewinnt die höchste Befriedigung und ruht sich in der Ewigkeit, also in seiner ursprünglichen Heimat, aus.

11.

Hao Bu, ‹Geschöpf oder/und Schöpfer? 1›, 61× 47 cm, Pflanzenfarben auf Papier, 2023

Die die ewigen Kräfte regelnde und zugleich von denselben belebte Gesetzmäßigkeit der Welt ist tief im Dasein verankert und so überall in die Natur sowie die Kultur eingedrungen wie der Sonnenschein in die Erde. Deshalb hat die Menschheit mannigfaltige Natur-, Kultur- und Geisteswissenschaften begründet: um die vielfältigen Facetten der Weltgesetzmäßigkeiten zu begreifen. Das Denkvermögen ist prinzipiell wie das Sehvermögen, nur auf einer höheren Ebene. Es klingt ein Gesang von Goethe zutiefst in meinem Herzen: «Wär nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt es nie erblicken. Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft, wie könnt uns Göttliches entzücken?»

12.

Wieso ist die Welt denkbar? Nun können wir versuchen, die Frage zu beantworten: weil die Welt, also der Makrokosmos, und der Mensch, also der Mikrokosmos, über das gleiche denkende Wesen verfügen. Nur offenbart sich das erste bereits, das letzte jedoch noch nicht. Das Denken und ferner das Erkennen der Vereinigung von Gesetzmäßigkeit und geistigen Kräften des Makrokosmos sind eine Nachahmung, eine Schulung des Mikrokosmos. Dadurch schult sich das Geistige im Mikrokosmos gesetzmäßig so, wie sich das Geistige im Makrokosmos gesetzmäßig verhält, sogar auf eine noch weisheitsvollere Weise. Dies führt dazu, dass sich das Geistige im Makrokosmos befreien und sich auf eine höhere Stufe entwickeln kann. Davon kündet der Anfang der Leitsätze von Rudolf Steiner: «Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltenall führen möchte.» Die die heiligen Kräfte begleitende und beherrschende Gesetzmäßigkeit zieht den Menschen an, um sie erkennen zu lassen, wie Licht und Auge. Daraus entwickelt der Mensch sein Denkvermögen und baut seinen eigenen Denkbaum auf. Dieser kleine Denkbaum keimte vielleicht auf, als Adam und Eva die Früchte des Baumes der Erkenntnis aßen. Er wächst seit der ersten nachatlantischen Kulturepoche, und zwar der alten indischen Kultur. Es ist wahrscheinlich das zentrale Motiv der ganzen nachatlantischen Kulturen, dieses Denkvermögen zu entfalten, weiter und gesund zu entwickeln. Wir heutigen Menschen im 21. Jahrhundert sind noch auf dem Weg dieses Motivs, vielleicht erst am Anfang. Die rasante Entwicklung der künstlichen Intelligenz drängt die Menschen dazu, ihr eigenes Denkvermögen erneut zu erfassen. Das Vermögen, über das Denken zu denken beziehungsweise innerhalb des Denkprozesses auf harmonische und weisheitsvolle Weise unmittelbar zu denken, unterscheidet sich von der künstlichen Intelligenz und ist noch zukünftig. Dennoch: Jede große Reise beginnt mit einem kleinen Schritt. Rudolf Steiner begründet die Laut- und Toneurythmie als die sichtbare Sprache und den sichtbaren Gesang. In der Zukunft könnte eine neue Art von Eurythmie, nämlich die Denkeurythmie, entstehen. Bestünde die Aufgabe der Laut- und Toneurythmie darin, das Wesentliche der Sprache und des Gesanges zu offenbaren und die künftige überkulturelle Sprache vorzubereiten, so wäre die Aufgabe dieser Denkeurythmie gleich, nur für das Denken, das innerlicher und abstrakter ist.


Titelbild Hao Bu, ‹Geschöpf oder/und Schöpfer? 2›, 66 × 47 cm, Pflanzenfarben auf Papier, 2023

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Footnotes

  1. Rudolf Steiner, Menschenwerden, Weltenseele und Weltengeist – Erster Teil. 8.7.1921, Dornach 2017, GA 205, S. 137.

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