Wege aus der Polarisierung

«Ich kann, – betracht’ ich dich – nur – klagen, weinen.» Diesen Satz spricht – im dritten Mysteriendrama von Rudolf Steiner – der Naturwissenschaftler Strader zu Ahriman, als er erkennt, dass dieses Wesen innerhalb der Grenzen des kalkulierenden Verstandesdenkens gefangen ist. Der Satz könnte aber auch an einen Umweltminister gerichtet sein, der entscheiden muss, Kohle aus Bolivien zu importieren, weil in Deutschland aus Klimaschutzgründen der Ausstieg aus der Kohleförderung beschlossen worden ist. Einem solchen Dilemma wohnt ein Wahnsinn inne, der die menschliche Seele spaltet.


Matthias Rang

Der Basler Philosoph Heinrich Barth hat dieses Drama des modernen Menschen schon 1957 in einem Vortrag an der ETH Zürich thematisiert.1 Er hat in einer Welt, in der – wie er sagt – «im Aberglauben an die Gegebenheiten der Technik unser aller Wohnstätte zerstört wird», gefordert, die menschliche Vernunft müsse sich selbst infrage stellen. Wenige Jahre später machte Rachel Carsons ‹Stummer Frühling› diese Problematik einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Heute ist die «Zerstörung der Wohnstätte» nicht mehr nur ein realistisches Szenario, sondern vielerorts bereits am eigenen Leib spürbar – das heißt: Seit 60 Jahren schauen wir ihr wissend zu.

Barths Anregung, die Vernunft, die dem Menschen kulturellen Reichtum und großartige technische Errungenschaften ermöglicht, aber in Bezug auf die Erhaltung unserer Lebensgrundlagen offensichtlich versagt hat, in gründlicher Reflexion zu prüfen, ist hoch aktuell. Er fasst den Begriff der menschlichen Vernunft sehr weit und stellt ihn in ein Spannungsfeld zwischen zwei Polen. Den einen Pol würden wir in anthroposophischen Kreisen eher als Verstandesdenken bezeichnen. Es ist der Bereich, für den die Figur des Ahriman steht. Einen Grund für die Krisen unserer Zeit sieht Barth im Überschießen der Vernunft nach diesem Pol hin, den er als ‹Todespol› charakterisiert. Hier wird die Vernunft auf ihre maximal mögliche Geistferne festgelegt: «Die Gebilde der Kultur und der Zivilisation, die einem ursprünglichen Schaffen der Vernunft entsprungen sind, haben wir zu vorhandenen Tatsachen erstarren lassen – zum Teil zu sehr brutalen Lebenstatsachen, von denen Unruhe, Furcht und Schrecken ausgehen.  […] In der zur festen Gegebenheit versteinerten Vernunft […] ist das ursprüngliche Leben erloschen.»

Ruth Richter

Für Barth gibt es ein eindeutiges Symptom dafür, dass diese Art der Vernunft den Bezug zur menschlichen Wirklichkeit verloren und sich selbst vergessen hat: Wenn sie im Gewoge von Zwangsläufigkeiten und fraglos gewordenen Gegebenheiten kalt und teilnahmslos über den Menschen hinwegschreitet, wie wenn sie mit ihm überhaupt nichts mehr zu tun hätte.

Den anderen Pol der Vernunft bezeichnet Barth als dem Menschen geschenkte Gabe, in der Welt und im eigenen Leben Sinn und Bedeutung zu erkennen. Er beschreibt – wie Steiner – das Denken als Wahrnehmungsorgan für die zu den Sinneserfahrungen gehörigen Begriffe und Zusammenhänge, für den geistigen Anteil der Welt. Es findet sich auch bei Barth der Gedanke, dass ein lebendiges Denken in die Teilnahme an der Gestaltung der Welt münden kann: Ein Moment schöpferischen Geschehens sei in aller Betätigung der Vernunft beschlossen. Weiter charakterisiert er diesen Pol der Vernunft als ungemein beweglich. Wir können dem ‹Todespol› etwas entgegensetzen, wenn es gelingt, sich in aller Erkenntnis, auch in der Wissenschaft, nicht auf eine erreichte Position festzulegen, sondern immer offen zu sein für das Vernehmen von neuen Erfahrungen.2

Straders Erkenntnis der ahrimanischen Logik

Die ursprünglich lebendige und schöpferische Tätigkeit der Vernunft wird nach Barth zerstörerisch, wenn sie den Zusammenhang mit ihrem Ursprung verliert. Steiner hat im Zyklus ‹Grenzen der Naturerkenntnis› einen ähnlichen Vorgang als das Fortrollen des Denkens hinter den Sinnesteppich beschrieben, in dem sich gedankliche Gebilde verselbständigen – ohne Rückbezug auf die Welt, aus der sie stammen.3

Eine solche Verselbständigung kann so weit gehen, dass in ihr der Keim zu etwas Bösem entsteht. Dies kann im Zwiegespräch der Axt mit dem Baum im Märchen vom Bösen bildlich nachempfunden werden. Der Hochmut der Axt, der sich kundtut in ihrem Machtgefühl, den Baum jederzeit fällen zu können, wird durch den Baum mit dem Hinweis auf den Axtstiel beantwortet, den ein Mann aus seinem Stamm verfertigt hat. Damit wird das Aufkeimen des Bösen in den Zusammenhang des Guten gestellt.

Selbst eine berechtigte Tat kann am falschen Ort und zur falschen Zeit eine böse werden. Die Verführung Adams und Evas, vom Baum der Erkenntnis zu essen, ist dann nicht darin zu sehen, dass die Frucht dieses Baumes dem Menschen nicht bestimmt war, sondern dass sie ihm noch nicht bestimmt war. Das Richtige am falschen Ort und zur falschen Zeit, so erlebt im dritten Mysteriendrama von Rudolf Steiner auch Strader Ahrimans Logik für die Erdenwelt. So spricht er, in Ahrimans Reich stehend, aus:

«Du musst so denken, ich vermag nicht anders
Als wahr zu finden, was Du eben sprachst;
Doch Wahrheit ist es nur an diesem Ort;
Und Irrtum wird es für die Erdenwelt,
Bezeugt es dort sich, wie es hier erscheint.»
4

Was Strader in diesem Moment gelingt, ist kein Geringes: Er steht in Ahrimans Geistesreich und doch, das ist vielleicht seine Stärke und Schwäche zugleich, bleibt er Erdenmensch, er behält ein Bewusstsein der Erdenwelt. Er kann in diesem Augenblick erkennen, dass Ahrimans Verstandeslogik in seinem Reich stimmt, jedoch auf der Erde die Menschen notwendigerweise verführen müsste. Strader empfindet die ahrimanische Versuchung, er ist anfällig für sie, doch gerade dadurch ist er auch geeignet, sie zu erkennen und zu enthüllen.

Das Erkenntniswirken Ahrimans in seinem eigenen Reich

Strader erkennt, dass Ahrimans Logik nicht auf der Erde wirken darf – und doch kann Ahriman auch für Erdenmenschen eine wichtige Rolle in ihrer Erkenntnis spielen, wenn sie luziferischen Versuchungen erliegen: So wird noch im gleichen Bild, nur wenige Zeilen später, Johannes Thomasius von Maria ins Reich Ahrimans geführt. Thomasius erlebt dort, wie «Schrecken sprüht von allen Seiten», doch Maria weiß um die Chance, dass in diesem Reich die Selbsttäuschung von Thomasius überwunden werden kann. Ahriman spricht an Thomasius gewandt: «Ich kann Dir Wahrheit geben, doch in Schmerzen, / Die ich seit manchen Tausend Jahren leide, […].» Und Maria bestätigt dies, indem sie ebenfalls an Thomasius gewandt sagt:

«Und in die ewig leeren Eisgefilde
Darf ich den Freund geleiten, wo sich ihm
Das Licht entringt, das Geister schaffen müssen,
Wenn Finsternisse Lebenskräfte lähmen.»
5

Die Finsternis der Selbsttäuschung lähmt die Lebenskräfte von Thomasius, und ausgerechnet in Ahrimans finstrem Reich kann er das Licht erringen, das ihm hilft, sie zu überwinden. In seinem Reich schafft auch Ahriman, wider Willen, das Rechte zur rechten Zeit und am rechten Ort. Doch dies ist erst möglich, wenn die Menschenseelen, wie Johannes Thomasius, Ahriman vollbewusst erkennen können.

Der Weg aus Ahrimans Gefangenschaft

Die wenigsten können dies für sich in Anspruch nehmen, doch bleibt zu hoffen, dass immer mehr Menschen Ahriman halb bewusst erkennen, so wie es Strader vermag.6 Wie er scheinen wir moderne Menschen in unserer geistigen Konstitution für die ahrimanischen Versuchungen besonders anfällig zu sein. Die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung macht dies überdeutlich. Insofern kann Strader als Repräsentant des heutigen Menschen gesehen werden, als ‹homo technicus›8 Vor dem voll bewussten Erkennen eines geistigen Sachverhalts muss ein zunächst fühlendes Erleben stattfinden. Hier kann die Betätigung des schöpferischen Vernunftpoles helfen, der nach Barth Bedeutung wahrzunehmen vermag: Ein lauschendes Sichöffnen, ein Aufmerksamsein auf den Sinn unserer individuellen Existenz, der wie wir im Kosmos verwurzelt ist, aber uns nur in unserem Inneren erscheinen kann.

Strader kann aber noch einen zweiten Schritt leisten, er kann Ahriman nicht nur denkend, sondern auch fühlend begegnen: «In Deinen rauen Worten klinget Schmerz / Aus Dir; und Schmerz sind sie in mir auch selber.» – Der lange Monolog Straders ist immer wieder durch ganze Zeilen von Gedankenstrichen gegliedert. Diese mögen anzeigen, dass zwischen den dadurch voneinander unterschiedenen Sätzen innere, geistige Prozesse stattfinden. Der zitierte Satz steht ganz allein: Er wird eingeleitet durch eine Zeile aus Gedankenstrichen und ebenso ausgeleitet. Und nach dieser letzten Zeile aus Gedankenstrichen kommt dann die Anwandlung, in der Strader nicht nur den Schmerz Ahrimans und dessen Widerklang in der eigenen Seele hört, sondern auch Mitleid mit Ahriman entwickelt: «Ich kann, – betracht’ ich Dich – nur – klagen, weinen.» In diesem Mitleid befreit sich Strader auch in seinem Fühlen und entwickelt eine Seelenwärme, die in weiterer Zukunft nicht nur Strader selbst, sondern auch Ahriman erlösen helfen kann.

Die Rolle der Gemeinschaft

Straders Fähigkeiten und Aufgaben als Denker werden durch alle vier Mysteriendramen geschildert, doch welche innere Instanz erlaubt es ihm, diese Seelenwärme in der Übermacht der Kälte Ahrimans und in dessen Reich zu finden? Unsere These ist, dass dies die Seele Theodoras in Strader selbst ist. Durch Theodora findet Strader den Weg in die Geistesreiche und sie geleitet ihn innerlich auf diesem Weg, wie an verschiedenen Stellen in den Dramen sichtbar wird. Damit taucht die Bedeutung der Gemeinschaft für den Geistesweg auf. – Und doch musste Theodora die Gemeinschaft auf der Erde mit ihrem frühen Tod verlassen. «So muss ich denn allein mich weitertasten», so resümiert Strader im Gespräch mit den Baldes seine neue Lebenssituation.9 Im Folgenden wird aber deutlich, dass Theodora Strader aus der Geisteswelt weiterhin führt. Im zehnten Bild, nach Straders Erlebnissen im Reiche Ahrimans, erscheint Theodoras Geist als Beistand Straders: «Ich habe Dir das Licht erringen dürfen / Weil Deine Kraft zu meinem Lichte strebte / Als Deine Zeit erfüllt sich zeigen wollte.» Und Strader antwortet ihr: «So wird Dein Licht, Du Geistesbote, strahlen / Auf alle Worte, die an diesem Orte / Sich aus der Seele mir entringen werden.»

Der weitere Weg, den Strader nun geht, ist von Einsamkeit gekennzeichnet, und so kann man sich fragen, ob durch die enge Verbindung von Strader und Theodora ihr Schwellenübertritt auch seine Zeit auf der Erde begrenzt – folgt er ihr nach? Insofern Theodora Strader als Geisteswesen führt, kann man sie auch als innere Instanz, als Seeleninstanz Straders selbst auffassen – ähnlich, wie in Märchen mehrere Personen als innere Instanzen eines Dramas in der Seele eines Protagonisten gedeutet werden können. Und Strader selbst können wir, wie angedeutet, als Bild für unsere eigene Lebenssituation in der technisierten Welt sehen.

Handeln als Erkenntnisschritt

Strader konnte seine Befreiung im Denken und Fühlen leisten, ein dritter Befreiungsschritt im Willensbereich gelingt ihm jedoch, so scheint es, noch nicht. Was er seiner Zeit an praktischen Errungenschaften bringen will, kommt noch nicht zustande, obgleich im vierten Drama geschildert wird, wie andere Menschen sich mit diesem dritten Schritt zu verbinden und ihn zu fördern versuchen. Auch in dieser Hinsicht gibt Straders Bild unsere Situation wieder – seit 60 Jahren wissen wir, dass eine andere Richtung einzuschlagen ist, seit 30 Jahren bekennen sich Staatengemeinschaften zu Klima- und Biodiversitätsabkommen, aber die Umsetzung in Taten scheitert fortgesetzt.

Das intellektuelle Erkennen ist ein erster Schritt, der bis zu einem gewissen Grad unser Denken aus den unerkannten und unbewussten Denkmustern löst, die sich aus den unhinterfragten Gegebenheiten unserer Errungenschaften gebildet haben und deren sich die ahrimanischen Wesen bedienen. Aber es genügt nicht, um in die existenzielle Situation einzugreifen.

Bei Barth umfasst die Vernunft die ganze Spanne des Menschseins vom brillanten Intellekt bis zum demütigen Lauschen auf die Gnade inneren Erkennens. Noch weiter fasst er den Erkenntnisbegriff. Er beschränkt Erkenntnis nicht auf etwas, das in unseren Köpfen stattfindet. Er stellt den intellektuellen Erkenntnisbegriff sozusagen auf den Kopf, indem er sagt: Was mir bei jeder Entscheidung als das Vorzuziehende erscheint in dem Sinne, dass ich in meiner aktuellen Lebenslage tatsächlich danach handle, das ist Erkenntnis. Wir ziehen oft im Handeln nicht das vor, was wir im Denken als richtig erkannt haben. Aber das, was wir tatsächlich tun oder getan haben, hat für unser Leben und die Welt zukünftige Bedeutung – unabhängig davon, wie bewusst uns unsere Motivation dazu ist. Wie lebensnah diese Auffassung ist, zeigt sich zum Beispiel deutlich, wenn jemand erkannt hat, dass es gut wäre, Gewicht zu verlieren – der Erfolg des Vorhabens hängt ganz von dem ab, was tatsächlich getan wird.

Erkennen ist für Barth nicht nur, was in unser Bewusstsein tritt, sondern auch das Geschehen in der Gegenwart, das Lebensbedeutung hat und unsere Existenz von Augenblick zu Augenblick verwandelt – also viel mehr als eine Einsicht, die uns wie intellektuelle Belehrung zuteilwird.

Schritte aus der Polarisierung

Die Einsamkeit in Straders Geistsuche ist ein Bild für unsere heutige Situation. Wir sind in dieser Suche auf andere Menschen angewiesen. Das Glück, sich gemeinschaftlich verbinden zu können, ist aber oftmals zeitlich begrenzt. Ebenso wird es begrenzt durch das Verharren in lieb gewordenen Denkmustern, die es verhindern, Andersdenkende zu verstehen. Die von Barth vorgeschlagene Bereitschaft zur Beweglichkeit, im Denken jederzeit die eigene Position infrage zu stellen, kann auch bei verhärteten Fronten eine heilsame Dynamik in Gang bringen.

Die Figur Straders zeigt uns, wie die enge Verbundenheit mit dem naturwissenschaftlich-technischen Denken unserer Zeit verwandelt werden kann: im inneren Erkenntnislicht und im Durchschauen der Gedankenlogik Ahrimans und ihrer Grenzen, im Fühlen ihrer Kälte und in der Bildung innerer Wärme bis hin zum Mitleid. Mit diesen Schritten führt der Weg zur teilnehmenden Verbindung mit der lebendigen Quelle der Existenz, von der uns unsere Vernunft Kunde gibt, und zugleich zu einer Befreiung aus der ahrimanischen Bedrohung und Überformung der Gegenwart.


Bilder Details der Skulptur Menscheitsrepresentant von Rudolf Steiner, Foto: Xue Li

Print Friendly, PDF & Email

Footnotes

  1. Heinrich Barth, Die Krisis der Vernunft. Reformatio 6, 1957, S. 614–627.
  2. Ebd., S. 8 f.
  3. GA 322, 2. Vortrag.
  4. Rudolf Steiner, Der Hüter der Schwelle, achtes Bild, in Vier Mysteriendramen, GA 14.
  5. Ebd.
  6. Auf das halb bewusste Erkennen Straders und das voll bewusste von Maria und Thomasius weist Rudolf Steiner in den Regieangaben direkt hin.
  7. , der beginnt, sich selbst in seiner geistigen Konstitution und damit auch das Ahrimanische zu erkennen.

    So wie in der Sinneswelt das Begreifen dem Anschauen folgt, geht in der übersinnlichen Welt das Begreifen dem Anschauen voraus.7 Rudolf Steiner, GA 138, Vortrag vom 31.8.1912.

  8. Rudolf Steiner, Der Hüter der Schwelle, Anfang des fünften Bild, in Vier Mysteriendramen, GA 14.

Letzte Kommentare