Wahrnehmen heißt sich bewegen

Das Buch des Neurologen Friedrich Edelhäuser (Universität Witten/Herdecke) ist in die Welt gestellt mit Empfehlungen von Thomas Fuchs (Universität Heidelberg) und Christian Rittelmeyer (Universität Göttingen).


Ein neues Konzept zur Lehre des Wahrnehmens liegt damit vor, anschließend an Rudolf Steiners Sinneslehre und Dreigliederung des menschlichen Leibes. Aber ebenso sehr schließt es an moderne Sinnes- und Bewegungsphysiologie, an Viktor von Weizsäckers ‹Gestaltkreis›, philosophische Phänomenologie und neue Resonanzkonzepte (Embodied Cognition/Körperfeedback) an.

Im ‹Goetheanum› erschien im Mai der Aufsatz ‹Der Teich von Narziss› über künstliche Intelligenz von David Bentley Hart.1 Man kann es drehen, wie man will, zuletzt aber ‹denken› die bewusstlosen Maschinen nicht. Ähnlich kann man sagen, die allerorts anwesenden Sensoren, die den Algorithmen die Daten liefern, sind nur metaphorisch Augen, Ohren und Tastorgane der Computerwelt. Sie nehmen aber nicht wahr. Das tun nur beseelte Lebewesen. Friedrich Edelhäuser geht in seinem Buch der Frage nach, welche Rolle die Bewegung für die Wahrnehmung spielt, und umgekehrt, wie wir durch Wahrnehmung bewegen können. Eines ist, dass wir funktionierende Sinne haben. Ein anderes ist es aber, etwas durch die Sinne wahrzunehmen oder zu erfassen. Dazu braucht es eine aktive Zuwendung, eine Aufmerksamkeit oder Intentionalität, und das heißt Bewegung, wenn auch ‹Mikrobewegungen›. Für das zielorientierte und stabilisierte Sehen eines Objektes ist ein ganzer Komplex von Muskelbewegungen notwendig, von der Körperhaltung bis zum Verstellen der Linse und Iris. So ist es auch beim Hören, wo wir den Ton, die Klanggestalten, zuletzt im Innenohr verstärken oder herausplastizieren. Auf dem Weg zum Innenohr wird der Ton schon von der Muskulatur ‹ergriffen› und weitergeleitet nach innen. Geruch stößt ferner unmittelbar auf sympathische oder widerstrebende Bewegungsregungen. Ganz fein durch die Atmung und Körperbewegung wird ein Geruch im beweglichen ‹Schnüffeln› erfasst. Wie beim Wärmeempfinden müssen wir dabei ständig dem Abklingen der Qualität durch das Auffrischen der Erfahrung entgegenwirken. Auch beim Schmecken müssen wir den Stoff an die Geschmacksnerven heranbringen. Wie sich vor allem an den Leibessinnen erhellt, ermöglicht willenshafte Bewegung die bewusste Wahrnehmung. Edelhäuser schließt, dass der Zusammenhang von Sensorik und Motorik auf ein Gesamtbild des Menschen zurückzuführen sei.

Hier baut er auf Viktor von Weizsäckers Konzept des ‹Gestaltkreises› auf. Bewegung und Wahrnehmung sind die beiden Pole, die einander in der Tätigkeit fortwährend wechselseitig (‹kreisartig›) voraussetzen. Durch intendiertes Bewegen fokussiert die sonst verströmende Sinneserfahrung. Ein Bewegungsimpuls erhält durch die Wahrnehmung Ziel, Richtung und Maß. Man spricht von ‹Gestalt›, weil die Bewegung sich am Menschen vollzieht, diese seine Gestalt voraussetzt und die Bewegung sich in Gestaltung rundet. Edelhäuser behandelt viele schöne experimentelle und therapeutische Beispiele. Er leistet aber auch eine Gesamtschau der Interaktion von Wahrnehmung und Bewegen, die uns die Dreigliederung des Menschen vor Augen führt. Vor allem wird eine wissenschaftliche Beschreibung des Subjekts der Wahrnehmung, des Ichs, ermöglicht, welches das im Gestaltkreis Wirkende ist. Es ist deswegen nicht nur im Körper, sondern auch in der Welt. Und der Körper ist Teil der Welt, aber auch jener Teil, von dem aus das Ich die Welt erfährt. Der Gestaltkreis erweist sich als ein fruchtbares Konzept.

Edelhäuser vertieft weiter. Was heißt denn dieses Ergreifen des Leibes (Embodiment) durch das Ich? Mit modernen Mitteln versteht er Rudolf Steiners ‹Von Seelenrätseln› neu. Wo keine Stoffwechsel- oder rhythmischen Prozesse (wie Oszillationen) sind, ist die eigentliche Nerventätigkeit. Das ergibt den methodischen Griff, die in Stoffwechsel und Rhythmik gleichsam ausgesparte Physiologie zu studieren, und zu erforschen, wie das Bewusstsein im Vorstellen (Wahrnehmen) nachweislich zu Substanzabbau und Zerstören der tieferen, langwelligeren Organrhythmen im Leibe führt. Der Antagonismus von Leben und Bewusstsein ist damit wissenschaftliche Tatsache. Sind beide einander dennoch koordiniert, so stellt sich für Edelhäuser die Frage, wie in unbewussten Stoffwechselorganen der Gestaltkreis vorstrukturiert ist. Da können wir doch wohl nicht anders als «eine durch inneres Bild-, Vorstellungs- oder Wahrnehmungsbewusstsein strukturierte Gestaltung der Stoffwechselprozesse anzunehmen» (S. 146). Das Buch schließt mit ethischen und therapeutischen Ausblicken.

Die künstliche Intelligenz kann uns verführen, uns selber funktionell nur als unvollkommene Computer anzusehen (‹beaten by AI›). Wir würden uns nur noch auf gespeicherte Daten verlassen – und dies ist schon pandemisch – und verlernten das eigene Wahrnehmen. Das Erste hindert die wichtigste Entdeckung, die man an sich haben kann: das Vermögen der Inspiration. Das Zweite verhindert das klare Erfassen des Unterschieds von Vorstellung und Imagination. Goethes Farbenlehre (1810) war nicht so sehr, wie Newtons ‹Opticks› (1704), ein neues Modell des Lichts (Vorstellung), sondern eine Schulung des Farbensehens. Am Ende der Schulung wird, nach Goethe, «gewiss eine besondere geheimnisvolle Anschauung eintreten» (Farbenlehre I, § 919), d. h. die Imagination der Farben. Das ‹aurische› Sehen «tritt fast sogleich auf, wenn der Mensch wirklich die Eindrücke seiner Sinne ganz und gar so in seiner Gewalt hat, dass sie nur mehr seiner Aufmerksamkeit oder Unaufmerksamkeit unterworfen sind»2. Dieses fordert also eine Kultur des ich-bewussten Wahrnehmens, wofür Edelhäusers Buch eine wissenschaftliche Basis bietet.


Buch Friedrich Edelhäuser, Wahrnehmen und Bewegen. Grundlage einer allgemeinen Bewegungslehre. Mit Geleitworten von Thomas Fuchs und Christian Rittelmeyer. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2022.

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Footnotes

  1. Das Goetheanum Nr. 20, 2023.
  2. Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? GA 10, Dornach 1993, S. 135.

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