Vielen Dank, Mart Stam!

Wie ein Stuhl Zukunft trägt

Eine außergewöhnliche Persönlichkeit machte dem Goetheanum 1986 nach seinem Tod ein großes, außergewöhnliches Geschenk: Er übertrug der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft die Rechte am Thonet-Freischwinger S33, dem weltberühmten Stuhl, der immer noch von Thonet, einem alten deutschen Familienunternehmen, produziert wird.


Mart Stam, Bildquelle: Thonet GmbH

Für den Stuhl flossen nur in 2022 schon etwa 120 000 CHF Patentgelder an das Goetheanum. Es war der niederländische Architekt Mart Stam, der diese Geste vollzog, ohne dass bis heute jemand genau weiß, warum und welche Verbindungen er zur Anthroposophie und zum Goetheanum hatte. Im Jahr 2026 wird es 100 Jahre her sein, dass Stam im Alter von 27 Jahren den Freischwinger für seine schwangere Frau Leni entwarf. Der neue Stuhl sollte ‹frei schwingen› und damit Leni Stam in ihrer Schwangerschaft unterstützen, die Zukunft zu tragen. Gleichzeitig ist dieser Entwurf typisch für das ‹Neue Bauen› als Versuch, die Moderne und den Konstruktivismus zu definieren. Es hatte aber auch soziale und ökologische Anliegen. Der Stuhl wurde ikonisch und weltberühmt, während Mart Stam als Architekt selbst weniger bekannt wurde und nicht als besondere Persönlichkeit in die Geschichte einging. Mit einer neuen Initiative wollen wir am Goetheanum versuchen, dieses Geschenk im Vorfeld der Goetheanum-Weltkonferenz zu würdigen und zu verdanken, aber auch dieser rätselhaften Verbindung zu Mart Stam mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Die Initiative könnte zu einer Art Porträt der anthroposophischen Weltbewegung werden.

Mart Stam wurde am Samstag, den 5. August 1899, in Purmerend in den Niederlanden geboren und starb nach einem bewegten Leben, davon 20 Jahre isoliert in der Schweiz, am Freitag, den 21. Februar 1986 in Goldach. Er verkehrte in Kreisen von Persönlichkeiten wie den Architekten Le Corbusier, Mies van der Rohe und Gropius und beeinflusste sie und ihr Werk ebenso wie umgekehrt. Im Herbst 1922 zogen Mart (damals 24) und Leni nach Zürich, wo Stam bei Architekt Werner Moser in die Lehre ging, bevor er nach Thun weiterreiste, um seine Ausbildung bei Arnold Itten fortzusetzen. Zusammen mit Freunden und Kollegen gründete er die Avantgarde-Architekturzeitschrift ‹ABC – Beiträge zum Bauen›, die fünf Jahre lang bestand und den schweizerischen, aber auch den internationalen Status quo in der Architektur infrage stellte. Stam unterrichtete unter anderem am Bauhaus, arbeitete für die Sowjetunion und half beim Wiederaufbau der Niederlande nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinem schon damals erkennbaren Sinn für grünes, soziales und minimalistisches Bauen. Sein Ruhestand führte ihn und seine damalige Partnerin zurück in die Schweiz, wo sie zunächst anonym und isoliert in einem selbst entworfenen Haus am Lago Maggiore lebten, bevor sie an viele weitere Wohnorte innerhalb der Schweiz weiterzogen. (Vermutet wird, dass er und seine Frau an einer Art Verfolgungswahn litten.) Nach seinem Tod 1986 kam völlig unerwartet und ohne weitere Erklärung das Erbe in Form des Patents und des Urheberrechts des Freischwingers an die Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft in Dornach. Ein stilles und geheimnisvolles Geschenk.

Wie ein Stuhl die Zukunft trägt

In einer Zusammenarbeit für die Goetheanum-Weltkonferenz wird diese stille und geheimnisvolle Schenkung neue Aufmerksamkeit erhalten und vielleicht dazu beitragen, Stams Motive und Verbindungen zur Anthroposophie und zum Goetheanum sichtbar zu machen. In dem Versuch, die Weltbewegung in einem Objekt sichtbar zu machen, entstand die Idee, eine Sonderedition des berühmten Freischwingers S33 zu produzieren. In Zusammenarbeit mit der Künstlerin Claudy Jongstra aus den Niederlanden, den Gärtnern Rob und Katrin Bürklin von der Goetheanum-Gärtnerei, Konstanze Abouleish von Sekem, Thonet als Hersteller, der Iona-Stichting aus Amsterdam als Mitinitiatorin, Demeter und dem Goetheanum werden wir 100 Freischwinger-Stühle herstellen. Ein Teil wird mit gelb gefärbter Demeter-Wolle aus den Niederlanden gepolstert (das Leder für Sitz und Rücken wird durch die Wolle ersetzt) und ein Teil der Produktion mit Demeter-Baumwolle aus Sekem, Ägypten, die mit der Färberwaid-Pflanze aus den Gärten des Goetheanum blau gefärbt wird. Das Stahlgestell wird in Deutschland in der Thonet-Werkstatt hergestellt, die Sekem-Baumwolle wird während der Weltkonferenz im September am Goetheanum während einer Arbeitsgruppe blau gefärbt und dann, ebenso wie die gelbe Wolle, in der Thonet-Werkstatt auf die Stühle montiert. Dies wird dann eines der ersten Produkte sein, bei dem biologisch-dynamische Textilien und biologisch-dynamische Pflanzenfarben in einem solchen Produktionsprozess eingesetzt werden. Demeter arbeitet derzeit an einer offiziellen Zertifizierung von Pflanzenfarben und Textilien unter anderem für die Textilindustrie. In diesem Versuch, die anthroposophische Bewegung in ihrer praktischen Dimension zu porträtieren, verweben wir nicht nur biodynamische Textilien aus den Niederlanden, Ägypten und Pflanzenfarben aus Dornach zu einem Produkt, sondern bringen Vergangenheit und Zukunft in einem Objekt zusammen. Es trägt als Erzählung den Respekt vor Erde und Mensch mit sich, um zu einem Gebrauchsgegenstand zu werden. Unser Anliegen ist, diese Stühle auf Reisen zu schicken, um diese Geschichte weiterzuerzählen und damit das Potenzial der Arbeit aus der Anthroposophie sichtbar zu machen. Ja, sogar bis hin zur Sitzposition. Aber die 100 Stühle sollten vor allem auch bei jedem, der möchte, ein neues Zuhause finden und die Geschichte mittragen. Der Verkauf der Stühle wird während der Weltkonferenz beginnen, Interessierte können aber jetzt bereits eine Vorbestellung machen.

Faltprospekt von Thonet aus dem Jahr 1931. Bildquelle: Thonet GmbH

Mart Stam und das Goetheanum

Als Mart und Leni Stam im Herbst 1922 gerade in der Schweiz angekommen waren, ging keine zwei Monate später in der Nacht vom 31. Dezember auf den 1. Januar der erste Goetheanumbau in Flammen auf. Da diese Nachricht keinem Schweizer entgangen sein dürfte und das Ereignis am 1. Januar 1923 bis in die ‹New York Times› hinein berichtet wurde, ist vorstellbar, dass Stam schon damals auf das Goetheanum und damit vielleicht auf die Anthroposophie aufmerksam wurde. Vielleicht war dies sogar der Auslöser für das spätere Interesse und das Erbe? Nach einigen Recherchen stellt sich heraus, dass Mart Stam selbst nicht Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft war, aber gemäß einer mündlichen Überlieferung seiner Tochter Ariane Stam Vorträge von Rudolf Steiner besucht hat und davon sehr berührt war. Dies legt nahe, dass Stam Steiner bei seinem ersten Aufenthalt in der Schweiz zwischen 1923 und 1925 kennengelernt haben muss. Ariane Stam hingegen, seine Tochter, war Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft (in den Niederlanden) und lüftet damit ein Stück des Geheimnisses um die Verbindung zwischen Stam, der Anthroposophie und dem Goetheanum. Gemäß einer Doktorarbeit über Stams Leben an der Universität von Amsterdam aus dem Jahr 2016 soll er 1982 in seinem Testament die Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft als Haupterbin des Freischwingers benannt haben. Ein anderer Manuskriptentwurf hätte jedoch eine andere Stiftung in Zürich zur Erbin machen wollen. In einem Gerichtsverfahren wurde der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft schließlich das Erbrecht zugesprochen. Es muss für einen Architekten mit seinem jungen, experimentierfreudigen Innovationsdrang enorm beeindruckend gewesen sein, auf der Suche nach neuem Bauen und neuen Materialien vor dem Zweiten Goetheanum gestanden zu haben. Dass sein Freischwinger fast 100 Jahre später in eben diesem Goetheanum in Verbindung mit einem ökologischen Entwicklungsweg der biologisch-dynamischen Landwirtschaft und der anthroposophischen Weltbewegung wieder präsentiert werden würde, hätte er sicher nicht geahnt. So ist es vielleicht möglich, Stams Vermächtnis noch einmal zu verdanken und zu würdigen. Darüber hinaus zeichnen wir damit eines der möglichen Porträts, die der anthroposophischen Weltbewegung in ihren praktischen Implikationen und Dimensionen ein Gesicht geben. Wir hoffen, die Geschichte der biodynamischen, erdverbundenen Produktion von Textilien und Pflanzenfarben ein wenig mehr in die Welt zu tragen.


Vorverkauf Interesse anmelden: freischwinger@goetheanum.ch

Der Preis für diese Sonderedition wird pro Stuhl zwischen 1500 und 2000 Euro liegen (Normalpreis Standard Thonet S33 ab 1 344.70 Euro).

Titelbild S33 oder ‹Freischwinger› von Thonet; Bildquelle: Thonet GmbH

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