Gesicht der Erde

Reisetagebuch aus der Arava- und der Negev-Wüste im Frühjahr 2023.


Ich wandere. Vor meinem inneren Blick sehe ich mich seit Jahren durch die Wüste ziehen. Durch Sandberge, eine Gestalt, eingehüllt in Tücher, immer nur weiterziehend. Woher dieses Empfinden kommt, weiß ich nicht, aber in diesem März konnte ich erneut zwei Mal in die Arava- und die Negev-Wüste im Süden Israels fahren. Wenn ich den inneren Bildern nachgehe, kehrt eines immer wieder: das Feuer, das die Erde durchdringt. Erneut steigt in mir das Gefühl der Sehnsucht nach diesem geklärten Raum auf. Es ist das landschaftliche Bild der Katharsis, des Abstreifens alles Überflüssigen, alles Überfließenden; hier wird man als Mensch reduziert. Es zählt das Leben wenig, wenn es nicht innerlich, geistig ist. Kein Wunder, dass so viele in der Wüste ‹Gott› oder ihre Dämonen trafen. Die Wüste wird als ‹lebensfeindlicher› Ort bezeichnet – und es stimmt, auch während dieser Reisetage endeten Leben unweit von mir. Man darf sich bei aller Sandromantik nicht über die existenzielle Daseinsweise in der Wüste täuschen. Eine Wüste ist wunderschön und grausam für die Menschen. Sie bringt nicht viel Leben entgegen, sondern stellt es auf die Probe. Mit ihrer Härte schiebt sie mich tief in mich selbst zurück, in meinen Leib und seine Bedürfnisse. Kann ich den Leib nicht durchdringen, wird er mir zur Last, besonders hier. Die scheinbare Leere der Landschaft spiegelt nicht eine Vielzahl von Seelenzuckungen, sondern sie lässt mich zurücktreten, existenziell werden von innen.

Das Betasten des Leibes

Zu Hause umfängt mich das saftige Grün der Wiesen von sich aus, es reckt mir seine Gestalt entgegen; es ist sehr liebevoll, fürsorglich und aufdringlich zugleich. Die Wüste hingegen schweigt mich an. Sie wird mir nichts entgegenstrecken, nichts anbieten, mich nicht ermuntern. Trotzdem saugt die scheinbare Leere mein Inneres wie ein Vakuum an. Atmen ist wieder möglich in dieser Weite. Die Stein- und Felsenwüste liegt vor mir wie eine goldbraune Decke, als würde sie ihr Leben darunter hüten wollen, es nicht zu sehr emporkommen und sich zeigen lassen. Sie kommt mir vor wie ein höheres Wesen, das mit geschlossenen Augen vor der Welt sitzt – hellwach und verschwiegen. Ihr inneres Leben ist fantastisch, sie hat kein Bedürfnis, sich mir zu nähern. Eine Ruhe, gänzlich in sich. Sobald ich dort bin, beginnt in mir sich eine Art Zeitlosigkeit auszubreiten, das Verlangen nach allem anderen ist vergessen. Meine Seele fühlt sich eins mit dieser weit klingenden Stille, mit der farbreichen Ödnis, die vor mir liegt. Vielleicht sehne ich mich deshalb nach diesem Stück Erde. Vorsichtig erkunde ich die Steine; ich möchte jeden einzelnen berühren.

Das karge, stumme Sein dieser Gegend treibt mich ihr unentwegt zu. Ich frage mich, woher es kommt, dass ich die Wüste so gern anfassen möchte, warum die Fingerspitzen von selbst die rauen Felskanten suchen. Warum ich die Schuhe ausziehen möchte, jetzt im Frühling, da der Boden noch nicht von 50 Grad Celsius glüht. Barfußlaufen ist nicht klug, denke ich, ja, es gibt hier Schlangen und Skorpione, auch jede Menge Dornen. Trotzdem wollen die Füße hinaus und selbst auf den weichen Stellen des großen Grabens stehen, wo gelegentlich Sturzbäche die Ruhe zerreißen. Ich klettere über einige Felsen, die sich staubig, hart und geschliffen anfühlen, und mein Leib ist zufrieden.

Abends schaue ich in das Wadi und sehe die Sonne hinter den Bergen vorbeiziehen und die Farben des Lichtes, die an diesem Ort um so vieles zärtlicher den Himmel und den Boden besprengen. Dann wird mir klar, dass ich auf die Haut der Erde schaue, auf einen entblößten Leib, der sich vor meinem Blick offenbart.

Arava Wüste 2017. Fotos: Franka Henn

Die Wüste ist der Innenraum der Welt

Die Erde nackt zu sehen: Da liegt sie ohne ihre grünen und blauen Hüllen, schutzlos der Sonne und den Elementen ergeben. Und doch wird gerade hier klar, wie unfassbar mächtig diese Erde ist. Wie wenig sie des Schutzes bedarf. Wie sehr ihre Kraft aus ihr selbst kommt und das Hüllen, Sprießen und Grünen für uns gemacht sind, die nicht mit derselben imperialen Macht aufwarten können. Die Kraft der Erde ist so wild, dass einem schwindlig werden kann, wenn man sie im Erdboden spürt. In der Arava-Wüste gleicht seine Farbe einem kräftigen Goldgrund, der aufleuchtet.

Ich finde Steine, in denen sich urzeitliche Schneckenhäuser abgedrückt haben und versteinerte Muscheln. Diese Stein gewordenen Tiere gleichen den Erinnerungen, die ich mit mir trage. Ich nähere mich den Abbildern der Erinnerungen der Erde, den Zeugnissen dessen, was einmal in der Zeit war und im Raum zum Bild geworden ist. Ich halte in einer Hand ein paar Hundert Millionen Jahre dieses Erdenleibes – und die Erde hält mich in sich. Sie hält diesen Körper, die 34 Jahre, die sich in ihn abgedrückt und an ihm abgelagert haben.

Die Haut der Erde gibt mir ein gutes Gefühl von der Erde als Körper, unverschleiert, unverhüllt. Ein Ding, das durch das All saust. Wie ich. Wir rasen gemeinsam durch die Äonen und während ich mich noch wundere, ist es schon vorbei – bin ich schon zur Steinmuschel geworden. Die Zeit der Gesteine um mich ist nichts als ein Wimpernschlag im Kosmos.

Mein Leib wird hier Rätselland; ich kann es um- und durchschreiten. Der Leib ist eine fremde Heimat wie die Erde, auf der ich jetzt, Haut auf Haut, wandle. Mein Leib, der geschlossen und endlich wie jeder Körper vor mir liegt. Je länger ich die Wüste betrachte, umso mehr wird die steinige Haut zur Totenmaske der Welt. Von ihr gehen Frieden und eine große Freiheit aus. Alles ist losgelassen. Jetzt ist die Welt nur noch da. All ihre Lebendigkeit strahlt aus ihrem Innern heraus.

Die Erde durchdringen

Ich sehe die verzehrte Erde, eine alte Erde, eine Welt, an der das Leben seine Wirkung getan hat. So wie der Geist ein Feuer ist, das den Leib Stück für Stück vernichtet, so scheint auch hier das Lebendigsein dem Geistigen der Erde gewichen. Das Feuer hat den Stein durchdrungen; es hat ihn vom ‹Leben› befreit und sich in ihm verwirklicht. Scheinbar Tödliches ist geschehen. Je mehr ich in dieses Bild eintauche, umso mehr erlebe ich das Feuer und die Erde meines Leibes innerlich. Sie werden zu einer Aufrechte. Etwas unerhört Potenzielles liegt in diesem Vernichtetwerden und Sichaufrichten. Die Wüste ist zugleich Bild des Todes und des Vorgeburtlichen. Es gibt keine Apokalypse, nur die Freiheit, diese Erde, mich selbst, ganz zu durchdringen.

Jetzt wandere ich auf dem Grund der Urmeere, wo einstmals irdische Lebewesen sich zu entwickeln begannen, und ich schaue auf das Gegenbild dieses Anfangs. Auf seine Überreste. – Und dann kommt plötzlich der Regen. Gewaltige Wassermengen strömen durch das Wadi, Straßen werden hinweggespült, Helikopter suchen nach Vermissten. Aus dem Sand wird Schlamm, aus dem Gold Graubraun und schon am nächsten Morgen blühen die ersten knorrigen Sträucher lila und gelb auf.

Dort, wo Wasser in die Wüste hereinbricht, bricht eine andere Welt herein. Eine Verbindung taucht wie aus dem Nichts auf – die Leere und die Einsamkeit werden augenblicklich gefüllt. Es ist herrlich, doch endet in diesem Moment die Ruhe, die eben noch mein Innenraum war. Die Intimität der Erde mit sich selbst, meine Intimität mit mir selbst, ist vorbei. Mit aller Macht kehrt die Verbundenheit mit den Lebenden zurück und bringt meine Aufrichte wieder ins Schlingern, zum Tanzen.

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