Veganismus als Lebenskonzept?

Leserbrief zu Ueli Hurters Artikel ‹Das Tier in uns, unter uns, über uns›, ‹Goetheanum› 24/2020 und Ueli Hurters Antwort.


Den Beitrag fand ich herausragend und teile nahezu die gesamte Argumentation. Eine These wirkte auf mich jedoch ambivalent. Beim Veganismus komme es zu einer völligen Abkehr vom Tier und es werde indirekt verdinglicht. Zitat: «Auch hier wird das Tier nicht als die Verleiblichung eines Seelischen gesehen …» Rudolf Steiner merkte im Vortrag GA 57 vom 17.12.1908 Folgendes an: «Nahrung aus dem Tierreich wirkt in ganz spezifischer Weise auf das Nervensystem und damit auf den Astralleib. Aber bei pflanzlicher Nahrung bleibt das Nervensystem unberührt durch etwas Äußeres … Dadurch aber durchströmen die Wirkungen seiner Nerven nicht fremde Produkte, sondern nur das, was in ihm selbst urständet. Wer weiß, wie viel im menschlichen Organismus vom Nervensystem abhängt, der wird verstehen, was das heißt. Wenn der Mensch sein Nervensystem selbst aufbaut, so ist es voll empfänglich für das, was der Mensch ihm zumuten soll in Bezug auf die geistige Welt. Seiner Nahrung aus der Pflanzenwelt verdankt der Mensch das, dass er hinaufblicken kann zu den großen Zusammenhängen der Dinge, die ihn erheben über die Vorurteile, die aus den engen Grenzen des persönlichen Seins entspringen. Überall, wo der Mensch frei und unbekümmert aus den großen Gesichtspunkten heraus Leben und Denken regelt, da verdankt er diesen raschen Überblick seiner Nahrungsbeziehung zur Pflanzenwelt. Da wo der Mensch durch Zorn, Antipathie und Vorurteile sich hinreißen lässt, da verdankt er das seiner Nahrung aus der Tierwelt.» Steiner plädierte nicht spezifisch fürs Vegetariertum, aber er zeigte die Wirkungsweise einer rein pflanzlichen Ernährungsweise auf. Ich frage mich jedoch, weshalb es zu einer Abkehr vom Tier kommen könnte, wenn der Veganismus zum Lebenskonzept wird? Ein Biber, eine Katze, ein Fuchs, eine Maus werden weder vom Menschen verzehrt, noch liefern sie Lebensmittel. Mit dem Blick auf die Seele dieser Wesen wird doch keine Abkehr bewirkt. Sind Tiere nur dann seelisch verleiblicht, wenn der Mensch sie isst oder ihre Produkte nutzt? Ich kann die Seele eines Tieres wahrnehmen, ohne es zu domestizieren.

Überall, wo der Mensch frei und unbekümmert aus den großen Gesichtspunkten heraus Leben und Denken regelt, da verdankt er diesen raschen Überblick seiner Nahrungsbeziehung zur Pflanzenwelt. Da wo der Mensch durch Zorn, Antipathie und Vorurteile sich hinreißen lässt, da verdankt er das seiner Nahrung aus der Tierwelt.

Rudolf Steiner

Die Massentierhaltung ist eine der schlimmsten Zeiterscheinungen unserer Zivilisation. Jedoch teile ich nicht die Ansicht, dass Menschen, die tierische Produkte meiden, fanatisch sind und Tiere verdinglichen. Ich glaube, gerade das Gegenteil ist der Fall. Das Mitleid mit dem Schmerz und Leid der Tiere rüttelt die Seele wach, sie als Brüder und Schwestern anzusehen. Ich verstehe, dass dieses Thema für einen Landwirt mit Tierhaltung existenziell ist. Aber es sollte nicht als antiseelisches Verhalten bezeichnet werden, wenn bestimmte Menschengruppen auf tierische Produkte verzichten. Es ist eher eine Verantwortung gegenüber der Schöpfung. Die Domestizierung der Tiere ist zwar Bestandteil unserer Kulturgeschichte, aber ob sie wirklich zum Wohle von Mensch und Tier beigetragen hat, bleibt dahingestellt.

Peter Rensch

Antwort des Autors

Was die Ernährung betrifft, muss selbstverständlich jeder Mensch für sich entscheiden, ob er Fleisch isst oder Vegetarier/Veganerin sein will. Dass diese Wahlfreiheit besteht, verdanken wir unter anderem auch unserer hochentwickelten Konsumgesellschaft, wo aus einem breiten Angebot globaler Herkunft individuell ausgelesen werden kann. In früheren Phasen der Entwicklung von Wirtschaft und Kultur war die Nahrung mehr an die örtlichen klimatischen Gegebenheiten gebunden. So war in allen nördlichen und alpinen Gebieten unserer Erde und zum Teil auch in den Savannengebieten auf der Südhalbkugel das Leben mit den Tieren für die dort lebenden Menschen das Gegebene. Entsprechend war ihre ganze Kultur einschließlich der Ernährung geprägt vom Tier und seinen Rhythmen und auch seinen Produkten, inklusive Fleisch. Diese Völker hatten und haben durchaus eine tiefe spirituelle Kultur.

Bild aus dem Heft ‹Goetheanum› 24/2020. Shira Nov, Tinte auf Papier, 2018

Was die Landwirtschaft betrifft, muss die Einrichtung eines biodynamischen Betriebes sich nicht nur nach individuellen Entscheiden richten, sondern auch nach landwirtschaftlich-agronomischen Kriterien. Unser Wissensstand heute ist, dass wir in den gemäßigten Zonen ohne die Wiederkäuer einen langfristigen Aufbau der Bodenfruchtbarkeit in der Regel nicht schaffen. Nur wenn in der Fruchtfolge neben den Verkaufsfrüchten (Weizen, Kartoffeln, Raps, Zuckerrüben, Soja, Karotten, …) auch Futter für die Tiere (dreijährige Klee-Gras-Luzerne-Mischungen) angebaut wird, können der Humusgehalt und die Bodenstruktur gehalten werden. Dabei geht es darum, die richtige Anzahl Tiere pro Fläche zu halten. Der sorgfältig aufbereitete Mist der Tiere aus der Stallhaltung bringt dann ein Plus an Lebens- und Gestaltkräften, die erst die langfristige Bewirtschaftung des Bodens möglich machen. Rudolf Steiner entwickelt im Landwirtschaftlichen Kurs 1924, wie dieser innerbetriebliche Substanzkreislauf über Boden – Pflanze – Tier – Mist – Boden der Träger werden kann einer Ichanlage der landwirtschaftlichen Individualität. Ohne die Tiere geht das nicht. Es sind diese keimhaften Ichkräfte, die den Boden lebendig halten. Beim biodynamischen Betrieb kommen noch die Präparate dazu, die den Hof befähigen, sich richtig in die Vertikalität zu stellen (Hornmist und Kieselpräparat) und sich in der Horizontalität zu vernetzen (Kompostpräparate). Mit den Präparaten holen wir neue geistige Kräfte in den irdischen Substanzstrom – und auch hier sind die Tiere mit uns, denn wir nehmen die Organhüllen der Tiere, zum Beispiel die Kuhhörner, für die Herstellung der Präparate. Diese Ausführungen sollen zeigen, dass der biodynamische Bauer rein aus professioneller Sorgfalt vielfältig mit den Tieren arbeitet.

Nochmals zur Nahrung: Die Demeter-Karotte aus dem biodynamischen Betrieb ist durchzogen von den Kräften der Ichanlage. Das ist ihre innere Qualität. Diese beruht auf der Integration der Tiere in den Betrieb. Im Ernährungsvorgang dekomponieren wir das Nahrungsmittel und die freiwerdenden Kräfte können dann von uns Menschen ergriffen werden. Beim kleinen Kind werden sie für den Aufbau des Leibes gebraucht, beim erwachsenen Menschen für die individuelle Betätigung von Denken, Fühlen und Wollen. Jedes Produkt, das aus dem vielfältigen biodynamischen Betrieb kommt, kann diese Zukunftskräfte an uns Menschen vermitteln. Meiner Meinung nach brauchen wir heute eine erdenwillige Spiritualität. Der Geist im Sinne der Anthroposophie ist nicht erdenbürtig, aber er will erdentätig sein. Es ist das Ideal der Demeter-Produkte, für diese Haltung eine gute Grundlage zu liefern – durch Einbezug von Bruder und Schwester Tier.

Ueli Hurter

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