Rückblick in die Zukunft

2020 reiht sich in die dramatischen Wendejahre der menschlichen Geschichte und noch lässt sich kaum absehen, welchen neuen Stand wir aus diesen Sprüngen gewinnen. Hier zeichnen sechs Stimmen der Goetheanumleitung aus einem Blick zurück Perspektiven in das nun begonnene neue Jahr.


Peter Selg

Drei persönliche Zukunftslichter

Campagna Romana

Juli. Ein Zusammensein mit vielen Jugendlichen aus Italien, die der dortigen Jugendsektion zugehören, an einem Abend und einem nächsten Morgen auf dem Land unweit von Rom, beim Monte Giove der Familie Moncada. Die jungen Menschen hatten nach Dornach kommen wollen, aber es war noch nicht wieder möglich nach dem Lockdown. Ich hätte bei ihrem Aufenthalt etwas zur Lebensgeschichte Rudolf Steiners als Widerstandsarbeit sagen wollen. Nun flog ich zu ihnen. Ein gemeinsamer Abend der Freiheit unter Pinien beim Gesang der Zikaden, inmitten des duftenden Landes, ein früher Morgen im Sommerlicht. Draußen, unter Bäumen im Gelände lagernd, wie in alten Zeiten. Kein Vortragsraum, nirgendwo, kein Pult und keine Papiere. Die Zukunft der Anthroposophie im Offenen, inmitten strahlender Menschen, inmitten von so viel Schönheit in all der Bedrängung und Not. Tagsüber mit Stefano Gasperi im Dialog der Sprachen, nachts, als alle schliefen, mit Sergio Gaiti an der Via Appia im uralten Rom.

Malsch

Am 15. August 2020 mit einer kleinen Anzahl von Menschen im Malscher Modellbau zum internen Teil der Gründungsversammlung des Vereins Notfallpädagogik ohne Grenzen. Ich sollte an der Stätte des kleinen Baus etwas über ein Mantram des ‹Samariterkurses› von August 1914 sagen – «So lang du den Schmerz erfühlest / Der mich meidet …». Es wurde, unvermutet, eine esoterische Stunde, in der das «disziplinierte Kraft-Geist-Gerüst» des «Weihe-Kultraumes» (Hermann Ranzenberger) tief erlebbar war, die durchchristeten Tiefen der Erde. Vor dem inneren Auge stand plötzlich, deutlich wie nie zuvor – und wohl nicht zufällig in der Zeit größter Krise –, der geistige Weg von Malsch nach Dornach und die therapeutische Welt-Bedeutung der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, als Ort ‹heilender Erkenntnis›. Die Erinnerung an Franz von Assisi und seine ‹Minderbrüder› stand im Raum, auch die Rosenkreuzer waren inwendig präsent – in Richtung der Michael-Schule der Gegenwart. Notfallpädagogik ohne Grenzen.

Gedenkhain am Goetheanum

Von der Vorbereitungsgruppe für die medizinische Jahreskonferenz im September war ich um eine Arbeitsgruppe gebeten worden, zu der Frage, warum wir seit 2008 mit Medizinstudierenden von Witten/Herdecke nach Auschwitz reisen. Ich dachte nicht, dass sich dazu viele anmelden würden – ein vordergründig so dunkles Thema inmitten einer hell strahlenden Konferenz. Dann waren es doch so viele, dass die Treffen nicht im Glashaus stattfinden konnten, außer ich hätte die zusätzlich Gekommenen abgewiesen. Das aber konnte und wollte ich nicht. Mitten im Großen Saal fiel mir der Gedenkhain als Ausweg ein – der Gedenkhain, mit dem ich mich immer so schwergetan hatte, zu dem ich noch nie eine wirkliche Beziehung gefunden hatte, dessen Umgestaltung mir vordringlich erschienen war. Plötzlich war er da, als Idee. Wir verlagerten die Arbeitsgruppe dorthin, drei spätsommerliche Nachmittage bis 18 Uhr. Wir hörten von den Geschichten der Opfer und des Widerstands, von der Ethik am Abgrund, auch von Henriette Ginda Fridkin, der jüdischen Ärztin und Anthroposophin aus der Ukraine, mit der Rudolf Steiner den ‹Samariterkurs› abgehalten hatte und die 1943 in Auschwitz-Birkenau starb, die viele Gedichte in Paris hinterließ. Es waren unvergessliche Stunden des nachdenklich-meditativen Zusammenseins. Seither ist der Gedenkhain für mich völlig verwandelt. Für mich muss dort nichts verändert werden. Die Veränderung beginnt innen, dann werden auch die Räume anders, die Innen- und Außenräume. Es ist die Frage, welche Gedanken und Empfindungen wir zu ihnen tragen. Welche neuen Zukunftswillensimpulse dort in der Gemeinschaft geboren werden.


Matthias Girke

Für das Neue Jahr

Die Zeit ‹zwischen den Jahren› ruft die Besinnung auf die Begründung der Anthroposophischen Gesellschaft in der Weihnachtstagung 1923/24 und damit die kulturelle Wirkungsgeschichte der Freien Hochschule mit ihren derzeit elf Sektionen in das Bewusstsein. Sie stellt sich dabei jedes Jahr vor einen anderen Zeithintergrund: Was lernen wir aus der Coronapandemie gesellschaftlich und wie ergreifen wir die Aufgaben der Anthroposophischen Gesellschaft neu?

Die Pandemie verlangt ein neues, spirituelles Verständnis für die uns umgebenden Naturreiche. Die ökologische Krise und die derzeitige Pandemie stehen in einem Zusammenhang: Der Mensch ist als Mikrokosmos Abbild der Welt, des Makrokosmos, umgekehrt erscheint diese als ein großer zusammenhängender, beseelter und geisttragender Organismus. Jeder Eingriff in den großen Zusammenhang der Naturreiche erzeugt Ungleichgewichte mit Rückwirkungen auf den Menschen: Einschnitte in die Lebensräume der Tiere mit leidvollen Lebensbedingungen, Abholzungen des Regenwaldes, Belastungen der Erde durch Schadstoffe, zu einem beachtlichen Anteil auch durch Arzneimittel, wirken auf den Menschen zurück. Hier können wir Konsequenzen ziehen und unser Leben neu ausrichten in ökologischer Verantwortung vor dem Lebendigen.

Der zweite Lernschritt bezieht sich auf die menschliche Begegnung: In den Zeiten des Social Distancing wird die Bedeutung der menschlichen Begegnung besonders bewusst. Nach anfänglicher Euphorie der virtuellen Möglichkeiten erscheint das Wesen menschlicher Gemeinschaft in einem neuen Licht. Für Informationsaustausch eignen sich virtuelle Kontakte, sie führen aber den bisherigen Erfahrungen nach nicht so leicht zu den tieferen Früchten menschlicher Begegnung. Zusammenwirken ist mehr als die Addition der Einzelaktivitäten. Die Begegnung kann den Geist einer Gemeinschaft zur Wirksamkeit bringen, der mit dem Christus-Wort verbunden ist: «Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.» Es ist die Stimmung der vierten Strophe der Grundsteinmeditation mit ihrer Orientierung zur Christus-Sonne. In der Begegnung mit dem anderen Menschen überschreiten wir jedes Mal die Schwelle der geistigen Welt: Wir lernen, von uns selbst abzusehen, um beim anderen Menschen, also seinem geistigen Wesen, zu sein. Zurückkommend zu uns selbst entwickeln wir dann die eigenen Gedanken, während wir vorher in den anderen ‹eingeschlafen› sind. Rudolf Steiner beschrieb diesen Zusammenhang als das ‹soziale Urphänomen›. Die Aufgabe des Zusammenarbeitens besteht in dem Erwachen an dem Geistig-Seelischen des anderen Menschen und ist für die Entwicklung der Anthroposophischen Gesellschaft relevant.

Eine weiteres Lernziel aus der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation ist die Mitverantwortung im Zwischenmenschlichen. Die Coronapandemie trifft unterschiedliche Menschen in verschiedener Weise. Manche werden existenziell getroffen, andere spüren wenig von den Auswirkungen der Pandemie, wenige profitieren sogar. Hier braucht es Geschwisterlichkeit durch Mitverantwortung. Zahlreiche Spendenaufrufe erreichen uns in diesen Tagen und geben eine erste Möglichkeit zur Mithilfe.

Die Aufgabe des Zusammen­arbeitens besteht in dem Erwachen an dem Geistig-Seelischen des anderen Menschen.

Die Überwindung der Not der Gegenwart steht auch heute noch mit den drei Idealen von einem geistigen Verständnis der Welt, der Entwicklung menschlicher Beziehung und der Geschwisterlichkeit in Zusammenhang. Vor etwa 100 Jahren stellte Rudolf Steiner diese in die menschliche Seele inspirierten Engel-Ideale dar. Die Hoffnung ist: «Menschen mögen es hören!» Nun werden sie gegenwärtig als Entwicklungskonsequenzen erneut sichtbar und warten auf unsere Taten.

Die Anthroposophische Gesellschaft braucht in der geänderten Zeitlage neue Entwicklungen. Es kann vor diesen umwälzenden Zeitereignissen unmöglich ‹wie bisher› weitergehen. Äußere Zeichen waren das zur Weihnachtszeit coronabedingt geschlossene Goetheanum und die vielen Aktivitäten, die auf anderem Wege umgesetzt wurden.

In der Anthroposophischen Gesellschaft geht es um die Pflege der Anthroposophie, wie sie in vielen Zweigen weltweit geschieht. Wir brauchen zukünftig darüber hinaus die anthroposophische Arbeit an zeitaktuellen Themen: Die Konsequenzen einer zunehmend virtualisierten Kommunikation verlangen ihre Bearbeitung, der Medienumgang in Kindheit und Schulzeit (siehe die Eliant-Aktivitäten), die Eingriffe in das Lebendige (CRIPR-CAS), die Fragen um Geburt und Tod (Legalisierung der Sterbehilfe, assistierter Suizid in etlichen Ländern), die Menschenwürde und Fragen um das Wesensverständnis der geistigen Welt. Die gegenwärtige Situation ruft nach einer Arbeit der Anthroposophischen Gesellschaft an besonderen Fachthemen. Es können sich Gruppen auf diesen sachlichen Feldern bilden. Als Vorstand haben wir hierzu die notwendigen Voraussetzungen geschaffen. Diese Gruppen arbeiten für eine gewisse Zeit an einem Schwerpunktthema und stellen ihre Ergebnisse allen zur Verfügung. Sie können sich dann wieder auflösen oder anderen Fragestellungen zuwenden. Dadurch wird sich das Leben in unserer Gesellschaft intensivieren: Sie wird ‹von außen› in ihren Aktivitäten wahrgenommen und lädt andere zur Mitarbeit an Zeitfragen ein. Die Sektionen sind bereits auf vielen gesellschaftlichen Feldern tätig und wirken durch die Einrichtungen und Institutionen. Sie können darüber hinaus Arbeitszusammenhänge in der Anthroposophischen Gesellschaft bilden, die der fachlichen Weiterentwicklung dienen. Die Anthroposophische Gesellschaft bildet den Zusammenhang dieser fachlichen Arbeit und gewinnt durch sie Aktualität und gesellschaftliche Wirksamkeit.

Die Aufgabe des Zusammen­arbeitens besteht in dem Erwachen an dem Geistig-Seelischen des anderen Menschen.

In der weihnachtlichen Besinnung auf die Zukunftsimpulse stehen diese Arbeitsziele vor uns. Wenn sie aufgegriffen werden durch Aktivitäten der Mitglieder und sich in den Sektionen, aber auch davon unabhängig oder sektionsübergreifend realisieren, wird der Gesamtzusammenhang der Anthroposophischen Gesellschaft die individuellen Initiativen stärken und diese Initiaiven wiederum das Leben der Anthroposophischen Gesellschaft verstärken.


Jean-Michel Florin

Was zählt im Leben?

Das vergangene Jahr war eine echte Herausforderung für mich, weil ich in einer kleinen Ecke meiner selbst doch gehofft habe, dass sich die schlimmsten Prognosen in Bezug auf die Zerstörung der Natur nicht verwirklichen würden. Jetzt, nach den vielen Vorwarnungen durch verschiedene Seuchen, die uns hier in Europa nicht so stark betroffen hatten, kam Covid-19 und mir war klar: Jetzt sind wir in der ‹neuen› Welt. Was heißt das für mich ? Es heißt, dass wir nicht mehr auf irgendeine Vorsehung setzen können, die die Welt verbessern wird, sondern alle gefragt sind, jetzt nicht nur umzudenken, sondern aber anders zu handeln. Es geht darum, sich in erster Linie zu fragen: Was ist für mich wirklich wesentlich im Leben? Und dann: Schaffen wir es, eine Vision für die Zukunft, für die Welt zu entwickeln, die wir uns für 2030 wünschen?

Foto: Xue Li

Was mir in diesem Kontext Hoffnung und Freude macht, sind die vielen jungen Menschen, die ich in den biodynamischen Treffen, Kursen und Ausbildungen treffe und die sich alle existenziell und ganz konkret für ein Zusammenleben von Mensch und Natur in der Landwirtschaft engagieren. Ich habe den Eindruck, dass sie eine mehr oder weniger klar konturierte Vision für die Zukunft haben und – sehr wichtig – dass sie die Kraft haben, daran zu arbeiten, um sie zu verwirklichen. In den Kreisen der biodynamischen Landwirtschaft treffe ich immer auf eine positive, freudige Stimmung und Zuversicht. Das ist eigentlich ein gesundes Grundvertrauen in das Leben! Der regelmäßige, konkrete Kontakt zu den Wesen der Natur ist ein wunderbares Heilmittel in einer Zeit, wo sich Angst und Unsicherheit immer weiter ausbreiten!


Gerald Häfner

Den Fragen nicht ausweichen

Ein denkwürdiges Jahr geht zu Ende. Ein Jahr voller Angst, in dem wir Kollegen, Freunde, Menschen mieden und uns voreinander mit Masken schützten. Wie von einer großen, weltweiten Choreografie gesteuert, hielt die Welt den Atem an. Schulen, Theater, Sportstätten wurden geschlossen, das öffentliche, kulturelle und soziale Leben fror ein. Wir alle folgten denselben strengen Vorgaben und Anordnungen – und blieben gerade darin isoliert. Die Krise synchronisiert uns – und trennt uns doch zugleich.

Was lernen wir in und was aus der Serie von Krisen, deren sichtbarste (und dabei nicht einmal bedrohlichste) Corona ist? Worauf kommt es jetzt vor allem an? Was fragt die Zeit, was fragt die Welt uns? Welche neuen Verhaltensweisen, Strukturen und Fähigkeiten gilt es zu entwickeln? Werden wir ein anderes, partnerschaftlicheres Verhältnis zu unserer Mit-, Um- und Nachwelt finden – zur Erde, zum Leben, zueinander und zu uns selbst?

Das sind Fragen, denen wir nicht mehr ausweichen können. Sie bestimmen auch unsere zukünftige Arbeit in der Sektion. Etwas aber ahne ich schon jetzt: Ich möchte und werde mich nicht gewöhnen, weder an Corona noch an die Corona-Regeln. Ich werde Vorsicht und Rücksicht üben, immer neu. Aber ich werde der Angst keine Macht über mich geben, dafür gerne der Achtsamkeit wie der Neugier auf Menschen, der Freude am Sein, der Liebe zum Leben, der Kraft zum Guten. Denn die braucht unsere Welt mehr denn je.

Wenn die Welt mich zwingt, den anderen körperlich fern zu bleiben, habe ich die Freiheit, ihnen seelisch umso näher zu kommen. Ist die Wärme einer Umarmung verboten, kann die Wärme eines Gedankens leuchten und verbinden. Wo die Welt Abstand verlangt, kann ich Nähe schaffen. Wo die äußere Sonne untergeht, kann die innere Sonne aufgehen.

In der Welt wird es dunkler, kälter. Innen aber wird es hell! Ein neues Jahr kündigt sich an. Zeit, Kraft zu schöpfen und Entschlüsse zu fassen. Könnten nicht auch wir ein Virus verbreiten? Ein möglichst ansteckendes, das unaufhaltsam von einem zum anderen überspringt? Dann würden wir erwartungsfroh die Zahlen verfolgen, die der Infizierten wie der positiv Getesteten, inständig hoffend, dass bald die ganze Welt zur roten Zone wird, angesteckt von unserem Virus des Wohlwollens, der Verständigung, der Toleranz, der Empathie, des Großmuts, der Selbstlosigkeit, der Menschlichkeit, der Freundschaft, der Wärme, ja: der Liebe.


Stefan Hasler

Ein anderer Raum öffnete sich

Während der Medizinertagung haben wir am letzten Tag den Grundsteinspruch von Rudolf Steiner in Eurythmie aufgeführt. Die Anwesenheit eines Aufmerksamkeitsraumes, einer inneren Bewegungsqualität jedes Anwesenden, hatte für mich eine neue Dimension. Bekannte Worte wirkten ganz anders. Das Wort ‹Menschenseele› bekam eine neue Wirksamkeit, öffnete einen anderen Raum. Die Stille danach war nicht nur lange, sondern tief und weit zugleich. – Diese gemeinsame Erfahrung, dieses Licht trägt mich seither in vielen Momenten. Eine ganz andere Erfahrung und Lektion im Leben ist das ‹Verfallsdatum› eigener Aussagen. Da gehört schon viel Humor dazu, Geplantes, Vorgestelltes, Liebgewordenes einfach loszulassen. Einfach immer wieder aktuell neu schauen, was denn gerade dran ist. Und das dann auch noch von den Kolleginnen und Kollegen hören, und auch immer wieder neu sich darauf einlassen: Das ist eine neue Erfahrung wirklicher Flexibilität, die ganz sicher nicht immer funktioniert.


Claus-Peter Röh

Vom Fremden zur neuen Gemeinschaft

In der Pandemie verwandelten sich im vergangenen Jahr die Reisewege.

Zur Frage, ob es immer ein Flug sein muss, kam die Nachricht, dass die Linien ins Baltikum im Frühsommer eher unregelmäßig flögen. So fiel der Entschluss in der Pädagogischen Sektion, wenn möglich im August mit einer Fähre zur Tagung nach Riga zu reisen. Das Ticket im Gepäck, wartete ich darauf, von Travemünde bis Liepaja in Lettland mit einem Pulk von Hunderten touristisch Reisenden 27 Stunden an einen ‹Ruhesessel› gebunden zu sein. Doch weit gefehlt. Es handelte sich um eine Fähre für 95 schwere Sattelschlepper und Lastwagen, zu der wir fünf ‹Sonderreisenden› am Travemünde-Kai gebracht wurden.

Schon beim Aufstieg durch die Decks vorbei an langen Reihen von großen, eng gestaffelten Fahrzeugen wird fühlbar, dass es sich nicht um einen Vergnügungsdampfer handelt. Vielmehr ist es das Eintauchen in den internationalen Wirtschaftsumschlag, dessen immer tätiger Stoffwechsel seine Bewegungsdynamik für einen Tag und eine Nacht an die dumpf dröhnende Dieselmaschine der Fähre überträgt. Erscheinen die Fahrer und Beifahrer beim Ablegen von der Kaimauer Travemündes zunächst noch schweigsam und in sich gekehrt, so beginnt sich das Bild bald zu wandeln. Als die Fähre an Steuerbord die legendäre Viermastbark ‹Passat› passiert, kommen Fragen auf: Dort liegt die stolze ‹Passat› nach 39 Kaphorn-Umsegelungen wie ein Stück Vergangenheit am Kai. Diese Fähre ist gerade noch Gegenwart. Wie aber sieht die Zukunft aus? Wird hier in 50 Jahren ein elektrisch getriebenes Fährschiff verkehren? Je weiter das Schiff auf die offene See zusteuert, desto stärker scheint die endlos treibende Geschäftigkeit und Anspannung der Autobahnen und Hafenstraßen von den Fahrern abzufallen. Beim Abendessen schließlich brechen die Dämme und es hallen unzählige lebhafte Gespräche durch das Deck. Je häufiger die Worte ‹Corona› und ‹Belarus› wie Seezeichen in den angeregten Diskussionen auftauchen, desto stärker scheint sich ein Band zwischen den so verschiedenen Menschen zu bilden, die sonst ihre eigenen lettischen, estnischen, russischen oder schwedischen Wege fahren. Auch wir, die als ‹Sonderreisende› von dieser zunächst fremd erscheinenden Welt des wirtschaftlichen Warenstoffwechsels aufgenommen wurden, kommen den Fahrern nun immer näher. Die innere Frage taucht auf, ob in diesem Jahr der Pandemie und ihrer Folgen auf einer tieferen Ebene des gesellschaftlichen Ringens auch ein neues Verbundensein entstehen kann, welches die äußeren Tendenzen der gegenwärtigen Nationalisierungen in der Qualität der menschlichen Begegnungen auf die Dauer doch überwindet?

Als die Sonne sich nach ihrer langen Sommerbahn dem Nordwesten nähert, steigen unerwartet viele Fahrer zum Oberdeck hinauf und verfolgen schweigsam das ganze Farbenspiel ihres Untergangs. Nur hin und wieder dreht sich der eine oder andere nach Süden um, wo über der Küste Polens Jupiter und Saturn bei aller Unterschiedlichkeit ihren Weg der Annäherung schon begonnen haben. Auch hier, in der ernsten Ruhe, die sich auf dem Deck ausbreitet, scheint es, als würden diese Menschen in all ihrer individuellen und nationalen Unterschiedlichkeit das vorher in den Gesprächen Bewegte nun in einer gemeinsamen menschlichen Geste der Ehrfurcht diesem ergreifenden Naturereignis übergeben.

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