Rechnen als Erhebung der Pflanzenmetamorphose

Es zählt zu einer der wichtigsten Entdeckungen in der Anthroposophie, dass die menschliche Denkwelt eine aus der Pflanzenwelt erhobene Lebenswelt ist. Genauer: die zwei Welten verfügen über die gemeinsame Substanz, das Ätherische, allerdings auf verschiedenen Ichstufen.


Die Pflanze könne denken, so Rudolf Steiner, aber ihr Denken und ihr Wachsen seien gleich. In dem Sinne ist jede Pflanze gewissermaßen ein vollkommener Denker. Ihre Fähigkeit, das Denken und den Willen beziehungsweise das Theoretische und das Praktische zu vereinigen, weist auf ein zukünftiges Menschenvorbild hin. Trotzdem kann sie wegen der Entbehrung des Gehirns, anders gesagt des Astralleibs, die Resultate des Denkens, nämlich die Gedanken, nicht ins Bewusstsein bringen. Sie ist sozusagen ein lauterer, aber schlafender Denker. Da das Prinzip, dass allerlei zukünftige Formen in der Weltentwicklung aus den entsprechenden vergangenen Formen erhoben sind, zum Beispiel in der Menschengestalt oder Kulturentwicklung überall gilt, ist es hoch interessant, zu beobachten, wie sich das Denken der Menschen auf das Wachstum der Pflanze bezieht. Dadurch könnte eine künftige Denkmöglichkeit erblickt beziehungsweise vorbereitet werden.

Urbild Pflanze

Eine typische Pflanze durchläuft in ihrer Metamorphose nach Goethe drei Ausdehnungs- und Zusammenziehungsprozesse. Vom Keimblatt zum Stängelblatt als die erste Ausdehnung, vom Stängelblatt zum Kelchblatt als die erste Zusammenziehung. Vom Kelchblatt zum Blütenblatt als die zweite Ausdehnung, vom Blütenblatt zum Staubblatt als die zweite Zusammenziehung. Vom Staubblatt zum Fruchtblatt als die dritte Ausdehnung und zuletzt vom Fruchtblatt wieder zum Keimblatt als die dritte Zusammenziehung. Natürlicherweise tritt die Frage auf: Was ist denn das Gegenstück der dreimaligen Ein- und Ausatmung im menschlichen Denken?

Die Spur kann man nur in der Mathematik verfolgen, weil sie eine rein ätherische Tätigkeit ist. Deswegen gilt die Mathematik als gemeinsame Quelle aller Naturwissenschaften und Künste. Blicken wir zurück auf die Zahl, die eine grundlegende Rolle in der Mathematik spielt, finden wir, dass ihr einerseits die Räumlichkeit aus ihrer Teilbarkeit, anderseits die Zeitlichkeit aus ihrem entsprechenden Zeitstrom verliehen ist. Anders gesagt, jede Zahl ist eine zeitlich-räumliche Gestalt. Alle Zahlen bilden zusammen einen Zahlenraum, in dem sie sich ewig bewegen und ineinander übergehen. Das Rechnen oder die Operation ist nur ein Wille, der den Übergang und die Transformation von einer Zahl zur anderen schafft.

Rechenfundamente

Gehen wir näher heran, können wir in jeder Rechenart etwas Gemeinsames entdecken. Wie rechnet das Kind 4 plus 3? Zuerst hat es vier Steinchen in der Hand, «noch ein, noch zwei, noch drei, ja sieben Steinchen habe ich zusammen». Es hat zuerst ein Zentrum oder eine Basis in der Hand. In diesem Fall die Zahl 4. Dann hat es die Anzahl zum Addieren, hier die 3. Von 4 aus geht das Kind heraus mit drei Schritten, jeder ist gleich 1. Aus diesem einfachen Beispiel erlangen wir im Rechnen zwei fundamentale Elemente, nämlich die Basis und die Anzahl zum Operieren. Aus gleicher Perspektive schauen wir uns die Multiplikation an: 3 mal 4 ist gleich 12. Hier ist 4 eine Basis, dagegen ist 3 die Anzahl zum Addieren. 4 muss dreimal in die 0 addiert werden, die als die Grundzahl in der Addition gilt, um 12 zu erzeugen. Von 0 aus geht der Rechner heraus mit drei Schritten, jeder ist gleich 4; das heißt, jeder Schritt enthält noch vier kleinere ‹Sub-Schritte›, von denen jeder gleich 1 ist. Deshalb erhalten wir in der Multiplikation eine Struktur mit zwei Hierarchien. Noch weiter gehen wir zu der Potenz: 4 hoch 3 ist gleich 64. Hier ist 4 wie zuvor eine Basis, 3 die Anzahl zum Multiplizieren. Das heißt, 4 muss dreimal auf die 1 multipliziert werden, die als Grundzahl in der Multiplikation gilt. Nun geht der Rechnende von 0 aus wieder mit drei Schritten heraus. Der erste Schritt ist 4 mal 1, dann erreicht er die Zahl 4. Der zweite Schritt ist 4 mal 4, der Rechnende landet bei 16. Der dritte Schritt ist 4 mal 16, er landet bei 64. Davon beinhaltet jeder ‹Sub-Schritt› eine Multiplikation und hat natürlich eine zweischichtige Struktur. Deshalb bekommen wir in der Potenz eine Struktur mit drei Hierarchien. Trotz der unterschiedlichen Strukturen ist das Prinzip in allen Rechenarten gleich gültig: Eine Zahl als Basis kann durch einige gleiche Operationen operiert werden, um sich in die Zielzahl zu verwandeln. Ferner kommt eine weitere Rechenart nach dem Generierungsprinzip des Rechnens wie 4 hoch 3 hoch 3 hoch 3 vor. In diesem Fall verfolgt sie nicht mehr das einfache Basis-Anzahl-Prinzip und kann in einige normale Potenzen gegliedert werden. Daher gewinnen wir drei fundamentale, sich nacheinander steigernde Rechenarten, nämlich die Addition, die Multiplikation und die Potenz. Verwandeln wir diese drei abstrakten Rechenarten unmittelbar in die ätherischen Tätigkeiten, können wir erkennen, dass sie über drei sich im Räumlichen vergrößernde, im Zeitlichen nacheinander schneller werdende und im Strukturellen komplexer sowie feiner werdende dynamische Prozesse verfügen.

Illustration: Gilda Bartel

Umgekehrt bekommen wir nach der Basis im Rechnen die Subtraktion, die Division und die Wurzelziehung sowie nach der Anzahl zum Operieren die Subtraktion, die Division und den Logarithmus. Dementsprechend verfügen diese drei entweder nach der Basis oder nach der Anzahl umgekehrten Rechenarten über drei sich im Räumlichen verkleinernde, im Zeitlichen nacheinander schneller werdende und im Strukturellen komplexer sowie feiner werdende dynamische Prozesse.

Das Rechnen ist nur ein Wille, der den Übergang und die Transformation von einer Zahl zur anderen schafft.

Wieso erhalten wir durch den umgekehrten Prozess nur vier Grundrechenarten anstatt sechs? Schauen wir uns die Subtraktion an, zum Beispiel 7 minus 4. Da haben wir zwei Möglichkeiten, zu operieren. Es kann sein, dass 4 als die Basis anzusehen ist. In diesem Falle ist das Resultat 3 die Anzahl zum Addieren. Es kann auch sein, dass zuerst 1 aus 7 weggenommen wird, dies wiederholt sich viermal, 4 ist also die Anzahl zum Operieren und dann erlangen wir die Basis 3. Die beiden sind prinzipiell berechtigt und nicht differenzierbar. Im Falle der Division ist es ähnlich. Deshalb gewinnen wir ausgerechnet insgesamt sieben Grundrechenarten!

Metamorphose aus Metamorphose

Durch den instinktiven Vergleich wird klar, dass sich die Pflanzenmetamorphose in zwei Arten von der Rechenmetamorphose umwandeln lassen kann: die eine Art nach dem Zentrum oder der Basis, die andere Art nach der Anzahl zum Operieren. Zuerst lebt ein im Zentrum stehender innerlicher Kern in der Basiszahl. Er geht durch die Addition heraus und kommt durch die Subtraktion zurück zu dem Ursprünglichen. Und dann rennt er durch die Multiplikation weiter und schneller heraus und kehrt durch die Division wieder zurück, wonach er durch die Potenz noch weiter und schneller herausfließt und erneut durch die Wurzelziehung heimkehrt. Dies ist eine Metamorphose der Pflanzenmetamorphose. Die nach der Anzahl laufende Metamorphose ist ähnlich der nach der Basis laufenden, nur landet hier der ausatmende Kern an der Anzahl statt an der Basis, wenn er zurückkehrt. Diese entweder nach der Basis oder nach der Anzahl laufenden Metamorphosen entfalten sich dreimal in immer tiefere und rasantere Prozesse der Ein- und Ausatmung. Merkwürdig ist, dass die Pflanzenmetamorphose weniger strukturiert ist und kontinuierlicher verläuft als die Rechenmetamorphose. Darüber hinaus erscheint der Wille in der Pflanze durch die Form- und Farbverwandlung der sechs Arten von Blättern, während sich der Wille im Rechnen durch die Impulsanzahl und die Ausdehnungs- und Zusammenziehungsgeschwindigkeit ausdrückt.

Zwei Ichstufen

Tatsächlich sind die Pflanzenmetamorphose und die Rechenmetamorphose zwei verschiedenen Ichstufen unterworfen. In der Pflanzenwelt lebt das Ich noch schlafend in der zärtlichen Ätherwelt und gibt sich dem Geistigen selbstlos hin. Es bleibt nie am gleichen Ort und schwimmt vom Keim nach oben bis in die Frucht. Dies wiederholt sich in einem zirkularen Zeitrhythmus. Die dreimalige Ausdehnung und Zusammenziehung stammt aus dem Ein- und Ausatmen des Ich im Kosmos, oder umgekehrt aus dem Aus- und Einatmen des das Ich umgebenden Kosmos. Im Vergleich dazu verdichtet sich das Ich im Rechnen bis zu einem Kern im Zentrum. Vom Kern aus atmet es ein und aus. Der Willensimpuls entsteht nach der Anzahl für die Operation, wie der Herzschlag. Das Räumliche wird zur Quantisierung und das Zeitliche zum Takt. Dadurch verkörpert sich das Ich in einen im Herzschlag atmenden oder im Atmen das Herz schlagenden Menschen. Da verlangt es nicht mehr wie die Pflanze nach einem harmonischen, ewigen und ungebrochenen Jenseits, sondern stellt im Gegensatz seine eigenen Gesetze für sich selbst auf. Diese Eigenschaften werden in die gegenwärtige Menschlichkeit beziehungsweise ihre Denkweise entschieden eingeprägt.

Die zwei noch höheren Rechenarten, nämlich das Differenzial und das Integral, die auf dem Verwandlungs- bzw. Funktionsbegriff beruhen und die Geschwindigkeit sowie die gesammelte Wirkung der Verwandlung aufzufassen versuchen, verweisen auf eine neue, die sieben Grundrechenarten überschreitende Entwicklungsstufe des Ich. Ferner wird die Verdichtung des Ich in den sieben Arten in der Zukunft auf einer höheren Stufe wieder aufgelöst und aufgehoben und der Denkende mehr zu einer wachen Pflanze, wie der Imaginationspraktiker mehr zu einem wachen Tier.

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