Pflanzen und Gefühle

In seinen Pflanzenbetrachtungen verbindet Ernst-Michael Kranich wissenschaftliche Akribie mit tiefer Innigkeit. Ein eindrucksvoller Weg zu einer Naturerkenntnis, die uns lehrt, in der Seele der Erde zu lesen.


Am Waldesrand unvermutet auf eine blühende Heckenrose zu treffen und dann das Gefühl: Wie ist es möglich, dass uns ihr Anblick so tief berührt? Wie der Mensch stehen auch Pflanzen zwischen Himmel und Erde und gehen im Lauf des Jahres eine lebendige Verbindung mit der Sonne ein. Der Stand der Sonne bestimmt dabei nicht nur das seelische Empfinden des Menschen, sondern auch jenes der Natur. Ernst-Michael Kranich zeigt einen Weg, über das uns anmutende Gefühl beim Anblick der Rosenblüte hinauszukommen. Ausgehend von der lebendig morphologischen Betrachtung im Sinne Goethes, spürt er in die Tiefe seelischer Zustände. Eine einzigartige Form der Naturerkenntnis, die zeigt, dass Pflanzen und menschliche Gefühle einander entsprechen.

Der ehemalige Waldorflehrer für Naturwissenschaften verbindet damit morphologisches und psychologisches Erkennen zur ‹physiognomischen Naturerkenntnis›. Ernst-Michael Kranich veröffentlichte viele Bücher zu naturwissenschaftlichen und pädagogischen Themen. Hier handelt es sich um eine Neuauflage des Buches ‹Pflanzen als Bilder der Seelenwelt› (1993), das, um farbige Fotografien erweitert, sonst unverändert gut bleibt.

Pflanzengestalt und Seelenbewegung

Dem Gang der Natur folgend, zeigt Kranich 25 Blütenpflanzen, die mit ebenso vielen seelischen Regungen korrespondieren. Damit liegt nicht nur eine botanische Betrachtung, sondern eine differenzierte Beschreibung verschiedener, zum Teil einander verwandter Gefühlsnuancen vor. Seelenbewegungen, denen wir vom Frühling bis zum Spätherbst folgen können.

Vom Bild des Erwachens im Schneeglöckchen zum Ausdruck von Sehnsucht im Krokus führt Kranich zur hinaufstrebenden Tulpe, die ihre Zuversicht ausspricht. In den Betrachtungen werden wir nicht nur Zeuge pflanzlicher Metamorphosen, sondern auch seelischer Umwandlungen. Das ungewisse Sehnen des Krokus wandelt sich zu einer Gebärde der Hoffnung, die uns in dem geweiteten Innenraum, der Hinwendung zur Sonne und den strahlenden Farben der Tulpe begegnet. Bis zum Höhepunkt des Frühlings im Mai können wir beobachten, wie sich Inneres immer stärker nach außen wendet.

Weiter dem Blütenreigen im Lauf des Jahres folgend, spürt Kranich feinsinnigen Abstufungen von Hingabe, Mitgefühl und Frömmigkeit, Ergebenheit und Demut in den Blumen nach. Dabei vermag er das Rätselhafte, nicht Greifbare, zu erhellen.

Die Wahrnehmung des Lesenden von Formen und Wuchs, Wurzel- und Blütenbildung, von der Gestimmtheit der Farben wird dabei geschult. Es entsteht eine Wachheit für die Merkmale des Sprosses, für die Ausrichtungen der Blüten und Blätter – stehen sie in Hin- oder Abwendung? All das vermag die Lesende zunehmend als seelischen Ausdruck zu verstehen. Die Pflanze bleibt nicht länger eine Chiffre der Natur.

Im Fühlen bewusster werden

Seine Methodik der Naturerkenntnis entfaltet Kranich nicht linear, sondern zirkulär. Anfangs mag das etwas unbefriedigend sein, da die Nachvollziehbarkeit nicht von Beginn gegeben ist und die Klarsicht angesichts der ersten ehrwürdigen Pflanzenbetrachtungen in Schwaden von Weihrauch und Goldflimmer vergeht. Das ist trotzdem kein Grund, ungeduldig zu werden. In nahezu jeder einzelnen Pflanzenbetrachtung wird die Methodik weiterentwickelt und vor allem in den letzten drei Kapiteln zusammenfassend dargestellt. Wesentlich ist, dass in der innerlichen Nachbildung der Pflanzengebärde durch den Vorgang der Bewusstmachung seelischer Regungen eine Objektivierung angestrebt wird. Das Gefühl steht nicht affektiv für sich. Es wird selbst zum Gegenstand der Betrachtung. Im Lesenden evoziert das eine Ahnung von einer Karte der Seele und ihren Bereichen, die in ihren Ausprägungen im Denken, Fühlen und Wollen und in ihren Graden der Zugänglichkeit äußerst verschieden sind. Zwar hat der Lesende keine Gewissheit, mit der physiognomischen Methode zu immer gleichen Ergebnissen wie der Autor zu gelangen, dennoch findet er ein gutes Handwerkszeug für eigene Betrachtungen.

Indem Ernst-Michael Kranich die Innensicht zur Methode macht, liefert er mit seinem Buch einen Beitrag zur Überwindung des Objektivitätspostulats in der Naturwissenschaft. Es ist eine Verbindung von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft. «Im Erleben des Schönen und Erhabenen ahnt der Mensch, dass die Natur mehr ist als das, was die Naturwissenschaft beschreibt.»

Ein großartiges Buch, das Begegnungen mit Blütenpflanzen ermöglicht, wie sie näher nicht sein könnten. Ihr ureigenes Wesen wird daraus verständlich. Die Blume, selbst Ausdruck eines Seelischen, spricht sich aus. Gleichzeitig ist das Buch eine Ermutigung zum Betrachten weiterer Gewächse. Für die Klassenlehrerin kann es als Hintergrund zur Pflanzenlehre-Epoche dienen. Es ist aber auch ein Buch für den Garten. Für sonnige Mußestunden. Oder den Wanderrucksack.

Wenn ich eine Blume wäre? Vielleicht haben Sie sich das schon einmal gefragt. Lohnend wäre es vor der Lektüre dieses Buches.


Ernst-Michael Kranich, Pflanzen als Bilder der Seele, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2020

Grafik: Fabian Roschka

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