Mut zum Schritt ins Unbekannte

Seit 2004 verzeichnet der Transformations­index der Bertelsmann-Stiftung mehr autokratische als demokratische Staaten. Das Wahlergebnis in den Niederlanden ist hier ein weiterer Baustein. Wolfgang Held sprach im Oktober mit Gerald Häfner.


Wie ist der Rückgang der Demokratie zu verstehen?

Demokratie ist im schillerschen Sinne ein Spiel. Sie erzeugt Kohärenz und Entwicklung. Das Spiel braucht Regeln. Es gelingt, solange man bereit und fähig ist, sich auf Grundregeln zu einigen. Dazu gehört, dass man einander respektiert, zuhört, abwägt und entscheidet. Jetzt treten Menschen auf, die das Spielfeld nutzen, aber die Regeln brechen. Andere verlassen sogar das Spielfeld: ‹Wer anders denkt, ist mein Feind. Ich werde ihn bekämpfen.› Wieder andere wenden sich ab: Wir haben innerhalb der Demokratie Akteurinnen und Akteure, die mit nicht demokratischen Mitteln ihre Gegner bekämpfen. Damit attackieren sie nicht nur ihr Gegenüber, sondern auch die Demokratie selbst.

Wie kommt es, dass die Grünen zur Projektionsfläche für Ablehnung wurden?

Ich glaube, dass sich das Realitätserleben und die Zukunftserwartung innerhalb der von mir überschauten Lebenszeit dramatisch verändert haben. Meine Generation ist aufgewachsen in einer Welt, die alles andere als vollkommen war, aber uns ein glücklicheres und sichereres Zusammenleben erhoffen ließ. Hinter uns lagen furchtbare Kriege – vor uns, dachten wir, Frieden. Die heutige Lebensstimmung ist umgekehrt. Sie wird von Panik oder Verdrängung dominiert. Krisen nehmen zu und kommen näher. Die Liste der Angst ist lang: Wir kommen an die ökologischen Grenzen des Planeten, Rohstoffe werden knapp, Energie- und Mietkosten steigen, Kriege nehmen zu, Menschen sind auf der Flucht. Sie drängen auch in unsere Lebensräume, was vielen Angst macht. Wenn Angst die Seele beherrscht, wird man engherzig, aggressiv. Man will sich schützen. Man sucht nach Schuldigen, die man verantwortlich machen, ausgrenzen oder bekämpfen kann. Was gerade jetzt am nötigsten wäre, fällt dann besonders schwer: sich selbst zu ändern.

Wie wurden hier die Grünen zum Sündenbock?

Erstens: Weder Angst noch Verdrängung stärken den Mut zu Veränderungen, wie grüne Politik sie notwendig bräuchte.

Zweitens: Die Grünen haben sich selbst von einigen ihrer wichtigsten Ideen verabschiedet und verschwinden im Klein-Klein.

Drittens: Zum grünen Anspruch sollte es gehören, zuzuhören und im Dialog mit der Bevölkerung Veränderungen zu verwirklichen. Dieser Diskurs wird zu wenig geführt, zu viel wird von oben dekretiert. Das empört viele.

Und viertens: Die deutsche Regierungskoalition begann gut. Man hat gemeinsam Perspektiven entwickelt und sich zusammen viel vorgenommen. Doch diese politische Kultur erodierte, als es nicht mehr um Sachfragen, sondern um Personen, Macht und Einfluss ging. Plötzlich wurde nicht mehr nur intern miteinander gerungen, sondern über außen gespielt. Einzelne Beteiligte haben das ganze Spiel verändert. Besonders der Finanzminister entdeckte, dass er seine Position benutzen könnte, um inhaltliche Vereinbarungen sowie den Erfolg anderer zu verunmöglichen. Die Tragödie dieser Regierungskoalition ist, dass sie begonnen hat, gegeneinander zu operieren.

Das ist eine Entwicklung, die mir Sorgen macht: Das Gemeinsame geht verloren. Sozial ist, worin wir gemeinsam anwesend und aufeinander angewiesen sind. Wir sind aber in eine Zeit eingetreten, in der viele das Soziale ausblenden – und damit leider Erfolg haben. Jeder sucht Erfolg nur für sich, obwohl genau das langfristig scheitern muss. Mitglieder der Koalitionsregierung überlegen nicht mehr: ‹Wie erreichen wir den bestmöglichen Erfolg für das Land und für alle?›, sondern: ‹Wie erringe ich Erfolg über meine Partner in der Koalition?›.

Wenn man nicht mehr gemeinsame Ziele vertritt, sondern egoistische, stößt das ab. Den Schaden haben dann alle. Wir können das auch im öffentlichen Diskurs feststellen. Bei der bayerischen Landtagswahl etwa. Am Ende haben zwei Drittel der Wählenden mehr oder weniger rechte Parteien gewählt. Es wird Mode, Bevölkerungsgruppen pauschal ins Unrecht zu stellen, die Aggression auf sie zu lenken. Das erschüttert mich – auch eingedenk unserer Geschichte.

Kollegialität zu kultivieren, braucht Engagement, während es leicht scheint, ein Miteinander zu torpedieren.

Ein Gesetz des Lebens: Zerstören geht schneller als aufbauen. Man sieht es bei dem aktuellen Terror: Ein Mensch, ein Ort, der Frieden sind schnell ausgelöscht. Doch die Bedingungen herzustellen, dass jemand zu einem liebevollen und verantwortungsvollen erwachsenen Menschen wird, braucht Jahrzehnte und die Mitarbeit vieler. So ist es in der Politik: Man kann etwas über Jahre aufbauen und es in Stunden zerstören. Gerade die sozialen Medien stellen Anforderungen an uns. Das Laute und Schrille drängt in unsere Aufmerksamkeit. Das Besonnene, Vielschichtige nicht, da braucht es eigenen Einsatz. Der Aufbau eines selbstbestimmten, Bewusstseins verlangt heute viel Achtsamkeit.

Welche Rolle spielt hier Corona?

Auch hier, statt Gespräch: Polarisierung. Selbst zu denken wurde verunglimpft. Ebenso wie viele Verantwortliche. Rechte und Freiheiten wurden oft sinnlos eingeschränkt. Es ist uns nicht gelungen, im Umgang mit der Pandemie gesellschaftlich zu reifen, Selbstverantwortlichkeit und Übernahme der Verantwortung für andere zu üben. Auch im Ukraine-Krieg erleben wir Gruppendenken, den Druck, sich bekennend einzuordnen. Noch schlimmer im Nahen Osten. Es geht doch darum, einander zuzuhören und zu verstehen, statt Fahnen zu schwenken.

Was können die Grünen tun?

Im Gründungskonsens der Grünen liegt es, politische Veränderung mit Weiterentwicklung der Demokratie zu verbinden, die Menschen stärker zu beteiligen und einzubeziehen. Dieses ‹basisdemokratische› Versprechen hat die Partei vor der letzten Wahl aus ihrem Programm entfernt. Es scheint, als möchte sie die Bevölkerung zu grünem Glück zwingen. Wir vergessen, dass die Anerkennung der freien Persönlichkeit jedes Menschen Grundbedingung alles Politischen ist.

Was wollen wir denn nicht lernen? Dass uns solche Krisen heimsuchen?

Wir haben gelernt, uns als Einzelwesen zu behaupten, unsere Ziele durchzusetzen. Doch heute stellt uns die Zeit neue Aufgaben. Wir lernen: Entwicklung und Glück gibt es nicht auf Kosten anderer – auch nicht auf Kosten der Tiere, Pflanzen, des Bodens, auf Kosten eines anderen Volkes, des Planeten. Wir entwickeln uns weiter, wenn wir die Entwicklung unserer Mitmenschen im Auge haben und sie wie die eigene fördern. Nötig ist nicht weniger als eine Umstülpung unserer Lebensorientierung: Wir sollten aufhören, zu fragen: Was nützt mir das und was kann ich für mich tun? Vielmehr sollten wir fragen: Was kann ich jetzt für dich und das Ganze tun? Und dabei kann ich dankbar erleben, was Tausende andere täglich für mich tun.

Was lässt dich hier hoffen?

Beim Abschluss der Goetheanum-Weltkonferenz kamen spontan viele junge Menschen auf die Bühne. Niemand nahm dabei für seinen Beitrag mehr als eine Minute in Anspruch. Trotzdem war alles substanziell!

Ein junger Mann hob mit einem Mal ein Bein und stand so vor den tausend Menschen im Saal. Es war ein einfaches und starkes Bild: So ist sein Gleichgewicht nicht von Dauer. Er muss einen Schritt tun! Aber wohin? Man kann das Alte niemals verlassen, ohne einen Schritt ins Unbekannte zu setzen. Das braucht Mut. Denn man weiß nie, was daraus resultiert. Er musste nichts sagen und sagte viel. Solche Menschen lassen mich hoffen!


Bild Gerald Häfner während der Weltkonferenz 2023, Foto: Xue Li

Print Friendly, PDF & Email
Zurück
Advent

Letzte Kommentare