Liebe ist immer praktisch

Constanza Kaliks und Philipp Reubke leiten die Pädagogische Sektion am Goetheanum. Sie sprachen in der Reihe ‹Anthroposophie – eine Erweiterung der Wissenschaft?› über die Pädagogik als Ermöglichung des noch nicht Dagewesenen. Es ist eine Gratwanderung, zwischen der gewordenen Welt und der noch unbekannten Zukunft des Kindes zu vermitteln.


Der Ansatz Rudolf Steiners, aus dem die Waldorfschulbewegung entstand und sich entwickelte, ist eine Pädagogik, die sich an der Erkenntnis des Menschen orientiert. Ihr Ausgangspunkt ist das Ringen um Menschenerkenntnis – die curricularen Entscheidungen, die methodischen und didaktischen Richtlinien, sie folgen dieser Erkenntnis.1 Die Menschenerkenntnis bleibt nicht außerhalb des Handelnden, der dann nur ein Ausführender wäre, sondern lebt in demjenigen, der die Verantwortung für die Pädagogik übernimmt. Wäre es anders, so würde sich das pädagogische Handeln an normativen Anweisungen orientieren, die gesetzt und mehrheitlich nicht in der Wirklichkeit des jeweiligen Kindes und jungen Menschen verankert sind. Prägend sind dann ökonomische Interessen oder naturwissenschaftliche Paradigmen, die in die Humanwissenschaften hereingetragen werden, ein Normatives und Verallgemeinerndes. Das einzelne Kind, der singuläre junge Mensch werden dort als ein Beispiel der über ihnen stehenden, determinierenden Allgemeinheit gesehen.

Die Kritik an einem solchen reduktionistischen Weltbild und an seinen Konsequenzen macht sich im pädagogischen Bereich heute weltweit geltend, auch im akademischen Diskurs; sie wird jedoch in den praktischen Umsetzungen nur selten berücksichtigt, die sich ganz überwiegend an ökonomische Prinzipien in den Erziehungssystemen orientieren.

Das von Rudolf Steiner früh erkannte Problem hat an Intensität und Verbreitung dramatisch zugenommen und wird gegenwärtig von vielen Seiten artikuliert. Am 29. Januar 2022 sprach der hundertjährige Edgar Morin in einem Interview der brasilianischen Zeitschrift ‹Revista Prosa e Arte› von der Notwendigkeit der Erkenntnis des Menschen. Morin, ein französischer Philosoph und Soziologe, der wichtige Perspektiven zur Erziehung des 21. Jahrhunderts entwickelt hat, wandte sich schon in den 1970er-Jahren gegen den wissenschaftlichen Reduktionismus der Naturwissenschaften in seiner paradigmatischen Bedeutung: «Das Tragische an unserem derzeitigen Wissenssystem ist, dass es das Wissen so sehr aufspaltet, dass wir uns diese Fragen nicht stellen können. Wenn wir fragen: ‹Was ist der Mensch?›, werden wir keine Antworten bekommen, weil die verschiedenen Antworten verstreut sind. Und genau das ist es, was ich als komplexes Denken bezeichne, ein Denken, das einzelne Teile des Wissens zusammenführt. […]

Zunächst einmal muss man sich darüber im Klaren sein, dass wir mehr und mehr von zwei Barbareien bedroht sind. Die erste Barbarei, die wir kennen, kommt aus dem Anfang der Geschichte, das ist Grausamkeit, Herrschaft, Unterwerfung, Folter, all das. Die zweite Barbarei hingegen ist eine kalte und eisige Barbarei, nämlich die des wirtschaftlichen Kalküls. Denn wenn das Denken ausschließlich auf Zahlen beruht, sieht man den Menschen nicht mehr. Was Sie sehen, sind Statistiken, dumme Produkte. Letztendlich wird die Berechnung, die zwar nützlich ist, aber nur als Instrument, zu einem Mittel der Erkenntnis, aber zu einer falschen Erkenntnis, die die menschliche Realität verschleiert.

Sobald das Kalkül einsetzt, wird der Mensch als Objekt behandelt. Und heute, mit der Herrschaft der Macht und des Geldes, mit der Herrschaft der bürokratischen Welt, ist dies alles das Reich der eisigen Barbarei. Wenn Sie so wollen, ist es notwendig, die Politik neu zu überdenken, und wir befinden uns in der Vorgeschichte dieses Moments. Man muss wissen, ob die negativen Kräfte, die negative Strömung, stärker sein werden als die positiven Kräfte, die sich heute in der Welt zu erheben versuchen und noch sehr verstreut sind.»2

Zwischen geworden und werden

Pädagogik findet stets in einer sehr feinen, sehr sensiblen Gratwanderung statt. Ich möchte im Folgenden einen Aspekt dieser Gratwanderung beschreiben.

Das Kind wird hineingeboren in eine schon vorhandene, schon daseiende Welt: eine gewordene, durch Jahrhunderte, ja Jahrtausende sich konstituierende Wirklichkeit. Und vieles von dem, was ins Klassenzimmer gebracht wird, ist aus diesem entnommen. Das entspricht auch der Aufgabe der Erziehung, die Neuangekommenen in diese Welt einzuführen, dass sie lernen können, in ihr zu Hause zu sein, in ihr zu leben, sie zu bewohnen. Dieses Aufgenommensein ist Bedingung der Existenz, ist die erste Pflicht der schon Daseienden: den anderen und Neuen aufnehmen und erfahren zu lassen, dass seine Gegenwart gewollt, bejaht wird; die Umsicht, die Fürsorge, die Umsorgung lässt das Kind erfahren: ja, es ist gewollt. Dann kommt im Schulalter all das, was die Vielfalt der Welt ausmacht: Auch da erlebt das Kind das Wunder des Vielen, was geworden ist – die Geschichte, die Natur, die Mathematik. Wie viel von dem, was die Schönheit der Welt und die glücklichste Erfahrung des Lernens ausmacht, ist schon Gewordenes, schon oftmals Gedachtes!

Und doch: Wir bereiten das Kind, den jungen Menschen für eine uns nicht bekannte Zukunft vor. Nicht nur für morgen, sondern für das ganze Leben wird die Schulzeit Folgen haben. Rudolf Steiner spricht davon, dass das Leben als Ganzes im Bewusstsein des Lehrers, der Erzieherin sein muss: Was heute erfahren wird, kann für uns nicht vorhersehbare Folgen haben. Das schon Gewusste ist somit ein grundlegendes Instrument für die Ermöglichung des Kommenden, des noch nicht Gewussten, und gleichzeitig beinhaltet es die Gefahr, dass es an das Vergangene bindet, dass es Zukunft verhindert. Anderseits würde das Überspringen des Gewordenen verunmöglichen, die Welt zur Heimat werden zu lassen. Erziehung ohne Inhalte, ohne Lernen an dem, was ist, kann nicht Zukunft vorbereiten, weil sie an nichts anknüpft – und somit zusammenhanglos bleibt. In einem viel zitierten, sehr aussagekräftigen Text schreibt Hannah Arendt zur Erziehung:

«Bildung ist der Punkt, an dem wir entscheiden, ob wir die Welt genug lieben, um Verantwortung für sie zu übernehmen und sie so vor dem Untergang zu bewahren, der ohne die Erneuerung und das Kommen des Neuen und Jungen unvermeidlich wäre. Bildung ist auch der Ort, an dem wir entscheiden, ob wir unsere Kinder genug lieben, um sie nicht aus unserer Welt zu vertreiben und sie ihren eigenen Ressourcen zu überlassen oder ob wir ihnen die Chance nehmen, etwas Neues und für uns Unvorhergesehenes zu unternehmen, und sie stattdessen im Voraus auf die Aufgabe vorbereiten, eine gemeinsame Welt zu erneuern.»3

Ernst Bloch spricht in seinem Buch ‹Das Prinzip Hoffnung› vom «Noch-nicht-Bewussten» und vom «Vorbewussten des Kommenden».4 Und im Bericht der UNESCO von Ende 2021 heißt es: «Pädagogik ist die Arbeit an der Realisierung von transformativen Begegnungen, die sich auf das Bestehende und das noch zu Erschaffende stützen.»5

In wunderbarer Form schreibt Martin Buber über dieses Neue, noch nicht Gewesene, in seiner ‹Rede über das Erzieherische›: «Das Menschengeschlecht fängt in jeder Stunde an. Wir vergessen dies zu leicht wegen der massiven Tatsache des Gewesenseins, der sogenannten Weltgeschichte, der Tatsache, dass jedes Kind mit einer gegebenen, ‹weltgeschichtlich› entstandenen, das heißt: von der Fülle der Weltengeschlechter ererbten Anlage und in eine gegebene, ‹weltgeschichtlich› entstandene, das heißt: von der Fülle der Weltvorgänge hervorgebrachte Situation hineingeboren wird. Sie soll uns das andere, nicht minder wichtige Faktum nicht verdunkeln, dass trotz alledem in dieser Stunde, wie in jeder, in die Schichtung des Vorhandenen das noch Ungewesene einbricht, mit zehntausend Antlitzen, von denen kein gleiches bisher erschaut worden war, mit zehntausend noch ungewordenen, werdebereitenden Seelen, – Schöpfungsbegebnis wenn eins, aufgetauchte Neuung, urgewaltige Potentia. Diese, wie viel auch von ihr vertan wird, unversiegt strömende Möglichkeit ist das ‹Kind›. Dieses Erscheinen der Einzigkeit, dieses, das mehr ist als nur Zeugung und Geburt, diese Gnade des Wieder-, des Immer-wieder-, des Noch-immer-anfangen-Dürfens.»6

Menschenerkenntnis

Die Bewegung zwischen dem Gewordenen und dem noch nie Dagewesenen ist eine Gratwanderung, die sich ständig in der Pädagogik ereignet. An diesem Punkt und in dieser Gratwanderung kann die Menschenerkenntnis eine sich immer erneuernde, immer neu werdende Orientierung bilden. Sie beinhaltet die Notwendigkeit, das Erkenntnisverständnis zu erweitern: Nicht eine Reduzierung des Menschen auf seine Körperlichkeit ist gefordert, sondern eine Perspektive, die versucht, das Seelenleben und die geistige Instanz des Menschen, seine ureigene Selbstheit oder sein Ich, als zum Menschen gehörende Wirklichkeit zu verstehen.

Die Verhältnisse zwischen leiblicher, seelischer und individueller Instanz sind im ständigen Werden. Es gilt, die Möglichkeit des Wahrnehmens zu schulen, zu erweitern, die Aufmerksamkeit auf das Werdende lenken zu lernen. Sodass das Kind erfahren kann: Es wird erkannt in seiner Selbstheit, es kann sich verstehend in die Welt einbringen. Es ist willkommen! Es wird gesehen, es darf die Erde und die Welt sehen, verstehen, lieben lernen.

Dazu müssen die Lehrenden ihr Fach kennen. Sie müssen Wege zum Lernen mit und für das Kind entwickeln können. Sie müssen situative Handlungsfähigkeiten entfalten und Zugänge zur Verfügung haben, die dem Kind helfen, sich mit der Welt, mit dem Erfahren und Wissen der Welt zu verbinden. Der Lehrer, die Lehrerin sind zentrale Instanzen der Pädagogik. In der bereits erwähnten unesco-Studie steht: «Pädagogik ist das, was es jedem Schüler ermöglicht, Teil einer menschlichen Beziehung zur Erkenntnis zu sein, sich eine Welt mit Verständnis, Kreativität und Sensibilität zu erschließen. Ohne die Anwesenheit von Lehrern kann es kein Neuimaginieren von Lehrplänen und Pädagogik geben.»7

Was als Wissenschaft einfließt, muss erst durch das Gefühl umgeschmolzen werden.

Wenn die Erkenntnis des Menschen, die der Lehrer ständig sucht, zur tatsächlichen Orientierung in der Pädagogik wird, bleibt jedoch die Frage, wie wir gewiss sein können, dass das, was in der Schule, im Klassenzimmer oder draußen mit den Kindern passiert, den Kindern entsprechend und gut ist? Diese Frage wird oft durch einen Rekurs auf die Vergangenheit beantwortet: Allein das schon Bekannte bietet den Maßstab der Gewissheit. Und doch kann die notwendige Versicherung auch ganz anders und aus etwas sehr Einfachem und sehr Zentralem entstehen: dadurch, dass nicht ein Mensch, sondern verschiedene Menschen um das Kind sind, ein Kollegium, die anderen, die es und sein Werden sehen. Sie helfen, die eigene Wahrnehmung zu korrigieren, zu präzisieren. Dieses Kollegium ist – idealerweise – in einem ständigen Austausch um das Kind, unter sich sowie mit der Umgebung des Kindes: mit den Familien und den Nachbarn der Schule, mit der Stadt und dem Land, mit der Sprache, der Kultur und der Zeit. Das Kollegium ist eine Instanz der Öffentlichkeit und vermittelt diese Öffentlichkeit da, wo das Kind noch beschützt sein muss.

Vor bald hundert Jahren, am 8. Oktober 1922, sagte Rudolf Steiner zu jungen, an Pädagogik interessierten Menschen: «Menschenerkenntnis, aber nicht Menschenerkenntnis, die uns den Mitmenschen gegenüber kalt macht, sondern die uns vertrauensvoll macht, das muss der Grundnerv auch der Zukunftspädagogik werden.»8 Eine Menschenerkenntnis, die dem Kind Vertrauen schenkt, auch das Vertrauen, dass die gewordene Welt wandelbar ist – durch seine Gegenwart und durch die Gegenwart der anderen, die sich und die Welt verändern können.

Constanza Kaliks


Handeln aus Erkenntnis

Der pädagogische Leitsatz ‹Handeln aus Erkenntnis des werdenden Menschen› war zu Anfang des 20. Jahrhunderts für einige Reformpädagogen ein wichtiger Leitsatz. Zwei damals einflussreiche Persönlichkeiten aus Genf waren Édouard Claparède und Adolphe Ferrière. Sie haben 1912 das Institut Jean-Jacques Rousseau gegründet, ein Institut für Entwicklungspsychologie des Kindes. Medizin, Biologie, Philosophie, Sozialwissenschaften und Psychologie wurden unterrichtet und auch der Begriff ‹Erziehungswissenschaften› wurde eingeführt. Es waren die Wissenschaften, die beim Verständnis des Kindes helfen sollten. Claparède prägte das Wort: ‹die kopernikanische Wende in der Pädagogik›. Nicht Curriculum und Lehrplaninhalte sollten die pädagogischen Diskussionen beherrschen, sondern die Frage: Wie können wir das Kind verstehen? Wie können wir Methoden anwenden, durch die das Kind lernt, aber nicht seine Gesundheit geschädigt wird. Die beiden haben bis Ende der 1920er-Jahre intensiv gearbeitet, auch im Rahmen der Ligue internationale pour l’éducation nouvelle, einer Bewegung, in der die meisten Reformpädagogen Anfang des 20. Jahrhunderts zusammenarbeiteten, zum ersten Mal auf einem Kongress 1921 in Calais. Claparède und Ferrière waren Freunde, aber auch Antagonisten in Bezug auf die Frage, wie Erziehungswissenschaft in die Erziehungspraxis fließen solle? Ferrière meinte, man müsse immer ganz vom individuellen Kind ausgehen. Claparède hingegen meinte, man müsse standardisierte Tests machen, im großen Stil Experimente durchführen und deren Ergebnisse zur Erarbeitung von allgemeingültigen Gesetzen und Theorien verwenden. Erziehungswissenschaft im Allgemeinen oder im Besonderen also? Und solle auch Kulturwissenschaft und Philosophie zur Erziehungswissenschaft gehören? Oder solle nur die empirische Wissenschaft, die nach dem Modell der Naturwissenschaft funktioniert, dabei eine Rolle spielen? Rudolf Steiners kolossales Unternehmen, im Jahr 1919 in wenigen Monaten mit wenigen Lehrern eine Schule für anfangs fast 400 Kinder aufzubauen, ist für mich die Praxiswerdung dieser kopernikanischen Wende in der Pädagogik. Seine Position ist auch im Hinblick auf die Frage der beiden streitenden Freunde interessant. Steiners Position war nämlich: sowohl als auch. Es sei wichtig, dass die Lehrenden sich mit erziehungswissenschaftlichen Theorien beschäftigen. Aber gleichzeitig müssten sie immer wieder zur empirischen, phänomenologischen Beobachtung des Kindes zurückkommen. Beim Studium kindlicher Entwicklung muss auch Geisteswissenschaft, also nicht empirische Psychologie, eine große Rolle spielen.

Pädagogische Konferenz

Wie sollte diese kopernikanische Wende in der Waldorfschule nach Steiners Vorschlag stattfinden? Er hatte eine besondere wöchentliche Veranstaltung für alle Lehrpersonen vorgesehen. Das war und ist eine Art von erziehungswissenschaftlichem Forschungsseminar, eine Fortbildungsveranstaltung, und zwar innerhalb der Arbeitszeit, nicht sonntags oder nach Feierabend. ‹Pädagogische Konferenz› wird diese Sitzung noch heute in Waldorf- und Rudolf-Steiner-Schulen genannt. Bei dieser Veranstaltung, so Steiners Vorschlag, möchten drei Aspekte eine Rolle spielen. Erstens: Beschäftigung mit theoretischen Studien zur kindlichen Entwicklung durch Texte, Referate, Kleingruppenarbeit. Zunächst einmal war das natürlich die Beschäftigung mit Steiners eigenen Ideen zur kindlichen Entwicklung. Unabdingbar ist aber heute, dass als Vergleich und Bezug zur aktuellen erziehungswissenschaftlichen Diskussion auch andere Autorinnen und Autoren hinzugezogen werden.

Zweitens: Zusammentragen von Beobachtungen, die man an einem Kind gemacht hat, in einer Stimmung von vorurteilslosem Interesse, mit Empathie. Aus den Beobachtungen werden dann vorsichtig Hypothesen entwickelt zum Verständnis der besonderen Qualitäten und Schwierigkeiten des Kindes, um schließlich Strategien zu beschließen, wie man das Kind noch besser unterstützen kann. Drittens: Betrachtung der Erziehungspraxis der einzelnen Kolleginnen und Kollegen im Plenum oder in Kleingruppen. Wie wurde dieser oder jener Stoff eingeführt? Was für Schwierigkeiten, was für Überraschungen gab es dabei? Wie wurde in dieser und jener pädagogischen Situation agiert? Das bedeutet, gemeinsam an den eigenen Fehlern, an der eigenen Arbeitsweise, miteinander im Team zu lernen. In diesen drei zentralen Aspekten der pädagogischen Konferenz findet ein besonderer Schritt statt in Bezug auf die Frage: Wie kann in dem Vergangenen eine Tür aufgemacht werden durch Erkenntnis, durch die das Werdende Eintritt finden kann?

Da gibt es theoretische und empirische Forschung, Entwicklungspsychologie, Anthropologie im Allgemeinen und auf das besondere Kind eingehend. Aber das soll nicht nur in Forschungsinstituten stattfinden, sondern vor allen Dingen im Kreis der Lehrpersonen, die die Praxis täglich mit dem Kind betreiben und mit ihm leben und das Kind erziehen. Diese wöchentliche Fortbildungsveranstaltung sei das Herz der Schule. Wenn wir heute versuchen, wesentliche Merkmale der Waldorfpädagogik anzugeben, dann müsste man dieses an die erste Stelle setzen. Denn das ist die originelle Idee, durch die Steiner die Ansätze von Claparède und Ferrière verbindet.

Theorie und Praxis

Es gehörte zu Steiners zentralen Ideen, dass das Kind nicht als leeres Blatt geboren wird, nicht nur als körperlicher Organismus, sondern auch als geistig-seelische Individualität, die Existenzformen in einer nicht raumzeitlichen Dimension und vergangene Erdenleben durchgemacht hat. Beeinträchtigt das nicht die weltanschauliche Freiheit der Lehrpersonen, die dieser Idee eventuell skeptisch gegenüberstehen? Wer so fragt, bedenkt nicht die Art, wie Steiner das Verhältnis von Theorie und Praxis denkt, gerade in der Erziehung, das heißt auch in der Selbsterziehung. Niemals könne aus einer wissenschaftlichen Position, aus einer Theorie, aus einem Gedanken eine zwingende Handlungsmaxime automatisch abgeleitet werden. Wenn das geschehe, könne die Besonderheit des Kindes oder meine Besonderheit auf dem Weg der Selbsterziehung nicht berücksichtigt werden. Dann kann das noch nie Dagewesene nicht gefördert werden. Hierzu ein Zitat aus einem Vortragszyklus, den Steiner am Goetheanum in den Weihnachtsferien 1921/22 für Schweizer Lehrpersonen am Goetheanum gehalten hat: «Was am meisten in der Erziehung in Betracht kommt, sind die Gefühle über das Wesen des Menschen. Und wenn wir uns durch eine Einsicht in die menschliche Natur in der richtigen Weise neben den werdenden Menschen hinstellen, dann sind wir gute Erziehungskünstler. Ja, es darf sogar das Paradoxe behauptet werden: Es mag der Einzelne im Einzelnen machen, was er will – das wird jeder einrichten nach dem, was er gerade selbst als Erzieher im Leben gelernt hat –, mag der Einzelne die Dinge einrichten, wie er will, wenn er nur dasjenige mitbringt, was sich in sein Herz ablagert durch eine richtige Einsicht in die menschliche Natur, wird er auf die eine oder auf die andere Art das Richtige machen können.» Was jeden Tag zwischen der Pädagogin und dem Kind passiert, ist eine freie Kunst, ist Erziehungskunst. Was als Wissenschaft einfließt, muss erst durch das Gefühl umgeschmolzen werden. Dann ereignet sich kreativ etwas in der Begegnung zwischen Erwachsenem und Kind, das tief zu tun hat mit dem Wesen des Erziehenden und dem Wesen des Kindes.

Die pädagogische Konferenz ist eine Einrichtung, die beides zulässt: das Erkennen des Kindes und dass das Kind ein Geheimnis, etwas Unerkanntes bleibt. Die Erziehungswissenschaft wird dadurch erweitert, dass sie in dieser Form Erziehungskunst anregt. Das Lebenselement der Erziehungskunst ist Freiheit, Kreativität und das Nicht-alles-schon-vorher-Wissen.

Schwebe des Lebendigen

Heute steht diese Idee der Erziehungskunst in kräftigem Gegenwind. In Frankreich zum Beispiel ist Stanislas Dehaene Präsident des wissenschaftlichen Expertenteams im französischen Erziehungsministerium. Er sagt, was viele denken: «Erziehung ist eine Wissenschaft. Eine gute Lehrperson ist man, wenn man eine gute Vorstellung vom Funktionieren des kindlichen Gehirns hat. Die Lehrperson wird Lernprogramme entwickeln können, die die mentalen Anpassungsprozesse und die Geschwindigkeit des Lernens maximieren können.» Und in einer Radiosendung in France Culture sagte er, dass das Kind viel weniger Stimuli benötige als ein Erwachsener, um ein Wort zu lernen. «Sein Algorithmus arbeitet nachts bis zu dreimal so effizient wie in einem erwachsenen Gehirn.» Es sei also Aufgabe der Schule, dem Kind, diesem ‹Supercomputer›, «eine geeignete Umgebung und einen strukturierten Unterricht zu bieten». Es ist interessant, dass praktische Anregungen Steiners durch diese Forschung bestätigt werden, zum Beispiel die Bedeutung des frühen Fremdsprachenlernens und die Bedeutung des Schlafs für das Lernen. Dennoch sieht man deutlich, in welchem radikalen Gegensatz diese aktuelle Haltung eines Erziehungswissenschaftlers zu Steiner ist. Hier werden die Anpassung und Handlungsfähigkeit des Kindes in der bestehenden Kultur optimiert, als ob es ein Supercomputer sei. Erziehung ist keine direkte Umsetzung von Wissenschaft. Das hat die Beziehungsforschung immer wieder unterstrichen. Erziehung lebt von lebendiger, liebevoller Beziehung. Die Beziehung wird gefördert, wenn ich den anderen ein bisschen verstehe, aber auch, wenn ich ihn nicht verstehe, er ein Geheimnis ist, eine Überraschung sein kann. Wenn ich ihn verstehe und sein Verhalten voraussagen könnte wie das Funktionieren einer Maschine, ist es das Ende der Beziehung und damit das Ende des Erziehungsprozesses. Max Frisch fasste das sehr treffend zusammen: «Es ist bemerkenswert, dass wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er sei. Wir lieben ihn einfach. Eben darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, dass sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen.» Das ist das Wichtige für die Lehrperson, für die Erzieherin, den Erzieher, dass er, dass sie dem Kind folgen kann in allen seinen möglichen Entfaltungen. Und dann nur abschließend hier: «Unsere Meinung, dass wir das andere kennen, ist das Ende der Liebe.»

Philipp Reubke


Weltweit gibt es 1250 Waldorfschulen und 2000 Waldorfkindergärten. Südamerika: 64 Schulen, 81 Kindergärten. Nordamerika: 141 Schulen und 170 Kindergärten. Mittelamerika: 28 Schulen, 23 Kindergärten. Afrika: 22 Schulen, 27 Kindergärten. Asien: 74 Schulen, 177 Kindergärten. Europa: 775 Schulen und ungefähr 1300 Kindergärten.

Formen von Ella Lapointe, 2022 Web Ellapointe

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Footnotes

  1. Rudolf Steiner, Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft. Rudolf-Steiner-Verlag, Dornach 1988, S. 9 f.
  2. “É preciso ensinar a compreensão humana” – Edgar Morin, am 22.02.2022, 17.01 Uhr.
  3. Hannah Arendt, Entre o passado e o futuro. Perspectiva, São Paulo, 2009, S. 247.
  4. Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Kapitel 1–32. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2016, S. 132.
  5. UNESCO, Reimagining our futures together. A new social contract for education. Paris, Unesco 2021, S. 147 f.
  6. Martin Buber, Schriften zu Jugend, Erziehung und Bildung. Gütersloher Verlagshaus. Gütersloh 2005, S. 136. 
  7. UNESCO, a.a.O., S. 83.
  8. Rudolf Steiner, Pädagogischer Jugendkurs. Rudolf-Steiner-Verlag, Dornach 1988, GA 217, 6. Vortrag, S. 95.

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