Lateinamerika in Zeiten von Covid-19

Lateinamerika ist riesig. Das Territorium erstreckt sich von den Hochebenen der Anden bis zum tropischen Urwaldklima und zum windigen Patagonien. Es gibt viele unterschiedliche politische wie ökonomische Situationen, Megastädte neben spärlich bewohnten Landstrichen. Diese Zeilen geben nur punktuell wieder, was in Lateinamerika abläuft und wo sich Neues bildet.


Die Covid-19-Pandemie hat die lateinamerikanischen Länder hart und unvorbereitet getroffen. Die medizinischen Einrichtungen sind hier häufig längst nicht so gut bestückt wie in Europa, das öffentliche Gesundheitssystem lässt oft zu wünschen übrig. Die Ärzte haben meist eine gute Ausbildung, aber das Material und die medizinische Infrastruktur fehlen. Daher sind in einigen Ländern schon sehr schnell die Gesundheitssysteme kollabiert: Vor allem Ecuador, aber auch Venezuela und Brasilien haben in den größeren Städten schlimme Situationen durchlebt, mit sehr vielen Toten, die nicht einmal ein Spitalbett erreicht haben. Dagegen ist die Situation in abgelegenen Gegenden oft so, dass die Menschen sehr weit vom nächsten Krankenhaus entfernt leben und die Transporte mit Auto, aber auch mit Maultier oder Kanu viele Stunden dauern können. Zudem sind die Kommunikationsmöglichkeiten in diesen Gebieten oft eingeschränkt oder gleich null. Fast allen Ländern ist gemeinsam, dass der Lockdown ziemlich hart, lange (bis heute) und sehr erfolgreich durchgeführt wurde. Hier hat man Erfahrung mit Diktatur, Nachtsperrstunde und Polizeikontrollen. Somit wurden Maßnahmen von heute auf morgen eingeführt und hundertprozentig befolgt. Die Menschen haben solche Situationen noch sehr deutlich im Gedächtnis, und die Angst – wenn auch dieses Mal von einem unsichtbaren Virus ausgehend – ist sofort reflexartig wieder da. In ganz Lateinamerika war während der ersten Monate jeder bei sich zu Hause isoliert, voller Unsicherheit und Furcht.

Der Terrorismus war schlimmer

Nicht nur die Landes- oder Provinzgrenzen waren geschlossen, nein: In meiner Gegend zum Beispiel hat sich jede einzelne kleine Ortschaft regelrecht verbarrikadiert wie zu Pestzeiten! Alle Zugangsstraßen wurden über Nacht mit Erdwällen oder Baumstämmen zugebaggert. Mit einem Fahrzeug kam man wie bei einer mittelalterlichen Stadt nur noch am einzigen Eingang hinein, der von einer Polizeikontrolle bewacht wurde – und nur, sofern man eine Spezialbewilligung vorweisen konnte. Man durfte nicht zur Arbeit gehen, nicht zur Schule und zur Universität (Letzteres bis heute, ein volles Schuljahr!), nur eine Person pro Familie konnte schnell Esswaren einkaufen. Man stelle sich diese Situation vor: Sehr viele arme Menschen, vor allem Tagelöhner oder ambulante Verkäufer in den Städten, sahen sich zusätzlich zu eventuellen Corona-Fällen in ihrer Familie mit dem Problem konfrontiert, was man machen soll, wenn man nicht hinaus darf, um zu arbeiten, aber gleichzeitig kein Geld und nichts zu essen für die Kinder im Haus hat. Die meisten Regierungen haben natürlich versucht, die Bevölkerung mit kleinen Zahlungen, Essensausgaben und Ähnlichem über Wasser zu halten. Aber da unsere Länder nur über knappe Ressourcen verfügen, war und ist dies meist nicht ausreichend. Ecuador zum Beispiel hat als Land die Steuern drastisch erhöhen müssen, damit es die direkten Covid-19-Kosten auch nur annähernd bewältigen konnte. Aber das Leben geht trotzdem immer irgendwie weiter, so auch hier in Lateinamerika. Und die Politik ebenfalls. In Brasilien hat es ein Priester auf den Punkt gebracht: «Die sagen, ich solle nur von Gott reden hier auf der Kanzel und ja nicht die Politik ansprechen. Aber wenn wir 60 000 Tote [damals!] und keinen Gesundheitsminister haben, werde ich wohl nicht Halleluja singen!» Chile hatte schon vor Covid-19 eine sehr schwierige politische Situation. Nun gibt es in der Bevölkerung Grund für politischen Optimismus, da Chiles Verfassung von Grund auf erneuert wird, was sicher die nächsten zwei Jahre in Anspruch nehmen wird. Peru dagegen stand mittendrin auch vor einem politischen Debakel: ohne Präsident, mit der ganzen Unsicherheit, die entsteht, wenn das politische System sich wie in einem Dominoeffekt gegenseitig entmachtet. Argentinien steuert seit vielen Monaten einem erneuten Bankrott entgegen. Die Liste lässt sich erweitern.

Río de la Plata, Buenos Aires, September 2020. Foto: Juan F. Bottero

Was machen nun die Menschen in einem solchen Kontext? Das ist das Interessante: Obwohl die Corona-Zahlen ja gar nicht zu Optimismus Anlass geben, ist inzwischen überall wieder eine gewisse Lockerung eingetreten. Je nach Land in verschiedenem Ausmaß, aber immerhin: Die Menschen sind größtenteils wieder zur Tagesordnung und damit zur Selbsthilfe übergegangen, denn keine Ökonomie und auch kein Gemütszustand hält einen neunmonatigen Voll-Lockdown aus! Buenos Aires zum Beispiel war zu Beginn der Pandemie mit quasi null positiven Fällen total ausgestorben. Aber jetzt, in (vorläufigen?) Spitzenzeiten mit bis zu 18 000 neuen Fällen pro Tag ist dort schon wieder fast die übliche Menge Menschen unterwegs. Jedes der Länder hat viele Menschen verloren und verliert immer noch täglich mehr; aber wer Bürgerkrieg, Terrorismus und andere Arten von menschlicher Gewalt selbst als Grundgefühl erlebt hat, weiß um diese nochmals anders geartete und schlimmere Traurigkeit, durch solche Ereignisse einen geliebten Menschen zu verlieren. Covid-19 ist schlimm. Aber der Terrorismus als Lebensgefühl war schlimmer.

Not macht erfinderisch

Was Lateinamerika Europa vielleicht voraus hat, sind das erstaunliche Improvisations- und Innovationstalent sowie die große Resilienz der Menschen, jedenfalls auf dem Land. Hier hat es immer etwas zu essen gegeben, denn auch Nichtbauernfamilien besitzen oft einen kleinen Garten mit Gemüse und ein paar Hühner. Die Lebensmittelproduktion sowie der Konsum sind dementsprechend kaum eingebrochen – im Gegenteil. Sogar in unseren Ländern, wo ‹organisch› und vor allem ‹biodynamisch› Fremdwörter sind, hat sich ein Trend hin zu gesunder Ernährung und Phytomedizin breitgemacht, und Kleinbauern sind mit lokaler Produktion in die Bresche gesprungen. Da Wochenmärkte verboten waren, haben sie schnell neue Verteilstrategien entwickelt, meist Whatsapp-Bestellungen und einen Hauslieferdienst. Und da die Grenzen geschlossen waren und Exporte somit schwieriger geworden sind, ist in vielen Ländern ein neuer Binnen- und Lokalmarkt für organische und biodynamische Produkte entstanden. Bei allen befragten Menschen wurden weder die Produktion noch die Nachfrage, sondern lediglich der weniger gut funktionierende Transport als Problem für die Bauern beschrieben.

Ebenfalls haben sich viele Kleinunternehmen in der Not neu erfunden, haben neue Verarbeitungsmöglichkeiten ihrer Produkte für den lokalen Markt entdeckt und eingesehen, dass dies eine breiter aufgestellte Unternehmensstrategie ist als die völlige Ausrichtung auf einen einzelnen Exporteur. «Vorher verdiente ich mein Geld mit 10 Tonnen Primärprodukten im Export. Nun habe ich fast ein Jahr überlebt mit dem lokalen Einzelverkauf von nur 1,5 Tonnen. Von den Resten konnte ich einiges den Insassen unserer Gefängnisse schenken, denn Moringa-Blätter als Tee oder Pulver eingenommen, haben präventive und kurative Wirkung gegen Covid 19 und Dengue gezeigt. Es gibt einige Artikel darüber. Meine Landsleute verdienen auch ein Spitzenprodukt in diesen schwierigen Zeiten, nicht nur die reichen Länder.» (Moringa-Produzent, Luis Santa Cruz, Paraguay)

Ebenfalls recht unbekümmert wurden die neuen Kommunikationsmöglichkeiten sofort ausgeschöpft. Da die Schulen plötzlich online waren und viel Arbeit im Homeoffice stattfand, begannen auch die Menschen im biodynamischen und anthroposophischen Umkreis, sich auf diese Kommunikationsmittel zu besinnen. Die meisten Organisationen arbeiten jetzt intensiver zusammen als vorher. Die großen Distanzen erlaubten auch damals kaum ein physisches Zusammenkommen, aber virtuelle Sitzungen gab es trotzdem kaum. Nun schossen internationale Lese- und Studiergruppen sowie Arbeitsgruppen aus dem Quarantäneboden. Wir haben zudem einen monatlichen Austausch unter den Ländern. Dies kann natürlich persönliche Treffen nicht ersetzen, aber trotzdem ist es ungemein bereichernd und führt uns zusammen. Auch innerhalb der gesetzten Grenzen sind bei vielen Menschen neue Arten des Zusammenlebens bewusst aktiviert worden. So sagen manche: «Ich mache jetzt viel mehr mit meinen Kindern. – Wir nehmen Mahlzeiten zusammen ein. – Wir sind zwar als Dorf seit drei Wochen isoliert, aber wir haben es total gut zusammen und organisieren Aktivitäten und kleine Feste unter uns.»

Die lähmende Angst vor dem Virus ist bei den meisten Menschen inzwischen einem gewissen Respekt davor gewichen. Die große Unsicherheit – auch wegen der politischen und ökonomischen Situation – sowie das häufige Ausgeliefertsein an Naturkatastrophen wegen des Klimawandels bleiben bestehen. Gleichzeitig wächst auch wieder das Vertrauen in die Resilienz und die Fähigkeit der Menschen, mit diesen Veränderungen kreativ und innovativ umzugehen.


Der Artikel ist gekürzt dem Rundbrief 118 (Winter 2020/21) der Sektion für Landwirtschaft entnommen.

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