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Evolution ist Weltliteratur

Das anthroposophische Evolutionsbild erhält einen neuen Verständniszugang, wenn man die natürliche Evolution als Weltliteratur betrachtet. Ein Geburtstagsgruß an Jochen Bockemühl.


«Weltliteratur ist der Weg des Menschen zu sich selber», so Martin Bodmer (1899–1971), Begründer der Bibliotheca Bodmeriana in Cologny bei Genf, die seit 2015 zum Weltdokumentenerbe der unesco gehört. Am Ende seines Lebens, das er dem Sammeln von über 160 000 Dokumenten gewidmet hat, entsprang für Bodmer die ‹Weltliteratur› dem ‹Chorus mysticus›, jenem Chor also, den Goethe (1749–1832) am Ende von ‹Faust II› die Zeilen aussprechen lässt: «Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis … Das Unbeschreibliche, hier ist’s getan.»  – Weltliteratur ist der Chorgesang über die Beziehung von Vergänglichem und Ewigem, in der das Vergängliche Gleichnischarakter trägt und auf das Schaffen, das Tun des Unbeschreiblichen im Jenseitigen verweist.

Genial inszeniert

Wer die Bodmeriana besuchen will, der muss im eigens dafür – von Mario Botta – errichteten Bau unter die Erdoberfläche, gleichsam in die Vergangenheit hinabsteigen. Als erste Exponate der Weltliteratur finden sich im Eingangsbereich Fossilien, versteinerte Fische! Eine selten anmutige Sibyllen-Statue aus dem frühen 16. Jahrhundert gilt als Patronin der Ausstellung. «Diese Skulptur wird zum Symbol für die Bibliothek, die sich als eine Stätte der Meditation über das vom Menschen Geschriebene und von Gott Offenbarte versteht.» (1) Die meditative Haltung dieser Statue ist urbildlich: Anhand der Zeichen eines noch aufgeschlagenen Buches in ihren Händen gleitet ihr Blick nach innen, um dort – so scheint es – etwas wie eine Wesensschau zu erleben. Sie wendet sich dem Chorus mysticus zu.

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Anhand der Zeichen eines noch aufgeschlagenen Buches in ihren Händen gleitet ihr Blick nach innen, um dort – so scheint es – etwas wie eine Wesensschau zu erleben.

Weltliteratur – angesichts des Winkes mit den ‹eingänglichen› Fossilien: Evolution ist der Weg des Menschen zu sich selbst. Alle Dokumente dieses Weges sind Gleichnisse, Symbole für durchgemachte Passagen auf dem Weg zur Selbsterkenntnis des Weltengeistes im sich seiner selbst bewusst werdenden Menschen. Die menschlichen Kulturleistungen (und ihre überlieferten Dokumente) sind, so betrachtet, eine Fortsetzung der biologischen und planetarischen Evolution. Sie sind Ausdruck, Heraussetzungen des Weltengeistes, Fußstapfen seines Weges.

Dokumente des Weltinnenraumes

Doch diese Fußstapfen sind nicht die Sache selbst! Sie sind Bilder, die mystisch-mythischen Charakter tragen. Dazu mahnt die patenstehende Sibylle: Die Zeichen verweisen nicht auf sich oder auf eine sonstige (gegenständliche) Außenwelt, sondern auf einen ‹Weltinnenraum›, um mit Rilke (1875–1926) zu sprechen, in den der Blick angesichts der sinnlichen Dokumente hineingleitet.

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Durch alle Wesen reicht der eine Raum:

Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still

durch uns hindurch. O, der ich wachsen will,

ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.

— Vierte Strophe aus ‹Es winkt zu Fühlung›

Evolution ist also eine mystisch-mythische Erfahrung in unserem Innern bzw. in unserem Seelisch-Geistigen angesichts der Dokumente, der Fossilien, der lesbaren Maya-Bilder, die wie eine Chronik, wie ein ausgebreitetes Buch vor uns liegen.

Wichtig nochmals: Was davon, von der Evolution als sinnlich-gegenständlichem Dokument, überliefert wird, das trägt symbolischen, symptomatischen Wert, ist Bild von etwas und ist nicht selbst die Sache! Die Sache ist ein Übersinnliches, ein Welt-innenräumliches, ein kreativer Chorus mysticus, der Chor der Engelshierarchien, in dessen Schaffen, in dessen Auf- und Niedersteigen wir durch die von ihm ins Bild gesetzten Dokumente und Gleichnisse, mithin also durch seine ‹Geschichtsschreibung›, Einsicht gewinnen können. Der Weltengeist führt gewissermaßen Tagebuch, und was davon auf uns herüberkommt, sind die Fossilien der Weltliteratur. Jeder Epoche wird das ihr zugeeignete Kapitel der Weltliteratur vorgeführt, geoffenbart.

Folgenschwer

Das hat Konsequenzen für das, was wir gemeinhin als Evolutionsforschung betrachten. Durch ‹Fossilien›, durch sinnlich gewordene Exemplare der Weltliteratur, durch innerlich-äußerliche ‹Geschichtsschreibung›, durch Gleichnisse wird berichtet, wie und ‹wann› die Evolution des Weltinnenraumes, wie und wann der Weltengeist mit etwas beschäftigt ist bzw. war.

Angesichts dessen müssen wir die Dokumente der Evolution imaginativ, mystisch-mythisch und eben nicht gegenständlich vorstellend lesen lernen! Sinnlich erscheint immer nur das Jetzt – und dies immer nur durch einen Menschen hindurch. Es gibt keine «sinnliche Dingwirklichkeit an sich». (2) Alles Vergangene ist bereits wieder entsinnlicht. Alles, was sich als Prozess, als Entwicklung, als kreatives Überliefern und Weiterbilden abspielt, das ist nichtsinnlicher Natur! Auch wenn wir nachts nicht hinschauen: Am nächsten Tag zeigen sich die Pflanzen gewachsen. Pflanzen wachsen über Nacht. Dann, wenn wir nicht hinschauen, geht der innere Weltenprozess weiter.

Die Aufgabe einer rückblickenden Evolutionsforschung kann also nicht die Rekonstruktion einer äußeren Gegenstand-an-sich-Wirklichkeit sein – diese gab und gibt es nicht. Eine Vorstellung von einer Gegenstand-Erde, die ohne den Menschen da war und dann von den Menschen gleich einem leer stehenden Haus besetzt wurde, ist unangebracht.

Aufgabe einer rückblickenden Evolutionsforschung ist es, sich aufgrund der überlieferten Dokumente ein inneres Bild von den seelisch-geistigen Etappen der Entwicklung des «Weltinnenraumes» zu machen. Dem folgend sind nicht ‹Gegenstände› zu beschreiben, sondern innere Erlebnisse, die sich durch sinnliche Darstellungen ausdrücken und überliefern.

Zurück zum Ursprung

Wie aber wird ein Blick in die aktuelle, sinnliche Erscheinungswelt zur Geschichte ihrer Genese, ihres Werdens, zur Erzählung über die durchschrittenen seelisch-geistigen Etappen? Wie komme ich anhand der Jetztwirklichkeit des Sinnlichen in das Zeitliche der Innenwelt hinein? Gibt es dafür Lesehilfen?

Dafür lohnt es zu bedenken, was Zeit ist. «Zeit ist ja nicht ein Gefäß, in dem die Veränderungen sich abspielen; sie ist nicht vor den Dingen und außerhalb derselben da. Die Zeit ist der sinnenfällige Ausdruck für den Umstand, dass die Tatsachen ihrem Inhalte nach voneinander in einer Folge abhängig sind», schreibt Rudolf Steiner (1861–1925) in den ‹Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften›. ‹Zeit› ist das inhaltliche Aufeinander-bezogen-Sein und eine sich daraus ergebende Folge von Erscheinungen. Was im intuitiv-inspirativen Vorgriff auf den noch vorstellungsfrei webenden Gedanken, den man fassen will, ursprünglich noch alles ineinandersteckt und verknotet, zu dicht gesammelt ist, wird im wortgebundenen Denkvollzug in eine Folge von inhaltlich aufeinander bezogenen Gedankenetappen umgesetzt. Gelingt es, die Folge sinnvoll aufzubauen, dann ist der niedergeschriebene Gedanke auch für andere les- und verstehbar. Derjenige, der versteht, geht entlang der Vorgaben eigenständig bis zum Ursprung des Gedankens zurück, um dann dort selbst eine Intuition zu erfahren. «Der Erkenntnisweg ist ein Rückweg, ein Zusammenschließen des Menschen mit dem Urquell des Daseins» (3), so Rudolf Steiner. Mit dem rückwärts-gehenden Nachvollzug einer inhaltlichen Folge steigen wir seelisch-geistig aufwärts bis zum Ursprungsquell.

Die Stufenleiter der Elemente

Eine solche inhaltliche Folge bilden die vier Elemente. Im Aufstieg vom Festen über das Flüssige, Luftige bis hin zur Wärme gehen wir zu einem schöpferischen Urquell zurück. ‹Wärme› ist höchste Aktivität, vollkommener Ursprung: «Wärme ist Bewegung – sie ist Bewegung, aber intensiv zu denkende Bewegung, Bewegung, bei der in jedem Raumteil, wo Wärme ist, das Bestreben besteht, materielles Dasein zu erzeugen und materielles Dasein wieder verschwinden zu lassen.» (4) Wärme ist ein kreativer, rein geistiger Zustand, der stets in sich die Tendenz hat, etwas aus sich heraussetzen zu wollen, etwas in ein ‹materielles› Dasein zu bringen und es auch wieder aufzulösen.

Das Feste hingegen ist der Endpunkt der Wärmeabnahme: Die Erstarrung, das Geronnensein, das Ende der Wege Gottes, um mit Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782) zu sprechen. Es ist das Ende jeglicher Aktivität und kann damit nimmermehr der Beginn einer Evolution sein, sondern allenfalls das Ende!

Evolution ist einerseits der absteigende Weg vom Geistigen (Wärmehaften) zum Festen, Kalten, Materiellen. Umgekehrt gilt aber auch: Eine zunehmende Erwärmung des Festen führt zum Flüssigen und weiter zum Luftigen und schließlich zum Feuer (Wärme und Licht).

Die vier Elemente stellen eine inhaltliche Folge dar, anhand derer wir – aktuell – durch Etappen des evolutiven Werdens hindurchschreiten können. Rudolf Steiner empfiehlt daher: «Lernt man erst durch Naturwissenschaft die Eigentümlichkeiten von Luft, Wasser, Erde kennen und erlangt man die inneren Fähigkeiten, dann strömt heraus, indem man schaut in das Luftige, in das Wässrige, indem man schaut in das Erdige, es strömt heraus das Astrallicht. Aber es strömt nicht heraus wie ein unbestimmter Nebel, es strömt so heraus, dass man die Geheimnisse des Weltendaseins und des Menschenlebens drinnen lesen kann.» (5)

Aktualismus

Jochen Bockemühl, der vormalige Leiter der Naturwissenschaftlichen Sektion am Goetheanum, wird am 18. November 2018 90 Jahre alt. Vor nun 20 Jahren publizierte er den Aufsatz ‹Der Aktualismus und die Entwicklung der Fähigkeit zum Lesen im Astrallicht›6, in dem an verschiedenen Beispielen ein solcher Aktualismus anschaulich beschrieben wird. An diesen bahnbrechenden Aufsatz sei mit dem vorliegenden Essay – der dem Jubilar dankend gewidmet ist – nachdrücklich erinnert.


Bild: Sibyllen-Statue aus dem frühen 16. Jahrhundert

(1) Aus: Martin Bircher, Fondation Bodmer, Bibliothek und Museum, Cologny 2003.
(2) Rudolf Steiner, Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften, GA 1, Kap. XVI Goethe als Denker und Forscher, 2. Das Urphänomen.
(3) Rudolf Steiner, Das Christentum als mystische Tatsache (Vorträge), GA 87, Vortrag vom 24. Januar 1902; in Vorbereitung.
(4) Rudolf Steiner, Geisteswissenschaftliche Impulse zur Entwicklung der Physik – Kurs 2, Vortrag vom 11. März 1923, GA 321.
(5) Rudolf Steiner, Vortrag vom 13. Januar 1924, GA 233a.
(6) In: Cornelis Bockemühl (Hrsg.), Erdentwicklung aktuell erfahren. Stuttgart 1999.

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