Jetzt wirklich von der himmlischen Zeit abge­koppelt

Im November 2023 entschieden die Delegierten auf der Generalkonferenz für Maß und Gewicht (cgpm) zukünftig auf Schaltsekunden zu verzichten.1 Dies ist wahrscheinlich der letzte Akt der Entkopplung unserer Zeit vom Lauf der Sonne und der Sterne.


Wozu sind Schaltzeiten überhaupt da? Wo es sie im Osten und im Westen gibt, stellen sie einen Versuch dar, das kulturelle Kosmische – unsere Feste – mit dem Rhythmus von Tag und Nacht zu versöhnen. Sie sind inkommensurabel: sie haben kein gemeinsames Maß, das heißt, es passt nicht eine ganze Zahl von Tagen in das Jahr hinein. Und in vielen, aber nicht allen Kulturen, sind die Feste an die Jahreszeiten, an das Jahr, an die Sonne gebunden. Um das Auseinanderdriften zu verhindern, wurde das erste Schaltjahr in der abendländischen Geschichte eingeführt: Unter Julius Cäsar kam 46 v. Chr. das ‹Jahr der Verwirrung›  – mit 445 Tagen das längste Jahr in der abendländischen Geschichte – vor dem ersten Jahr mit einem Schaltjahr. Nach diesem Jahr war das Jahr 1972 (ein Schaltjahr mit einer Schaltsekunde dazu) wegen der Schaltsekunde das nächste ‹längste› Jahr der Zeitrechnung.

Astrozeit und Atomzeit

Die Geschichte der Schaltsekunde begann um 1930, als Adolf Scheibe und Udo Adelsberger an der PTB (damals Physikalisch-Technische-Reichsanstalt, nun -Bundesanstalt) in Braunschweig neue Uhren entwickelten. Zu ihrer Überraschung fanden sie, dass beim Messen der Tageslänge ihre Uhren rhythmische jahreszeitliche, sogar chaotische Züge aufwiesen. Es dauerte eine Zeit, ehe sie sich überzeugen konnten, dass es nicht an ihren Uhren lag. Die Uhren waren genau. Es war die Erde, die Rhythmus und Chaos im Drehen aufwies. Die Erdrotation, der Derwischtanz der Erde, ist lebendig.2

Daher entschlossen sich 1967 in Paris die Teilnehmer der 13. Konferenz über Maße und Gewichte, die Erdbewegung als Maß der Zeit – als Definition der Sekunde – abzuschaffen. Von da an schauten die Zeithüter – zurzeit gut 200 Wissenschaftler rund um die Welt – nicht mehr zum Himmel empor in die ‹Universal Zeit› (UT), sondern auf die Strahlung des Metalls Cäsium, um eine Atomzeit, die ‹Temps Atomique International› (TAI), zu erzeugen. Dies schlug sich nieder in der Einführung von Schaltsekunden, erstmals 1972. Seitdem werden die beiden Zeiten hin und wieder – wenn die Differenz zwischen Atom- und Astrozeit die Schmerzgrenze von 0,9 Sekunden erreicht – durch das Einfügen von Schaltsekunden synchronisiert, das heißt, die Atomuhren werden kurz angehalten, damit die astronomischen Uhren nachziehen können. So entstand die UTC, die koordinierte Weltzeit, die wir heute verwenden. 27 Schaltsekunden gab es bisher. Das ist vorbei.

Die Schaltsekunde ist vielen ein Dorn im Auge gewesen. Als die neuen globalen Navigationssysteme mit ihren kreisenden Satelliten entwickelt wurden3, wurde die Einhaltung der Zeit mit einer Genauigkeit von unter einer Nanosekunde (weniger als eine Milliardstel Sekunde) für den gesamten Land-, See- und Luftverkehr unerlässlich. Ohne diese Genauigkeit würde die weltweite satellitengesteuerte Navigation zusammenbrechen. Auch für viele wissenschaftliche Experimente, für Finanztransaktionen, für astronomische Aufnahmen und für die Optimierung von Computernetzen ist eine von den Launen der Erdbewegung befreite Atomzeit eine weitaus bessere Wahl als eine Zeit, die mit einer unberechenbaren Schaltsekunde agieren muss. Kein Wunder, dass die Schaltsekunde von Anfang an von Hightech abgelehnt wurde. Jede zusätzliche Schaltsekunde birgt das Risiko der Verwirrung. Meta, Google, Microsoft und Amazon gehören zu den Technologieunternehmen, die sich am nachdrücklichsten für die Abschaffung der Schaltsekunden einsetzten.

Auch wenn das Verschwinden der Schaltsekunde nicht bemerkt wird, so fehlen die Momente, in denen wir unseren Blick von der Erde auf den Himmel wechseln.

Ihre Überzeugungsarbeit hat funktioniert, sodass bis vor Kurzem nur drei Verfechter der Schaltsekunde übrig blieben: die Briten mit ihrer traditionellen Liebe für GMT, der Vatikan mit seiner Achtung vor dem Himmel und Russland, das nie Probleme mit der Schaltsekunde hatte. Bei dem ‹diplomatischen Drama› vom 18. November 2023 wurde beschlossen, die Praxis der Hinzufügung von Schaltsekunden ab dem Jahr 2035 auszusetzen. Außerdem darf die Differenz zwischen UTC und TA 0,9 Sekunden überschreiten. Damit die ‹Resolution D› auf die Tagesordnung gesetzt werden konnte, waren also mehr als zwei Jahrzehnte an Studien, Verhandlungen und Kompromissen nötig, um das Problem zu lösen. Tatsächlich zog Großbritannien seinen Widerstand frühzeitig zurück. Der Vatikan stimmte im Gegenzug dafür zu, dass Worte wie ‹Abschaffung› oder ‹Unterdrückung› der Schaltsekunde vermieden werden, um den Gläubigen zu vermitteln, dass es sich um eine vorübergehende Lösung handelte. Das russische GLONASS-System basierte von Anfang an auf der Schaltsekunde, und die Russen erzwangen eine Frist von gut zehn Jahren für Änderungen, wodurch die Entscheidung so lange hinausgeschoben wurde.

In den nächsten 100 Jahren wird es daher keine Schaltsekunden geben. Bemerken werden wir diese Abschaffung nicht. Rund eine Minute wird in diesen 100 Jahren die Differenz zwischen der astronomischen Zeit und der UTC voraussichtlich betragen und das wird neue Herausforderungen schaffen, deren Lösungen bisher noch nicht bekannt sind. Momentan ist im Gespräch, dann eine Schaltminute einzuführen, eventuell auf zwei Minuten ‹verschmiert›.

Auch wenn das Verschwinden der Schaltsekunde nicht bemerkt wird, so fehlen doch diese Momente, in denen wir (metaphorisch gesprochen) unseren Blick von der Erde auf den Himmel wechseln, um unsere gemeine Zeit so neu zu kalibrieren. In diesem Sinne hat unsere Zeit die Talsohle erreicht.


Foto Greg Rakozy, Unsplash

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Footnotes

  1. E. Gibney, The leap second’s time is up: world votes to stop pausing clocks. Nature 612, 2022.
  2. Das Chaos scheint in der Strömung der Luft und des Wassers als auch des Erdinneren selber zu liegen. Magnetische Stürme, Erdbeben, die fallenden Herbstblätter und Stauseebau werden auch als Ursache der chaotischen Züge der Erddrehung genannt.
  3. 44 Chinesische Beidou-Satelliten, 31 US-amerikanische GPS-Satelliten, jeweils 24 europäische GALILEO- und russische GLONAS-Satelliten.

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