Die Frage nach dem Impfen wird leidenschaftlich geführt. Warum eigentlich? Und warum müssen wir heute früher impfen? Georg Soldner im Gespräch mit Wolfgang Held.
Wolfgang Held Warum wird über das Impfen so heftig gestritten?
Georg Soldner Das Thema Impfen polarisiert, solange es Impfung gibt. Schon 1860 gab es Statements von Impfbefürwortern und -gegnern, die im Kern ganz ähnlich lauteten wie heute. Damals wie heute neigen beide Seiten dazu, Fakten, die der eigenen Sicht widersprechen, zu unterdrücken. Das ist uns auch aufgefallen, als wir seitens der Medizinischen Sektion und der IVAA (Internationale Vereinigung anthroposophischer Ärztegesellschaften) eine weltweite Stellungnahme verfasst haben. Auch innerhalb der anthroposophischen Bewegung waren die Reaktionen polar. Es gab Kollegen, die das sehr begrüßt haben, und andere, die befürchten, das sei der Ausverkauf der Anthroposophie.
In GA 314 ist nachzulesen, wie sich Rudolf Steiner in einer konkreten Situation zum Impfen geäußert hat: «Da muss man eben impfen. Es bleibt nichts anderes übrig. Denn das fanatische Sichstellen gegen diese Dinge ist dasjenige, was ich, nicht aus medizinischen, aber aus allgemein anthroposophischen Gründen, ganz und gar nicht empfehlen würde. Die fanatische Stellungnahme gegen diese Dinge ist nicht das, was wir anstreben, sondern wir wollen durch Einsicht die Dinge im Großen anders machen. Ich habe das immer, wenn ich mit Ärzten befreundet war, als etwas zu Bekämpfendes angesehen, zum Beispiel bei dr. Asch, der absolut nicht geimpft hat. Ich habe das immer bekämpft. Denn wenn er nicht impft, so impft eben ein anderer. Es ist ein völliges Unding, so im Einzelnen fanatisch vorzugehen.»
Natürlich hat Steiner auch anderes zum Impfen gesagt und zur Bedeutung akuter Infektionskrankheiten für die Entwicklung des Menschen wie auch für dessen Schicksal.
Was macht das Impfthema so kontrovers – der Sieg gegen die Pocken ist doch ein eindrucksvolles Vorbild?
Eine Impfung wird für ganze Gruppen der Bevölkerung entwickelt, betrifft uns also als Gemeinschaft. Gleichzeitig greift sie doch in den einzelnen Organismus ein und das weckt Unbehagen. ‹Die› Impfung in den letzten 200 Jahren war die Pockenimpfung. Pocken haben Merkmale, die sie mit keiner der anderen Infektionskrankheiten teilen, mit denen wir es jetzt zu tun haben. Wer von Pocken infiziert ist, entwickelt zu 100 Prozent die Krankheit. Es gibt keine Angesteckten, die nur leichte Symptome entwickeln. Bei der Kinderlähmung entwickelt nur einer von tausend eine Lähmung. Die anderen 999 zeigen nur leichtere Symptome, sind aber auch ansteckend. Pocken, die zu 30 Prozent tödlich verlaufen, treten immer voll in Erscheinung. Dadurch kann ich keinen Infizierten übersehen. Diese Krankheit ist auch so gefährlich, dass es einleuchtet, die ganze Bevölkerung zu impfen, weil die Sterblichkeit so hoch ist. Während die Sterblichkeit bei den Pocken etwa 30 Prozent beträgt, liegt sie bei den Masern in Deutschland bei 0,1 Prozent. Deshalb kann ich in Deutschland eine Masernimpfung nicht mit der gleichen Begründung verpflichtend vorschreiben wie eine Pockenimpfung. Es liegt eine völlig andere Größenordnung von Gefährdung vor. Es ist aber auch bei den Masern so, wie wir inzwischen wissen, dass es leichte Fälle gibt, Fälle, die man lange nicht als Masern erkennt. Deshalb können sich die Masern auch bei hoher Durchimpfung der Bevölkerung halten. Während es bei den Pocken durch diese einzigartige Kombination von Merkmalen möglich war, sie auszurotten. Das ist bei keiner anderen Infektionskrankheit so möglich, gegen die wir aktuell impfen können. Selbst die Kinderlähmung ist übrigens nicht ausgerottet. Das Virus der Schluckimpfung kann sich in seine ursprüngliche Aggressivität zurückverwandeln. Wir werden noch über Jahrzehnte gegen Kinderlähmung impfen, weil immer noch gefährliche Kinderlähmungsviren wiederauftauchen, zum Teil aus der lange Zeit auch bei uns verwendeten Schluckimpfung. Aber da sind wir einer Elimination sehr nahegekommen. In Europa treten kaum noch Fälle auf. Wenn wir allerdings jetzt weltweit bei Kinderlähmung mit dem Impfen aufhören würden, würde sie wahrscheinlich zurückkommen.
Bei Masern haben wir in Europa doppelt bis dreimal so viele Fälle wie vor zehn Jahren. Da zeigt sich, dass jede Krankheit anders ist. Eine Ausrottung der Masern ist in weiter Ferne. Man kann höchstens hoffen, dass durch eine breite Impfung der Bevölkerung und sorgfältige Sorge bis ins Erwachsenenalter, wo die Impfimmunität auch schwinden kann, Ausbrüche von Masern auf wenige Menschen beschränkt bleiben. Das nennen wir Eliminierung. Das ist das Ziel. Aber man kann Masern vorerst überhaupt nicht ausrotten, nach allem, was wir wissen. Das wird zwar behauptet, ist aber falsch.
Dabei scheint auch ein Impfzwang nichts zu nützen – oder?
Es gibt zu der Frage der Impfpflicht wissenschaftliche Untersuchungen, die zeigen, dass jede Impfpflicht Widerstand weckt. In Ländern wie Deutschland und der Schweiz wird eine Impfpflicht nicht so umgesetzt, dass ein Kind mit der Polizei abgeholt und zwangsgeimpft wird. Da geschieht nicht mehr als ein Bußgeld. Die Impfrate steigt vielmehr durch Aufklärung der Bevölkerung. Das ist auch in Deutschland bei der ersten Masernimpfung der Fall, die mehr Kinder bei Eintritt ins Schulalter haben als eine Reihe von Nachbarländern mit Impfpflicht. Wir haben immer vertreten, dass Impfentscheidungen freiwillige, aufgeklärte Entscheidungen der Eltern oder Patienten sein sollen, wo immer das möglich ist. Ich habe gestern mit einer indischen Kollegin gesprochen. In ihrem Land gibt es Gegenden mit hoher Kindersterblichkeit, wo immer noch viele Eltern nicht lesen können, nicht aufnehmen können, was eine freie Impfentscheidung bedeutet. In solchen Gegenden mit hoher Kindersterblichkeit und niedriger Bildung der Eltern, Bildung in unserem Sinn, ist es nicht so einfach, eine informierte Impfentscheidung der Eltern zu propagieren. Insofern ist es in manchen Ländern mit großer Armut und Kindersterblichkeit verständlich, dass ein Land über eine Impfpflicht nachdenkt. Gerade Masern sind in solchen Regionen eine sehr hohe Ursache für Kindersterblichkeit. Aber in Ländern wie Deutschland, den usa oder Australien ist die Situation anders. Da geht es um Erkrankungen mit niedriger oder auch fehlender Sterblichkeit wie bei Mumps. Hier bestehen wir darauf, dass die Eltern oder Patienten selbst entscheiden sollen, was sie wann impfen wollen.
Was hat sich nun in den letzten Jahren verändert?
Was sich verändert hat, ist der Blickwinkel zur Masernimpfung. Die Masernimpfung hat in den letzten zehn Jahren zeigen können, dass sie bei den Geimpften auch immunologische Reifungsprozesse auslöst. Nicht so stark wie die Masern selbst, dafür aber ungefährlicher, und immerhin doch so weit, dass in Ländern mit hoher Kindersterblichkeit die Masernimpfung die Sterblichkeit stärker senkt als nur durch den Schutz gegen Masern. Auch jenseits der Masern sterben dort geimpfte Kinder seltener an Lungenentzündung und Durchfall als Ungeimpfte. Diese Befunde haben gezeigt, dass die Masernimpfung die immunologische Entwicklung der Kinder fördern kann. Für sogenannte «Totimpfstoffe» wie die frühe Impfung gegen Diphterie und Tetanus gilt das Gegenteil, sie beeinflussen die Reifung des Immunsystems im Säuglingsalter negativ und können eventuell sogar die Kindersterblichkeit in armen Ländern erhöhen.
Auf der anderen Seite bewirkt die Masernimpfung heute, dass bei uns bestimmte Bevölkerungsgruppen stärker gefährdet sind, die früher noch geschützt waren. Das sind zum einen die Säuglinge. Eine maserngeimpfte Mutter schützt ihren Säugling durch die Muttermilch nicht so wie eine Mutter, die selbst die Masern durchgemacht hat. Die kann ihrem Säugling einen relativ starken Nestschutz verleihen. Die maserngeimpfte Mutter tut das nicht. Dadurch werden Säuglinge anfällig für Masern. Im Säuglingsalter können die Masern eine schreckliche Krankheit hinterlassen, die erst sieben bis zehn Jahre später zum Ausbruch kommt und zu einem geistigen Verfall des Kindes und zum sicheren Tod führt.
Der gerühmte Herdenschutz dreht sich hier um?
Mit dem Herdenschutz ist ja gemeint, dass wir Geimpfte das Infektionsrisiko für die senken, die wegen schwachen Immunsystems oder zu jungen Alters nicht geimpft werden können. Tatsächlich gilt aber auch das Umgekehrte: Das Durchschnittsalter der wenigen Masernfälle, die wir heute noch in Deutschland haben, ist inzwischen 20 Jahre, und in der Schweiz ist es ähnlich. Der letzte Todesfall in Deutschland betraf einen 40-jährigen. Die Situation ist also, dass Erwachsene, die nach 1970 geboren sind und in ihrer Kindheit keine Masern mehr durchgemacht haben und zum Teil nur einmal geimpft worden sind, keinen ausreichenden Masernschutz zeigen. Auch Erwachsene, die als Kind zweimal geimpft wurden, können sogenannte Impfversager sein. Die Masernimpfung schützt nicht jeden. Mindestens ein Prozent der zweimal Geimpften weist keinen ausreichenden Impfschutz auf. Wenn man bereits im Alter von neun Monaten gegen Masern impft, steigt dieser Prozentsatz bis auf das Vierfache. Wenn ich sehr früh impfe, bleiben mehr Kinder unempfänglich gegen den Impfstoff. Wenn das einmal so gewesen ist, ist es nicht leicht, das später zu korrigieren. Die zweite Masernimpfung ist keine Auffrischimpfung, sondern soll Lücken schließen für Menschen, die beim ersten Mal nicht angesprochen haben. Aber auch sie erreicht nicht alle, vor allem nicht die sehr früh Geimpften. Wir sprechen hier von Impfversagern. Diese können dann auch als Erwachsene erkranken, für die Masern viel gefährlicher sind als im Kleinkindalter. Wenn man erst mal in dieser Lage ist, entsteht also der Sachzwang, dass man so breit zu impfen versucht, damit die Zahl derer, die trotz Impfung nicht geschützt sind oder die man nicht impfen kann, weil sie eine Störung des Immunsystems haben, unter fünf Prozent bleibt und dadurch Ausbrüche isoliert bleiben und sich nicht ausbreiten können.
Wir wissen übrigens heute noch nicht, ob diese Impfimmunität, die wir an die Stelle der natürlichen Immunität gesetzt haben, wirklich ein Leben lang hält, weil man kaum mehr einem natürlichen Masernvirus begegnet. Die Begegnung mit dem natürlichen Masernvirus verstärkt meine Immunität. Die haben wir in unseren Ländern aber weitgehend unterbunden. Bei aller Ungewissheit über die langfristigen Konsequenzen schafft diese Entwicklung einen gewissen Zwang, bei der Masernimpfung mitzumachen, weil eben jetzt vermehrt Erwachsene oder Säuglinge erkranken können, mit jeweils hoher Gefährdung. Im neuen Merkblatt der deutschen anthroposophischen Ärztegesellschaft gaäd zu Masern, das ich maßgeblich mitgestaltet habe, empfehlen wir eine Impfung, die etwas später erfolgt, als sie allgemein in Deutschland und der Schweiz empfohlen wird. Wissenschaftliche Arbeiten zeigen, dass eine Impfung ab dem 15. Monat zu einem wesentlich zuverlässigeren Langzeitschutz führt, als vorher zu impfen. Eine Impfung mit 9 Monaten hinterlässt wesentlich mehr Impflücken als eine Impfung mit 15 Monaten.
Warum finden solche Studien nicht Eingang in die Impfpraxis?
Wie eingangs gesagt, gerade der Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen in der täglichen Impfpraxis ist nicht nur rational geprägt. Eine gesellschaftliche Entwicklung spielt eine Rolle: Das ist die Kindertagesstätte. Die Impfung mit neun Monaten wird in Deutschland nur empfohlen für Kinder, die früh in eine Kindertagesstätte kommen. Wir haben inzwischen ja auch kleine Säuglinge in den Tagesstätten. In der DDR war es früher üblich, dass Kinder schon zwischen drei bis sechs Monaten in eine Tagesstätte kamen. Das ist heute allmählich wieder so und führt zu einer erhöhten Gefährdung von Säuglingen durch Ansteckung. Diese Betreuung in Gemeinschaftseinrichtungen hat die Vorverlegung des Impfzeitpunktes gefördert, entgegen dem, was aus medizinischer Sicht als der optimale Impfzeitpunkt angesehen wird hinsichtlich des Langzeitschutzes.
In den kommenden Jahrzehnten wird es ein immer größeres Problem werden, dass einzelne Erwachsene keinen zuverlässigen Schutz haben. Die Masern werden in den nächsten Jahrzehnten nicht verschwunden sein. Wenn ein Erwachsener ohne Schutz in ein Land reist, zum Beispiel im Rahmen von Entwicklungshilfeprojekten, wo es noch Masern gibt, kann er sich anstecken, schwer erkranken, auch andere wieder anstecken. Das sind die Risiken. Deshalb ist es für uns anthroposophische Ärzte besonders prioritär, und da sind wir auch Pioniere, sehr sorgfältig auf die Immunität junger Erwachsener zu achten. Wenn Jugendliche meine Praxis verlassen, überprüfe ich, dass eine Masernimmunität gegeben ist. Das kann man am besten mit einem Bluttest rausfinden und Impfversager erkennen. Zweimal geimpft, heißt nicht immer, immun zu sein. Wir haben in der Berliner Epidemie 2015 gesehen, dass doch einige der Erkrankten zweimal geimpft waren. Sie haben dann manchmal andere Verläufe, die weniger typisch sind und nicht gleich erkannt werden, während sie andere anstecken. Also durch die Impfungen haben wir neue Probleme. Es ist nicht so, dass man durch irgendeine Impfung die ewige Gesundheit herbeispritzen kann. Das wird ja manchmal suggeriert.
Rudolf Steiner dreht ja den Gedanken um mit der Beschreibung, dass es die Krankheit selbst sei, die irgendwann den Impfstoff freigebe, weil sie womöglich ihre Aufgabe erfüllt habe.
Rudolf Steiner charakterisiert einen Sachverhalt oft aus verschiedenen Perspektiven. Ein berühmtes Beispiel, wie man etwas aus verschiedenen Perspektiven sehen kann, ist das Verschwinden der Kinderlähmung. Impfbefürworter können ins Feld führen, dass mit Einführung der Kinderlähmungsimpfung die Erkrankungszahl drastisch zurückgegangen ist. Wer das leugnet, stellt sich gegen die Fakten. Und doch kennen wir auch die Tatsache, dass sich viele Erkrankungen zurückgezogen haben, bevor die medizinische Maßnahme greifen konnte. Auch die Kinderlähmung ist durch eine verbesserte Lebenshygiene und das Überwinden dieser Elendszeit nach dem Zweiten Weltkrieg sicherlich schon auf dem Rückzug gewesen. Besonders deutlich wird das bei der Tuberkulose, die bei uns weitestgehend verschwunden ist, unabhängig von medizinischen Behandlungsmöglichkeiten. Das Verschwinden der Tuberkulose liegt vielmehr daran, dass Menschen begonnen haben, sich in Badekleidung dem Sonnenlicht auszusetzen, dieses aufzunehmen und damit dem Erreger entgegenzuwirken. Rudolf Steiner hat selbst ausdrücklich auf diese Bedeutung des Sonnenlichts hingewiesen. Eine verbesserte Ernährung und Lichtversorgung entzieht der Tuberkulose den Boden, während zum Beispiel eine zu weit gehende Verschleierung muslimischer Frauen zu einem deutlichen Anstieg der Tuberkulosehäufigkeit führen kann. Wir können schon sehen, dass das Auftreten einer Erkrankung auch eigenen Gesetzen folgt, die nicht eins zu eins mit unseren Maßnahmen zusammenhängen. Das ist derzeit z. B. beim Scharlach der Fall, dessen Aggressivität deutlich nachgelassen hat.
Ein Gesichtspunkt, den ich selbst schon seit zwanzig Jahren vertrete, beruht auf einer langen Beobachtung. Ich beobachte, dass die eingreifende, auch schicksalsmäßig im Ergreifen des eigenen Leibes eingreifende fieberhafte Erkrankung im Kindesalter nicht unbedingt die Masern sein müssen, sondern es kann auch eine Lungenentzündung sein. Und über die Hälfte aller kindlichen Lungenentzündungen sind durch Viren bedingt. Jetzt können wir interessanterweise mit kinderärztlichen Kollegen Gemeinschaftsprojekte entwickeln, auch in Deutschland, mit Fieber anders umzugehen: Fieber nicht mehr medikamentös zu unterdrücken und nicht bei jedem fieberhaften Infekt Antibiotika zu geben. Mein Kollege Professor David Martin in Witten/Herdecke hat 2 Millionen Euro Forschungsmittel vom Staat bekommen, um eine App für Eltern zu entwickeln und auszuwerten, die Eltern helfen soll, ihre Angst zu überwinden, wenn ihr Kind fiebert, und klare Anweisungen gibt, wie sie das Kind angemessen pflegen können. Wie sie, in allgemein verständlichen Worten, diesem akuten Eingreifen des kindlichen Wesens in den Leib im Rahmen des Fiebers helfen können.
Dieser Aspekt ist ja auch der, den Rudolf Steiner gemeint hat. Es geht nicht darum, die Krankheit Masern zu erhalten, sondern es muss darum gehen, einem Kind in den ersten Lebensjahren im Rahmen fieberhafter Infekte zu ermöglichen, seinen Leib zu ergreifen, seinen Leib zu individualisieren. Das durch fieberhafte Erkrankungen zu überwinden, was auch an Krankheitsdispositionen von Eltern ererbt wird, zum Beispiel eine Allergieneigung. Wir konnten innerhalb der Anthroposophischen Medizin nachweisen, dass akute fieberhafte Erkrankungen, wenn sie nicht unterdrückt werden, dazu beitragen, dass zum Beispiel weniger Allergien auftreten.
Das gilt zwar auch für Masern, aber ich muss nicht die Masern kultivieren, sondern es treten genügend andere fieberhafte Infektionen im Kindesalter auf. Wenn alle Kinder- und Allgemeinärzte eine andere Haltung zu akut fieberhaften Erkrankungen einnehmen, haben wir vielleicht viel mehr für das Kindeswohl und die kindliche Entwicklung getan, als wenn wir als kleine Schar anthroposophischer Ärzte bei der jetzt sehr selten auftretenden Erkrankung Masern einen Kampf darum führen, die Masern zu erhalten.
Welchen positiven Effekt kann die jetzige Diskussion haben?
Zunächst begrüße ich, dass wir innerhalb der anthroposophischen Bewegung einen Klärungsprozess herbeiführen, wenn wir auf die Entwicklung der Zivilgesellschaft einwirken wollen. Zum Beispiel hat die Mehrzahl der Eltern in Deutschland Angst vor Masern und will nicht, dass die Krankheit noch weiter auftreten kann. Wir beeinflussen aber wiederum das Denken dieser jungen Eltern zum Beispiel in Bezug auf das akute Fieber. David Martin hat die Unterstützung des Vorsitzenden des Berufsverbandes der deutschen Kinder- und Jugendärzte, unsere Elternratgeber werden von vielen gekauft. Wir können auf breiter Front das Denken über akutes Fieber verändern. Wir gehen da auf die Öffentlichkeit zu, beteiligen uns bewusst an der jetzt unvermeidlich gewordenen globalen Kontrolle der Masern, indem wir offener werden gegenüber einer frühen Masernimpfung. Früher rieten wir eher zu einer Impfung am Ende der Kindheit. Da gehen wir auf die Öffentlichkeit zu. Aber auf der anderen Seite wollen wir auch unsere zentralen Gedanken über das Fieber und die Individualisierung des kindlichen Leibes mit der Öffentlichkeit teilen. Wenn das verstanden wird, isolieren wir uns nicht in einer Nische, sondern werden zur Hefe in der Gesellschaft.