Ich als Gespräch

In seiner kleinen Schrift führt Salvatore Lavecchia durch den Gedankengang, dass unser Ich und unser Ichsinn sozial sind.


Rudolf Steiners Sinneslehre gilt unter Anthroposophieliebenden als sehr schwer verständlich. Er selbst hatte versucht, sie 1910 umfassend in dem Fragment ‹Anthroposophie›1 zu formulieren. Allein schon der Titel ‹Anthroposophie› der Vorträge von 1902 und des Fragments lässt ahnen, wie zentral für Steiner die Sinneslehre war. Er musste das Vorhaben aber aufgeben, weil «die Sprache zunächst das nicht hergab für meine damalige Entwickelungsstufe» und er später überlastet gewesen sei.2 Dem genannten Fragment folgt Lavecchia und legt zugleich dar, wie Steiner die Rolle des Ich und des Ichsinns, mit dem man das andere Ich erfasst, bereits hier klar ansprach. Auch der Tastsinn erscheint hier bereits.

Die Grundeigenschaft des Ich ist es, den anderen und die Welt zu verstehen. Es ist dabei unverortbar. In der unbefangenen Beobachtung, so Steiner, sei das Ich im Denken zu finden.3 Lavecchia spricht davon, dass sich das Ich leer machen muss: Im Wirken jedes menschlichen Sinnes könne man die Gegenwart des Ich als Licht, als Wärme, als fruchtbare schöpferische Leere entdecken. Die «leere Wachsamkeit» des Ich führt zum Verstehen der Umwelt und besonders des anderen Menschen. So führt diese Form des Verstehens zur Freiheit. Dazu gehören Licht und Wärme, wie von Steiner 1924 im ‹Heilpädagogischen Kurs› angedeutet. Auf dieser Basis des innerlich leeren Verstehens in Licht und Wärme kann das Ich in der Tätigkeit seiner Sinne «in sich das Bild eines anderen» vergegenwärtigen.

Nach dieser Vorbereitung kann Lavecchia knapp und präzise die einzelnen Sinne beschreiben, beginnend mit dem Tastsinn bis zum Ichsinn. Schon bei den sogenannten Leibessinnen geht es um die Haltung des Ich zu Punkt und Sphäre, zu Zentrierung, Verströmen und dialogischem Erfassen der Welt. Immer steht der ganze Mensch im Mittelpunkt von Lavecchias Betrachtung. Wenn auch die Schilderung des einzelnen Sinnes knapp gefasst ist, gibt der Ursprung aus dem Ich und seinem offenen Zusammenhang mit der Welt allen Sinnen ihre jeweils besondere Richtung: Der Ichsinn wird zum Ursinn aller Sinne, für den der ganze Mensch als Organ wirkt. In selbstloser Selbstheit wird das verstehende Ich frei von sich selbst und geht im anderen auf.

Salvatore Lavecchia: Ich als Gespräch. Anthroposophie der Sinne. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2022.

Diese Grundgeste eines Sinnes, vor jeder verstandes- und urteilsmäßigen Tätigkeit, bedeutet zugleich eine soziale Beziehung des Menschen: im unmittelbaren Verstehen der Welt und des wesensgleichen anderen Ich. Das Ereignis der ‹Ich-Begegnung als Ich-Wahrnehmung› wird zum Urphänomen. Das ist bereits eine Sphäre, in der Wahrnehmung und Begriff zu verschmelzen beginnen. Damit ergibt sich die eigentliche Perspektive dieses Buchs: Der Mensch ist von vorneherein ein soziales Wesen in der Begegnung mit anderen Menschen. Das Ich ist generell gemeinschaftsbildend und nicht egoistisch im Punkt erstarrt. Im ‹Heilpädagogischen Kurs› gab Steiner die Meditation von Punkt und Kreis4 als eine Überwindung dieser Haltung. Bei Lavecchia heißt es, Leib, Seele und Geist werden zur Quelle von Ich-Gemeinschaften in der Freiheit.

Das kleine vorliegende Werk besticht durch seine Originalität und das klare Denken des Philosophen. Zugleich ist dieses Ich als Gespräch unmittelbar verständlich. In seiner denkerischen Prägnanz und seiner manchmal fast lyrischen Sprache führt es Rudolf Steiners Sinneslehre in einer neuen Dimension fort.


Buch Salvatore Lavecchia: Ich als Gespräch. Anthroposophie der Sinne. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2022.

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Footnotes

  1. Rudolf Steiner, Anthroposophie. Ein Fragment aus dem Jahre 1909. Rudolf-Steiner-Verlag, Dornach 2009.
  2. Rudolf Steiner, Grenzen der Naturerkenntnis. Rudolf-Steiner-Verlag, Dornach 1981, S. 106.
  3. Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit – Grundzüge einer modernen Weltanschauung. Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode. Rudolf-Steiner-Verlag, Basel 2021, S. 148.
  4. Rudolf Steiner, Heilpädagogischer Kurs. Rudolf-Steiner-Verlag, Dornach 1995, S. 154.

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