Hälfte des Lebens

In der ‹Spiegel›-Ausgabe vom 13.11.2021 erschien wieder einmal eine zynische Glosse gegen ‹Homöopathie-Hokuspokus und Esoterik-Geschwurbel›. Dem steht entgegen – und das wird im selben Text vermerkt –, «dass weit mehr als die Hälfte der Patienten mit der homöopathischen Behandlung zufrieden sind». Das sei allerdings ein Scheinergebnis, das auf weichen Beobachtungsstudien beruht, statt auf ‹qualitativ hochwertigen›.


Menschen sind nicht so, wie die Wissenschaft sie gern hätte. Genau dafür spricht das Scheinergebnis der Zufriedenheit, obwohl Zufriedenheit inzwischen selbst im Sinne der Schulmedizin als Gesundheitsfaktor relevant ist. Welche Arroganz spricht jedoch daraus, die Zufriedenheit eines Menschen infrage zu stellen, in der Haltung, sie als Illusion beurteilen zu können und besser um das Sein der betreffenden Person Bescheid zu wissen.

Eben dieses Weltbild verstört, und es scheint inzwischen vielen Menschen nicht mehr vertrauenswürdig. Zwei Seelen haben wir bekanntlich alle in der Brust – die eine klammert sich an jeden Strohhalm und die andere strebt ins Freie. An dieser Nahtstelle zeigt sich etwas Besonderes: Entgegen der gesellschaftlichen Spaltungslage der Welt beginnen die beiden Innenseiten des Menschen individuell Frieden miteinander zu schließen. Zufriedenheit!

Auf dem Land, wo ich lebe, in einer gewiss nicht esoterikverdächtigen Umgebung, sind die Küchenschubladen aller Haushalte voll mit Globuli, die per Mundpropaganda verbreitet werden. Nicht anders steht es mit der Homöopathie in der kleinen Stadt in der Nähe. Im dortigen Krankenhaus lag kürzlich meine Mutter nach einer Hüftoperation. Seit Jahren litt sie zudem an altersbedingtem Geruchs- und Geschmacksverlust – laut Schulmedizin unbehandelbar. Inzwischen sind beide Sinne dank einer Kombination von Trinkampullen und Globuli wieder aufgelebt. Als nicht nur zufriedene, sondern begeisterte Anwenderin wollte sie die Einnahme verteidigen gegen die befürchtete Kritik. Aber das war gar nicht nötig. Das gesamte Personal, ob Pflegende oder Ärzteschaft, zeigte sich einverstanden oder bekannte sich zur Verwendung.

Bemerkenswert die Aussage eines Chefarztes der Orthopädie: «Nun, wenn’s hilft – und es hilft ja! Meine Frau verwendet es auch.»

Eine Woche später erhielt ich Gelegenheit zu einem speziellen Experiment. Die ‹Heute Show› ist ein Satireformat des Zweiten Deutschen Fernsehens. Darin werden Zeitereignisse zugespitzt, ironisch vorgeführt. Gegen Ende der Sendung vom 19.11.2021 verschlug es mir die Sprache. Vollkommen unvermittelt wurde Rudolf Steiner zitiert, natürlich als Beleg für Irrsinn. Seine Aussage: Wer sich in einem Leben zu wenig mit Astronomie – sprich: mit den Sternen – beschäftigt habe, der würde im nächsten Leben an einer körperlichen Bindegewebsschwäche leiden.

Wahrhaftig musste ich lachen. Ich war so verblüfft und die Situation so grotesk, dass es nicht zu dem üblichen Ablauf in der Seele kam. Schmerzlich das Geliebte, die Anthroposophie, geschmäht zu erleben und innerlich bereits dagegen zu Felde zu ziehen. Die Art der Vorführung war keineswegs bösartig, eher so wie im Kasperltheater und ich plötzlich Publikum. Mitten unter den – in Bezug auf Anthroposophie – ahnungslosen Zuschauenden.

Nach dem Luftsprung des Humors landet man allerdings auf dem Boden der Tatsachen mit der Frage nach dem eigenen Urteilsvermögen. Wer kein Schauender mit übersinnlich entwickelten Organen ist, nun, der ist in der exquisiten Position, genau das anwenden zu können, was Rudolf Steiner zur Grundlage der Anthroposophie gemacht hat: das Versprechen der persönlichen Freiheit. Mit nichts anderem zu operieren als dem gewöhnlichen eigenen Verstand. Das Erste, was der Verstand tut, ist: etwas für möglich halten. Das ist nicht Glaube, sondern Wissenschaft. Eine These aufstellen. Es beginnt ja wissenschaftlich niemand bei null zu denken, sondern auf Basis der vorangegangenen Ergebnisse. Ich persönlich verstehe leider null von Naturwissenschaft und schon gar nichts von Raketenantrieb. Dennoch halte ich das Ergebnis von Fachleuten – also beispielweise, dass wirklich einer auf dem Mond herumgelaufen ist oder gerade ein Rover über den Marsboden fährt – für möglich. Wie kann ich das aber überprüfen?

Menschen sind nicht so, wie die Wissenschaft sie gern hätte.

Wir sind alle Kinder im Kasperltheater an der einen oder anderen Stelle. Und siehe da, es gibt ein Messinstrument, das menschlich ist. Jenseits allen Spezialistentums zu ermitteln, was wahrscheinlich und wahr ist. Ein Messen mit zwei Fühlern: Fantasie als Eröffnung des Möglichen und Moralität als zur Feststellung des Wirklichen geeignet. Ich muss Fantasie in Anschlag bringen, um zu sehen, wohin ein Gedanke führt, und ich kann Moralität einsetzen, um zu prüfen, wie er sich auswirkt. Natürlich nur unter der Voraussetzung, dass ich Denken als Technik verwende. Letzteres muss ausgeübt werden – ob ich denke, kann mir niemand andres sagen als ich selbst.

Nun mache ich das Experiment, einen Ausflug ins All. Nicht als Seherin, nicht als Fachfrau, als Künstlerin. Ich sitze im Sandkasten des Denkens und lasse mich berieseln von dieser kosmischen Aussicht – von der Energie dieser metamorphosierten Formvorstellung. Wozu führt das?

Tatsächlich ja sofort in den Leib, unter die eigene Haut. Das konkrete körperliche Gewebe in Bezug zum Universum zu denken, den Ursprung im All anzunehmen, da findet sich ein eigenes Beziehungsgefüge. Wie die Gestirne in gegenseitiger Halte-TrageKraft stabile Bahnen ziehen. Den Kosmos probeweise einmal so zu sehen, buchstäblich als ein gewaltiges Bindegewebe. Auch im Hinblick auf die menschliche Atmosphäre, das Klimageschehen. Da sind Hüllen, da sind Schichten, da ist Vermittlung – plötzlich der Eindruck des Organischen und des Wesentlichen. Da ist ein Verhältnis!

Nehmen wir an, es fehlt dem eigenen Blick an Interesse, wörtlich: vermittelnd zwischen dem einen und anderen Sein. Was geschieht so der Seele? Enge ist das eine, Erschlaffung, Spannungsmangel das andere. Das Gemüt macht schlapp, wenn das Interesse mangelt. Hat dies Folgen für den Körper? Oh ja, das hat es durchaus schon in diesem Leben. Diese inneren Organe, die so eingebettet schweben an Ort und Stelle im leiblichen Gefüge, wie die Gestirne schwingen, brauchen eine Grundspannung.

Wozu ein derart provozierender Gedanke vom Zusammenhang zwischen Mensch und Kosmos führt, ist die Frage nach einer erweiterten Logik. Diese ist alles andere als verrückt. Sie betrifft uns als Zufriedenheitskraft im innersten Sein.

Sie ermangelt uns in der Behandlung aktueller Weltproblematik. Mit der bequemen, entspannten Logik unserer Zeit, der fantasielosen Beschränkung des Blicks kommen wir nicht mehr weiter.

Nein, liebes Fernsehpublikum, lasst euch nicht verwirren. Denken hilft ebenso, wie es Globuli tun. Vielleicht zieht bald in die inneren Kopfschubladen die Sehnsucht nach erweitertem Verständnis ein – von Gestalt und Gestaltung unseres Lebens. Ich halte das für nicht unwahrscheinlich.


Titelbild: Sofia Lismont

Print Friendly, PDF & Email

Letzte Kommentare