Für die Welt des Werdenden und Gewordenen

Die Anthroposophische Medizin ist 1920 zeitgleich mit dem Buch ‹Die Freigabe des lebensunwerten Lebens› (Binding/Hoche) entstanden, einem wegbereitenden Werk der späteren Euthanasie. War dort von «Balastexistenzen» die Rede, von «Menschenhülsen», so prägte Anthroposophie die Lehre und Kunst, in jedem den ganzen Menschen sehen, verstehen und heilen zu lernen.


Foto: Ariane Totzke

Rudolf Steiner ist einer der ersten gewesen, der den großen Londoner Eugenik-Kongress 1912 kritisch besprochen hat: «Der Materialismus wird in rasender Eile seine Konsequenzen ziehen und es wird kaum die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Ende gehen, ohne dass auf diesen Gebieten dasjenige geschieht, was für den Einsichtigen ein Furchtbares ist.» Diese katastrophale Entwicklung konnte von der Anthroposophischen Medizin nicht aufgehalten werden, aber es ist wichtig, sie als Sorge um die Heilkunst und um jeden einzelnen Patienten zu verstehen. Was passiert, wenn die Medizin ein technisches Menschenbild hat, wenn der Krankheitsbegriff aufgelöst wird, der Weg zur biotechnologischen Manipulation gebahnt wird, wenn Seele und Geist nur noch ‹metaphysische› Konstruktionen für Philosophen sind, wenn der Körper perfektioniert wird? Über diese Dinge sprachen Ita Wegman und Rudolf Steiner 1920 in Dornach, nicht aus Hellsicht, sondern aus Voraussicht. Daraus wurden Konsequenzen gezogen und Einspruch erhoben, auch gegen die sogenannte ‹distanzierte Objektivität› als wissenschaftliche Grundhaltung, gegen das methodische Verbot der Empathie. Steiner sagte 1920: «Gerade in der Medizin zeigt es sich, wohin es eine Wissenschaft bringt, die den Menschen bei ihren Methoden ausschließt.» Die Medizin als Teil des geistigen Lebens muss sich befreien vom Diktat der Ökonomie, der Technik. Sie braucht eigene Werte, Grundlagen und ein eigenes Fundament, um nicht Erfüllungsgehilfe anderer Vorgaben zu sein oder zu werden. Darüber wollte Steiner eine öffentliche Diskussion. Es ist so wichtig, die Gesundheit als ein öffentliches Gut zu demokratisieren. Damit leisten wir einen Beitrag zur Entwicklung der Medizin als Heilkunst. Anthroposophie möchte dazu beitragen, dass Humanmedizin möglich wird. Zum Geburtstag gehört Dankbarkeit, für das, was uns voranging, worauf wir bauen. Diesen Rückraum, auch den Rückraum einer ca. 2500 Jahre währenden abendländischen Wissenschafts- und Kulturgeschichte, hatte Steiner präsent. Die Hippokratische Medizin von Kos trat aus der alten Mysterienmedizin heraus. Sie entwickelte einen stark naturalistischen Zugang zum Leib des Menschen. Im hebräisch-babylonischen Raum gab es dagegen eine ethische Medizin, in der Krankheit als Verfehlung, als Irrung verstanden wurde. Man kann den Eindruck gewinnen, dass mit dem Auftreten des Christus-Jesus ein ganz neuer therapeutischer Impuls verbunden war, der die beiden Pole in einem Neuverständnis des Logos vereint und steigert. Den Heilungen im Evangelium haben Rudolf Steiner, Gerhard Kienle, Peter Matthiessen und andere eine hohe Bedeutung zugemessen. Sie verstanden sie nicht als schöne Geschichten, sondern als Quelle der Heilkunst. In der Bergpredigt ist ein neues Verhältnis zur Schöpfung, zur Substanz veranlagt; zugleich wird die persönliche Verantwortung des Individuums zu seinem Lebensweg sichtbar. Der Arzt der Antike war Diener der Heilkunst. Vor dieser Göttin hatte er Verantwortung abzulegen. Christlich heißt es: «Solange du den Schmerz erfühlst, der mich meidet, ist Christus unerkannt im Weltenwesen wirkend, denn schwach nur bleibt der Geist, wenn er allein nur im eigenen Leibe des Leidensfühlens mächtig ist.» Die Anthroposophische Medizin stellte sich von Anfang an in die Welt des Werdens und des Gewordenen. Sie hat einen großen, kulturübergreifenden Hintergrund und eine weite Zukunft.

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