Fiffi bei Fuß

Zum Tode von Sibylle Lewitscharoff


Ich hatte einige Bücher von ihr gelesen und begegnete ihr auf einer Tagung in Dornach. Wir haben uns prächtig unterhalten. Ich war dort ihr Fiffi – mit zwei «lüpfenden» F. Was hatten wir unseren Spaß, ich wich nicht von ihrer Seite, holte Stöckchen und apportierte, hakte sie unter oder buchsierte ihren Rollator den Hügel hoch, vertrieb vielleicht mit meinen hündischen Spielchen etwas die «böse schleichende Katze» ihrer Krankheit, denn «es sind ja nur die Beine, es ist ja nicht der Kopf«, wie sie sagte. Sie würde mich glatt mit nach Berlin nehmen, eröffnete sie mir beim Frühstück, ich sei ein ausgezeichneter Lakai. Ich wäre wohl ein etwas teures Spielzeug, gab ich zurück. Ach was, Geld habe sie genug, um mich auszuhalten. – Dieser hochniedrige Umgang, der frech-scharfe Geschmack auf der Zunge, gefiel uns auch noch im Großen Saal sitzend, als wären Anlass und Thema nebensächlich, dabei wurde einfach gerade nur mal kurz die andere Seite des Transhumanismus im Wortsinne bedient. Dass der Fiffi ein Anthroposoph ist, wollte ihr zuerst nicht in den schwäbischen Dickschädel, doch es berührte letztlich nicht ihren großen Geist, der den Menschen von Grund auf liebt, nach dem Motto: Komm mir mit Tatsachen, nicht mit Vorstellungen. Tja, Fiffi war eine Tatsache.

Jetzt ist das ‹Frauchen› tot, kaum 69 geworden, und wird ‹von oben› die Szenerie betrachten – und sicher scharfe Witze machen. Und endlich wieder tanzen – mit den Toten und Geistern. Vielleicht auch mit einigen Lebenden im Diesseits, denn auf Pendants – «Lichter» und «Irrlichter» gleichermaßen – war sie aus. Sie hatte eine Vorliebe für die Spannungen des Unmöglichen, des eigentlich akkurat Undenkbaren und Unmittelbaren. Sie war eine Autorin des direkten Wortes. Sie gab dem Ungelebten sein Lebensrecht, ohne es ins Leben oder ins Wort zerren zu müssen – weder von oben noch von unten –, sondern machte die Welten in ihren Texten und Reden durchscheinend, als wäre nur eine Lage hauchdünnes Butterbrotpapier dazwischen, in das ihre «Vesper» eingewickelt war, gleich ihrer doch auch zarten Seele.

Es gab wohl einen äußeren Anlass und trotz klarer Rollenverteilung geheime Resonanzen, in denen wir uns gleich heimisch orientierten: die Abneigung gegen den Muff unter den Talaren zum Beispiel oder das 68er-Gen und die Beschäftigung mit Marx. Die scheinbar begrenzte soziale Anpassungsfähigkeit aufgrund eines ausgeprägten Individualbedürfnisses, die Liebe zum Unzumutbaren, zum Künstlerischen als Schöpfungsprinzip hier wie dort und natürlich die Revolte gegen das eingeschnürte, bigotte «Gegläubel» und «Geherrschel» würde sie vielleicht sagen und so weiter und so fort …

Es war ein kurze Begegnung, die bis heute nachklingt. Das hat Potenzial bis zum nächsten «Pong», denn dieses kluge Verrückt-Sein verändert die Welt. Und was den Eklat um ihre Dresdner Rede zur wissenschaftlichen Bestimmung über Geburt und Tod betrifft: Sie ist nur oberflächlich, schon gar nicht vom kleingeistigen Mainstream verstanden worden. Lewitscharoff äußerte – wohl drastisch – ihre Ansicht, dass die Motive einer Zeugung nicht ohne Auswirkungen auf das gezeugte Wesen sind.

Ich wohne neben der evangelischen Privatschule, die sie in Stuttgart besuchte, von der sie als Schülerin wegen ihres aufmüpfigen Geistes – «Provokationskaschperle» – fast geflogen war, wie sie mir erzählte. Man wünschte sich, dass mehr solcher Kaliber aus den Schulen kommen.

Am Samstag, den 13. Mai 2023, ist Sibylle Lewitscharoff nach langer Krankheit gestorben.


Auszeichnungen (Auswahl)

1998: Ingeborg-Bachmann-Preis
2008: Marie-Luise-Kaschnitz-Preis
2009: Preis der Leipziger Buchmesse
2011: Frankfurter Poetik-Vorlesungen
2011: Kleist-Preis
2011: Ricarda-Huch-Preis
2011: Marieluise-Fleißer-Preis
2013: Stipendiatin der Deutschen Akademie Rom Villa Massimo
2013: Brüder-Grimm-Professur
2013: Georg-Büchner-Preis

Veröffentlichungen (Auswahl)

Pong. Berlin Verlag, Berlin 1998.
Blumenberg. Roman. Suhrkamp, Berlin 2011.
Killmousky. Roman. Suhrkamp, Berlin 2014.
Das Pfingstwunder. Roman. Suhrkamp, Berlin 2016.
Von oben. Roman. Suhrkamp, Berlin 2019.


Bild Sibylle Lewitscharoff

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  1. Sibylle Lewitscharoff hat 2013 jenen Literaturpreis erhalten, der nach Georg Büchner benannt ist. In “Dantons Tod” lässt Büchner seinen Hérault sagen: “Wir alle sind Narren, es hat keiner das Recht, einem andern seine eigentümliche Narrheit aufzudrängen.” Was aber, wenn sich jemand, wie Frau Lewitscharoff, dieses Recht einfach nimmt.

    Mir ging immer der tantenhafte Manierismus ihrer Sprache auf die Nerven und ich begriff nicht, warum nahezu der gesamte Literaturbetrieb vor diesen Texten auf die Knie fiel. Dann habe ich mir ein paar Interviews angesehen und jene Rede gehört, in der sie Onanie verbieten will und Kinder, die aus einer künstlichen, also “abartigen” Befruchtung entstanden sind, als “Halbwesen” bezeichnet. Und hinterher, wie jeder dumpfe Schwadroneur, dieses: “Man wird ja wohl noch sagen dürfen … ” – Es ist schon so: Man muss sie sehen, man muss hören, wie sie da, begleitet vom schnarrenden Ton einer Zuchtmeisterin des schwäbischen Pietismus, die Peitsche knallen lässt, um zu verstehen, warum die Würstchen des Feuilletons sich mit Wonne krümmten. Pardon, Leute, die Dame hatte ganz einfach einen Schuss.

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