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Ewig unvollendet und doch vollendet

Wilfried Hammachers neue Dichtung ist in Thematik und Aufmachung etwas ganz Besonderes. Seine mit Erkenntnis durchdrungene schöpferisch-poetische Quelle hat sich, karmische Bezüge aufzeigend, mit der Individualität Leonardo da Vincis und dessen ‹Abendmahl› auseinandergesetzt.


Es ist bewundernswert, mit welch poetischem Enthusiasmus Hammacher in seinen Dichtungen die kosmisch-geistigen Ereignisse in immer neue Wendungen und Formen gießt. Es sind originäre, tief durchseelte Schöpfungen, die anthroposophisches Gedankengut in eine poetische Form gießen, wo sie dem vorschnellen Intellekt erst einmal Halt gebieten. Wer sich aber fühlend und miterlebend darauf einlässt, wird reich beschenkt.

Kosmischer Werdegang

Wir finden in Hammachers Buch den kosmischen Werdegang der Individualität des Leonardo das Vinci. Angefangen bei dem Opfer der Throne, welches die Grundlage legt für die Anlage des physischen Leibes, durch die neun Hierarchien hindurch bis hin zur Christus-Tat werden die kosmischen Werdeprozesse dargestellt, wobei die Mosaikmalereien der Decke des Baptisteriums San Giovanni in Florenz den Anschauungshintergrund bilden. Dass die Throne hier als «Erfinder, Ingenieure und Werkmeister» vorgestellt werden, mag verwundern. Wenn es aber heißt: «Werkmeister waren sie, die hohen Throne, / Mutflammend sich der Opfertat ergebend, / Den Willen zur Materie lodernd hoch / In dieses stumme ungebor’ne All / Des Nichts in Wärme wogend zu verströmen», so wird der sprachschöpferische Genius des Autors erlebbar.

Danach wendet sich der Verfasser den Wesenheiten zu, die diesen Werdegang nicht mitgemacht, die verzichtet und sich gewissermaßen den Fugen der Schöpferharmonien entzogen haben. Damit geht er auf die Widersachermächte – von den Asuras bis hin zu Ahriman und Luzifer – ein. Das ist ein Novum in seinen bisherigen Werken. Hier wird das Mysterium der Freiheit berührt, das der Liebe vorausgehen musste und das für die Rätsel der Leonardo-Individualität ein tiefgreifendes Motiv ist.

 


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Inkarnationsströme

Die nächsten Teile gehen auf die Inkarnationen ein, welche jener Leonardos vorausgegangen sind. Bei diesen Darstellungen ist verblüffend, mit welcher Sicherheit die doch nur spärlichen Andeutungen von Rudolf Steiner dazu aufgegriffen und ausgeführt werden. Der Darstellung des Judas-Lebens in Affinität zum Ödipusschicksal sowie seine Verflechtungen mit dem Römischen Reich und der Erwartungshaltung der messianischen Mission gegenüber wird mehr Raum gegeben als den vorangegangenen Inkarnationen, ist sie doch die Wegweisende für alle weiteren. Die Motive zum Verrat werden beleuchtet. Dabei sind nicht nur das Selbstmordgeschehen, sondern auch die Erlebnisse der Judas-Seele nach dem Tode tief berührend. Sie werden in Zusammenhang gebracht mit dem Weg des Christus ins Totenreich und der Auferstehung. Letztere führt zu ihrem Erwachen: «Da aber wacht Judas’, des Toten, Seele / Aus seines Schicksals Wesensgrund und -schmerzen / Auf in das All, das jubelnd sich der Erde / Zuneigt, der neuen Sonne, Christussonne, / Dem Sternenbruder aller Sternenweiten!» Die poetische Sprache kann hier weit mehr eröffnen als gekonnte Interpretationen. Auch diese Darstellungen werden durch Abbildungen berühmter Gemälde untermauert und bereichert. Die Erkenntnisse dazu sind vielfach originell und öffnen Tore zu tieferem Verstehen.

Vorbilder und Nachbilder

Nach diesem Vorspann kommt es zu Leonardo und dem ‹Abendmahl›-Bild. Es werden aber bei den Ausführungen noch weitere Bilder Leonardos hinzugezogen: ‹Johannes der Täufer, ein Selbstporträt›, ‹Die Madonna in der Felsengrotte› und ‹Die Taufe Christi›, welches Leonardo zusammen mit Andrea del Verrocchio 1475 gemalt hat. Gerade auf dem Hintergrund der Inkarnationen der Leonardo-Individualität bekommt das Porträt von Johannes dem Täufer eine tiefgehende Dimension. Die sich darin äußernde dionysische Affinität, die selbstlos dem reinen Licht des Logos dient, ist wie ein Hinweis auf Leonardos Selbstporträt. Eine faustische Gestalt, die ebenso wie der Täufer dem Licht der Weltgedanken auf der Spur ist. Dieser Weg der Individualität wird auch in den Passagen, wo es um die menschliche Seite Leonardos geht, schön herausgearbeitet.

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Eine faustische Gestalt, die ebenso wie der Täufer dem Licht der Weltgedanken auf der Spur ist.

Dann geht es zum Abendmahlsgeschehen, wobei das Bild ‹Die Madonna in der Felsengrotte› den Weg dazu vorgibt. Für den Autor stellt dies eine Stufe zum Abendmahlsgeschehen dar, weil hier Leonardo einer gewaltigen Inspiration folgend nicht nur «die Mysterien der Erde» in der Madonna und der Grotte darstellt, sondern auch die Geheimnisse der zwei Jesusknaben.

Das Abendmahl

Es kommt eine der großen Begabungen Wilfried Hammachers zum Vorschein, nämlich der tiefere Sinn für das Dramatische. Und welche Szene der Weltgeschichte ist dramatischer als die des Abendmahls mit der Fußwaschung, dem Verrat und der Reaktion der Jünger. Dieses Geschehen, wo die allumfassende Liebe selbst den Widersacher einbezieht, ohne Vorwurf, nur die Sache selbst ansprechend, ist ein Stück des Weltendramas schlechthin. So wird es vom Autor auch meisterhaft behandelt, eingebettet in die Tiefe und Weite dieses fundamentalen irdisch-kosmischen Geschehens. Die Darstellungen zu den Reaktionen der einzelnen Jünger geben einen tiefen Einblick in jede individuelle Jüngerseele. So zum Beispiel bei Philippus, der ja sonst wenig in Erscheinung tritt: «Sich neigend bekennt Philippus seine Liebe, / Die wie die Morgenröte aus ihm blüht, / Mit Händen weisend, ätherblau / Umkleidet, wie des Himmels Treue selbst, / Zu sagen: Siehe Herr, ich liebe dich / Und nimmer, nimmer wohnt in mir Verrat.» Jede Farbe wird zum Tor der einzelnen Seele. Und dann der Bissen: «Mit seiner linken Hand ausgreifend, um / Den Bissen anzunehmen, den ihm Jesus / Jetzt reichen will. Das Haupt zurückgeworfen, / Dringt überwach der Blick zu Jesus hin, / Durch tausend Fragen der Gedanken rasend / Um diese eine: ‹Soll ich ihn verraten?› / Und mit dem Bissen, den er sich genommen, / Fährt in ihn ein des Satans dunkle Macht. / Judas verlässt den Raum. Und es ward Nacht.» Die drei letzten Worte geben nicht nur die äußere Situation wieder, sondern auch die innere.

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Dieses Geschehen, wo die allumfassende Liebe selbst den Widersacher einbezieht, ohne Vorwurf, nur die Sache selbst ansprechend, ist ein Stück des Weltendramas schlechthin.

Im Anschluss daran folgen Begebenheiten aus der Vita Leonardos: Elternhaus, Schule und die ersten Malereien, die schon die Genialität Leonardos andeuten. Anhand der Bilder ‹Die Taufe Christi› und ‹Die Verkündigung Mariae› offenbart sich schon die eigene Handschrift, die weit über den Lehrer Verocchio hinausgeht. Zum Schluss greift der Autor aus den vielen anderen Beschäftigungsfeldern Leonardos nur eines auf. Es ist seine lebenslange Beschäftigung mit dem Wasser, wobei zwei Zeichnungen mit Feder und Tinte, einmal ‹Arnolandschaft› und dann ‹Explosion eines Felsmassivs durch eine platzende Wasserader und Wellenbildung in einem See durch herabstürzende Felsbrocken› zu den Betrachtungen hinzugezogen werden.

Werdeprozesse

Die Aufmachung des Buches ist von außerordentlicher Qualität. Die Abbildungen sind hervorragend.

Im Prolog vergleicht Wilfried Hammacher die Werdeprozesse der Entelechie Leonardos mit dem Bild der Sonne: «Wie sich das Licht des einen Tages wendet / Zu tausendfachen Glanzes Farbensang / Der einen Sonne, ewig unvollendet, / Vollendet ewig doch auf seinem Gang.»

Dieser schöne wie ungewöhnliche Vergleich lässt sich auch auf sein Schaffen anwenden. In immer neuen Fassungen wird da die kosmisch-irdische Geistnatur des Menschen behandelt. Die aber lässt sich nur fassen durch eine entsprechende Sprache, die durchglüht ist von der Logoskraft. Das alles kann naturgemäß ewig nur unvollendet bleiben. Blickt man aber auf das Ganze, so ist es doch auf seinem Gang ewig vollendet.


Buch Wilfried Hammacher, Das Abendmahl von Leonardo da Vinci. Karmische Wege seiner Entstehung. Schneider Editionen, 2019

Titelbild: Zeichnung von Leonardo da Vinci, ca. 1513. Quelle: Wikimedia Commons

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