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Episch frei und gebunden

Mit den Streamingdiensten im Internet hat sich die Fernsehkultur vom festen Sendeplatz gelöst. Alles ist überall und immer verfügbar. Damit wandelt sich auch die Art des Erzählens.


In den 1990er-Jahren machte in den US-amerikanischen Filmproduktionsgesellschaften ein Papier des Lektors Christopher Vogler die Runde. Vogler hatte das Buch ‹Der Heros in tausend Gestalten› von John Campbell studiert. Der Literaturwissenschaftler Campbell zeigte darin, dass die meisten weltweit überlieferten Mythen und Sagen, von Gilgamesch über die Erzählungen der Maori bis zu Parzival, einem archetypischen Bild einer Heldenreise folgen: Die 17 Schritte, von der ‹Berufung› bis zur ‹neuen Freiheit im Leben›, schenken Orientierung und gehören zur kulturellen Bildung. Vogler stellte nun fest, dass die meisten erfolgreichen Filme ebenfalls dieser Idee einer Heldenreise folgen. Sein Memo wurde kopiert und verteilt und es dauerte nicht lange, da entwickelte Christopher Vogler die Idee der cineastischen Heldenreise weiter in seinem Buch ‹Die Odyssee des Drehbuchschreibers›, die ähnlich wie Aristoteles’ ‹Poetik› zur Referenz der Filmstoffentwickler wurde.

Die klassischen TV- und Filmgesellschaften waren jedoch in einem Dilemma. In einem einzelnen Film lässt sich in einer Geschichte diese Reise zeichnen, aber wenn der Film gelaufen ist, dann ist er vorbei. Es gibt keine ‹Kundenbindung›, darin liegt die wirtschaftliche Schwäche des einzelnen Films. Die Serie, mit zehn, zwanzig oder noch mehr Folgen, vermag ihre Zuschauer zu binden, aber hier lässt sich nur schwerlich eine Heldenreise erzählen. Wer eine oder mehrere Folgen verpasst, ist nicht mehr auf dem Laufenden. Deshalb werden TV-Serien vertikal erzählt, jede einzelne Folge ist eine Geschichte für sich. Seit nun über das Internet Serien ‹gestreamt› werden können, nicht mehr am festen Sendeplatz, sondern irgendwann geschaut werden, hat sich das Blatt gewendet. Jetzt können Serien entwickelt werden, die in epischer Breite eine Geschichte entfalten. Während der klassische Kinofilm eine Erzähllinie verfolgt im Sinne eines Handlungsbogens- oder -streifens, erlaubt die Serie die Erzählung in der Fläche, die Geschichte wächst um eine Dimension.

Das epische Erzählen

Die klassischen TV-Anstalten sind durch ihre zeitlichen Sendeplätze festgelegt. Das Publikum erwartet am Montag dies und am Dienstag das. Ähnlich wie eine Zeitung, in der auf Seite 2 der Kommentar steht und auf Seite 5 das Essay erwartet wird, sind die Sendeplätze im Wie und Was fix. Anders bei den neuen Streamingdiensten: Sie sind von diesen dramaturgischen Regeln befreit, deshalb werden andere Erzählstoffe und experimentelle Erzählformen entwickelt. Wenn nicht mehr der Programmdirektor vorgibt, was wann und wie lange filmisch konsumiert wird, sondern jeder Mediennutzende selbst zum Sendechef wird, besteht angesichts dieser grenzenlosen Verfügbarkeit natürlich die Gefahr des Zuviels und Zuofts. Auch bildet sich die Gemeinschaft nicht mehr durch den festen Sendetermin im Wohnzimmer, sondern nur noch durch das gewollte Miteinander.

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Das Auto ist das Bild: Man kann überall hinfahren, ist räumlich befreit, aber zugleich isoliert in einem Kasten – Befreiung und Gefangenschaft in einer Hand.

Dramaturgen wie Oliver Schütte beschreiben nun, dass 2020 und vielleicht 2021 als erzählerische Wende in die Geschichte eingehen werden. Aktuell sind mit Amazon und Netflix zwei Dienste verfügbar, die solche epischen Erzählformate im Portfolio haben. Es ist ein gewaltiger Markt, weil nun Serien, der Natur des Internets folgend, weltweit verfügbar sind. Mit AppleTV, Disney, HBO und Warner kommen in den nächsten Jahren vier, vielleicht fünf weitere hinzu, um mit enormen Finanzmitteln um die Hoheit am Bild zu mitzustreiten. Dabei kommen die ausgeklügelten kundenorientierten Marketingalgorithmen zum Einsatz. So werden den Kunden nicht nur am Konsumverhalten orientierte Angebote gemacht, es wird ein und derselbe Film für verschiedene Kunden mit unterschiedlichen Bildern und Texten präsentiert. Die Perspektiven für das Datensammeln, was wer wann gesehen und irgendwie auch gefühlt hat, erregen Schwindel.

Lokal und global zugleich

Um die europäische kulturelle Identität zu schützen, hat die Europäische Union ein Gesetz verabschiedet, wonach all diese vornehmlich amerikanischen Streamingdienste, wenn sie in Europa präsent sein wollen, 30 Prozent ihres Angebots in Europa produzieren müssen. Das führt dazu, dass nun viele europäische Serienformate entwickelt werden. Weil diese Filme dann weltweit vermarktet werden, stehen enorme Budgets zur Verfügung und es verschränkt sich Lokales und Internationales. Die Serie ‹Call the Midwife›, (deutsch: ‹Ruf des Lebens›) spielt in Londons verarmten East End der 1950er-Jahre, der Nachkriegszeit. Nun gibt es weltweit interessierte Zuschauerinnen und Zuschauer, die sich für diese Geschichte in dieser Zeit, an diesem Ort interessieren. So wird das britische Leben der Nachkriegszeit von Südkorea bis Finnland über das Medium Film gesehen und gefühlt. Dabei gibt es nicht wenige Zuschauende, die später eine Reise an den vorerst nur filmisch vertrauten Ort unternehmen.

Das Auto ist das Bild: Man kann überall hinfahren, ist räumlich befreit, aber zugleich isoliert in einem Kasten – Befreiung und Gefangenschaft in einer Hand. Auf medialer Ebene das Gleiche: Streaming hat die Zuschauerinnen und Zuschauer vom Stundenplan der TV-Anstalten befreit und bindet sie durch Marketingraffinesse. In beiden Fällen ist es die Souveränität der Persönlichkeit, die wie in Rudolf Steiners Skulptur der Menschheitsrepräsentant die Mitte zwischen Gefangenschaft und Entgrenzung herzustellen vermag.


Oliver Schütte, Die Netflix-Revolution: Wie Streaming unser Leben verändert. Berlin 2019.

Eva Maria Fahmüller, Neue Dramaturgien: Zwischen Monomythos, Storyworld und Serienboom. Berlin 2019

Gunter Eschke, Bleiben Sie dran! – Dramaturgie von TV-Serien. Konstanz 2010.

Titelbild: Aus der Serie ‹Call the Midwife›, BBC.

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