Elisabeth Wagner-Koch

29. Juni 1923 – 10. September 2022

Am 10. September 2022 ging Elisabeth Wagner-Koch nach Tagen zunehmender körperlicher Schwäche in Dornach durch die Pforte des Todes. Zwischen dem Vollmond-Höhepunkt am Mittag und zwei Stunden vor einem deutlich wahrnehmbaren Erdbeben hat sie die Schwelle überschritten. 3 x 33 Jahre dauerte ihr Erdenleben.


Das Leben eines Menschen notabene, der schon im zarten Kindes- und Jugendalter dreimal unmittelbar an der Todesschwelle stand.1 Elisabeth Kochs Geburt fällt auf das Jahr 1923. Am 29. Juni, dem Peter-und-Paul-Tag, erblickt sie das Licht der Welt, als viertes und jüngstes Kind des Landwirts und Gutsverwalters Ernst Koch und der Fabrikantentochter Maria geb. Winkelhoff, auf dem Hofgut Wickershausen im südniedersächsischen Hügelgebiet.2 Wie einst ihr Erdenabschied wird auch ihr Erdeneintritt vom Vollmond beschienen. Sonnenlicht und -lebenswärme sind ihr, das Erdenleben umrahmend und überstrahlend, bei Geburt und Tod gleich zweifach wirkend geschenkt: Von der Sonne direkt und vom vollen Mond zur Erde zurückgestrahlt. Ein Sonnenkind!

Elisabeths Geburtsdatum liegt kurz nach der Sommersonnenwende und Johanni der Weihnachtszeit gegenüber, auf den Tag genau eingemittet zwischen zwei bedeutsamen Ereignissen: 180 Tage nach dem Brand des Ersten Goetheanum (Silvester 1922) und 180 Tage vor dem Beginn der Weihnachtstagung 1923, an welcher Rudolf Steiner die neu gegründete Anthroposophische Gesellschaft zu errichten erhoffte. Das johanneische «Er muss wachsen, ich muss abnehmen», gleichsam in das Geburtshoroskop Elisabeths eingeschrieben, erscheint als ihr Lebensmotto. Nicht nur wird sie ihre angeborenen Talente opfern zugunsten der von Rudolf Steiner inaugurierten Neuausrichtung der Kunst durch die Anthroposophie: Während ihrer zweiten Lebenshälfte wird sie all ihre Kräfte und Fähigkeiten dem Dienst des Werkes ihres Lehrers und Lebensgefährten Gerard Wagner weihen, ihr eigenes künstlerisches Wirken in dessen Schatten stellend.

Seit ihrer Kindheit war Elisabeth der nächtliche Sternenhimmel nahe, wurde ihr zum Grund des Seelenerlebens und zum Quell von Offenbarung.

Viele Nächte lag ich wach,
Schaute nach den Sternen,
Was ihr Geistesmund mir sprach
Wollte ich erlernen.
Viele Nächte drang ins Herz
Tief hinein ihr Leuchten
Klang aus siebenfachem Erz
Heilig dunkles Zeichen.

So beginnt ihr siebenstrophiges Gedicht über den Weg des Menschen.

‹Licht und Finsternis – Michael›, 1996

Als erste Malschülerin Gerard Wagners durchlebt sie eine künstlerische Krise. Später beschreibt sie deren Überwindung als Katharsis: «Der Bann war gebrochen! Es ging weiter, wie ein Naturgesetz, von einer Übung zur nächsten. Es gab kein Anhalten mehr […] Nun begann ein Weg, der mich selber total überraschte und erstaunte: eine sichere Führung von Bild zu Bild, von Motiv zu Motiv […].» Sie schreitet voran in der sich vollendenden Blüte ihres künstlerischen Schaffens als Malerin, Dichterin, Eurythmistin. Ganz neue Motive und Darstellungsformen erwachsen ihrem kosmisch orientierten Fragen und Suchen. Neuartige Sternkarten mit den aufgrund der Sonnenpräzession sich laufend verändernden Tierkreisstellungen der aufeinanderfolgenden Kulturepochen entstehen. Schon vorher hatte sie 7 x 12 Bilder gemalt, in welchen sie die klassischen Planeten über ihre in Laut und Farbe sich offenbarenden Qualitäten aus der Forschung Rudolf Steiners durch die Folge der farblichen Grundstimmungen der Tierkreiszeichen wandern lässt – eine auf exakter Fantasie beruhende künstlerische Forschungsarbeit, ihre wichtigste, wie sie rückblickend konstatiert.

Etwas ihrer Farbenkunst Vergleichbares begegnet uns in ihren intuitiv empfangenen Bildmotiven, die von ihr als Schwarz-Weiß-Zeichnungen in Schrägschraffur geschaffen wurden, beispielsweise für die 52 Wochenbilder des ‹Seelenkalenders›3, aber auch in weiteren Arbeiten, so dem zwölfteiligen gewaltigen Bilderzyklus ‹Aufbruch des Bösen›.

Die Bildende Kunst in ihren Ausdrucksmitteln der Malerei und der Schraffurzeichnung bleibt eines der künstlerischen Betätigungsfelder von Elisabeth Koch. Als das zweite erwächst ihr die Dichtung. An die 100 Gedichte jährlich entspringen in dieser Zeit ihrem Seelenkosmos. Ihre Gedichte sind in meisterhaft gesetztem Metrum und flüssiger Rhythmik gesetzt. Eine Lyrik, die Weltenschein dem eigenen Seelensein verbindet, Brücken bauend zwischen dem Ich, Du und Es. Die meisten ihrer Gedichte entstanden in ihren späteren 30er- und frühen 40er-Jahren, auch diejenigen, die von Alters- und Todeserlebnissen sprechen. «Die Gedichte, sie waren jeweils schon da, man musste sie nur hervorholen und niederschreiben», so ihre Worte, auf deren Entstehung angesprochen.

1989 wird Elisabeth 66-jährig. Ihr künstlerisches Schaffen scheint weitgehend versiegt zu sein. Nicht weniger produktiv ist sie nun, jedoch anderen Aufgaben zugewandt: dem Aufbau, dem Betrieb und der Leitung der mit ihrem künstlerischen Mentor und ehelichen Lebensgefährten Gerard Wagner gemeinsam geführten Malschule, mit pädagogischen Aufgaben und solchen der Weitergabe und Pflege des künstlerischen Impulses Rudolf Steiners, in den Ausdrucksformen ihres Lehrers und Weggefährten. Ihr Einsatz gilt außerdem der geordneten Archivierung und Dokumentation dessen malerischen Werkes, auch nach seinem Tod 1999. Wenige malerische Spätwerke folgen. Klar und ausgewogen erscheinen diese, ikonenhaft in der Formensprache, in leisen Farbtönen gehaltene Meditationsbilder: eine Bildserie zu den Tonintervallen, von der Prim zur Septim, mit Motiven aus dem Christusleben; Erdengeburt und Himmelsgeburt; und schließlich ihr letztes Bild, das noch bei ihrem Schwellenübertritt unvollendet auf der Staffelei steht: eine Huldigung der Madonna, in himmlische Höhen entschwebend.

In die Reifezeit ihres künstlerischen und pädagogischen Wirkens gehören die Vollendung bedeutender Dichtungen, wie das bereits 1959 in erster Fassung geschaffene Drama ‹Kampf um die Menschenform. Versuch eines Michaelspiels›, ihre ‹Schulklassenspiele› sowie bebilderte ‹Farbgeschichten›. In Zusammenarbeit mit Gerard Wagner entsteht 1979 das Schulungsbuch ‹Die Individualität der Farbe›. Die Texte verfasst sie. Sie schreibt darin: «Wir stehen am Ende der Kunst, die aus Begabungskräften alter Art schöpfen konnte. Wir stehen am Aufgang einer neuen Epoche, in welcher aller Fortschritt in den Willen des Menschen selber gelegt ist. Keine ‹Begabtenförderung›, sondern Übungswege werden die Grundlage einer Kunsterziehung für die Zukunft sein.»

Elisabeth Wagner-Koch, Foto: Barbara Schnetzler

2022 – Elisabeth wird 99-jährig. Endlich ist dem malerischen und dichterischen Werk von Elisabeth in den letzten zwei Jahren ihres Lebens – über Bücher, das Internet und eine große Ausstellung im Goetheanum – der Weg in die breite Öffentlichkeit bereitet worden.4 In Zusammenarbeit mit der Sektion für Bildende Künste wurde im Goetheanum von Herbst 2020 bis Pfingsten 2021 eine Werkschau organisiert; bedingt durch die Covid-Maßnahmen allerdings nicht mit dem erhofften Publikum. Eine feierliche Eröffnung und eine würdigende Schlussfeier umrahmten die Ausstellung. Unvergesslich bleibt ihr mächtig gesprochenes «Urwort tönt – Es Werde!» aus ihrem Gedicht ‹Viele Nächte lag ich wach›.

Auch zu Elisabeths 99. Geburtstag am 29. Juni 2022 fand eine von den Freunden des Gerard-und-Elisabeth-Wagner-Vereins inszenierte Feier statt. Die Geburtstagsfeier wurde gleichzeitig zur Vernissage des zweibändigen Gedichtwerkes von Elisabeth, das auf diesen Feiertag erstmals vorgestellt werden konnte. Mit sonorer, klarer Stimme richtete die greise Jubilarin, von zwei Freunden gestützt, ihre spontane Botschaft des Dankes und der guten Wünsche an die feiernde Gemeinschaft.

Die Sorge Elisabeths um die Zukunft der Welt, der Erde, kommt darin zum Ausdruck, dass sie in ihrer letzten Lebenszeit immer wieder die Rudolf Steiner zugeschriebenen Worte zitiert: «Noch nie hat die Welt so nahe am Abgrund gestanden wie heute», im Sprechen das Adverb ‹nie› enorm dehnend und ihm eine Sprechpause folgen lassend, damit andeutend, dass dieser Aussage zweifelsfrei auch für die heutige Zeit Gültigkeit zukommt.

Größer als das Leben
Bist du mir, oh Tod.
Führst auf Lichteswegen
Meinen Geist zu Gott.
Lehrtest mich: das Leben lieben.
Weisest nun: Verwandlung üben.

Mit Elisabeth Wagner-Koch hat die vielleicht letzte noch während der Lebenszeit Rudolf Steiners geborene Persönlichkeit, die zudem fähig und willens war, ihr Lebenswerk vorbehaltlos dem Dienst der Anthroposophie zu weihen, die Erde verlassen.

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Footnotes

  1. Vgl. Ernst Schuberth, Elisabeth Wagner-Koch, Leben und Werk. S. 12 f.
  2. Ernst Schuberth hat Elisabeths Herkunft in der biografischen Skizze ‹Elisabeth Wagner-Koch, Leben und Werk› (Privatdruck) beschrieben.
  3. Rudolf Steiner, Anthroposophischer Seelenkalender. Zwölf Stimmungen. Mit Zeichnungen von Elisabeth Wagner. Verlag des Ita-Wegman-Instituts, 2013.
  4. Elisabeth Wagner. Einblicke in das geisteswissenschaftlich-künstlerische Schaffen aus dem kosmischen Bildekräftewesen der Farben – auf dem Übungsweg zeitgemäßer Mysterienkunst. Zur Ausstellung ihres Werks am Goetheanum Weihnachten 2020, für den Gerard-und-Elisabeth-Wagner-Verein herausgegeben von Franz Lohri. Und: Elisabeth Wagner-Koch, Gedichte Band I und II. Für den Gerard-und-Elisabeth-Wagner-Verein herausgegeben von Ernst Schuberth, Verlag am Goetheanum, 2022.

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