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Eine Lücke wird geschlossen

So beschreiben David Marc Hoffmann und Hans-Christian Zehnter die Herausgabe der Vorträge zum ‹Christentum als mystische Tatsache›, in denen Rudolf Steiner den Bogen der antiken Mysterien zum Christentum und zu der damaligen Theosophie spannt. Es sind die frühesten stenografierten Vorträge von Rudolf Steiner.


Nach langjähriger editorischer Arbeit sind im Spätsommer mit dem Titel ‹Antike Mysterien und Christentum› die frühesten Vorträge Rudolf Steiners, von denen eine Mitschrift vorliegt, erschienen (1901/02). Rudolf Steiner entwirft darin geistige Linien von Heraklit über Augustinus zu Scotus Eriugena. Was kurz danach als konzentriertes Buch ‹Das Christentum als mystische Tatsache› erscheint, das trägt er hier ausführlich in 24 Vorträgen vor.

Goetheanum Das 2016 gesteckte Ziel, bis 2025 tatsächlich alle Manuskripte und Mitschriften Rudolf Steiners veröffentlicht zu haben, habt ihr bald zur Hälfte erfüllt. So steht es im Archivbericht.

David Marc Hoffmann Wir haben damals einen Zehnjahresplan vorgelegt für die Edition. Uns war wichtig, diesen Mut aufzubringen, die Gesamtausgabe abzuschließen. Bei der Gesamtausgabe Rudolf Steiners wurde ja mit Elan begonnen. Dann taten sich neue Bände auf. Wir sahen, dass es eine Never Ending Story zu werden drohte, mit Dokumentationsbänden usw. Deshalb besannen wir uns auf eine Gesamtausgabe mit einem enger gezogenen Werkbegriff. Wir publizieren keine dokumentarischen Bände, sondern allein die schriftlichen Werke, publizierte und nachgelassene, sowie alle erhaltenen Vorträge. Nicht aber Dokumente, Protkollnotizen u.Ä. Hella Wiesberger hatte schon 1961 zu Steiners 100. Geburtstag eine Abschlussplanung vorgelegt mit der vollständigen Bibliografie. Bis zur Nr. 354, dem letzten Arbeitervortragsband, reichte ihr Editionsplan. Den haben wir aufgenommen und geschaut, was seit 1961 fehlt und was neu dazugekommen ist. 53 noch zu editierende Bände sind es geworden: Schriften, Aufsätze aus dem Nachlass, öffentliche Vorträge, Mitgliedervorträge und Sachgebietsvorträge. Wir haben jeden einzelnen Band beschrieben und uns auch zu ga 87 durchgerungen, dem jetzigen Band. Wir sind also tatsächlich bald bei der Hälfte des Weges angelangt und wollen ihn gerne zum 100. Todesjahr vollenden.

Für unsere Ressourcenplanung haben wir die 53 Bände, die Jahre und Mitarbeiter aufgelistet und ihre Kapazitäten in Mitarbeiter-Monaten. Wir haben festgesetzt, wie viel Aufwand ein Band haben soll. Wir sind auf insgesamt 44 Arbeitsjahre für eine Einzelperson gekommen. Nun sind wir mittlerweile acht Herausgeber. Den Aufwand für die 44 Mitarbeiterjahre haben wir inklusive Nebenkosten für das Archiv auf 7 Millionen Franken berechnet. Diese gründliche Planung hat auch große Stiftungen überzeugt, sodass viele Mittel geflossen sind.

 


Archivalien zur Herausgabe. Foto: W. Held

Archivalien zur Herausgabe. Foto: W. Held

 

Das sind sowohl anthroposophische als auch nicht anthroposophische Stiftungen?

Hoffmann Die anthroposophischen Stiftungen Software AG, Damus-Donata und Humanus-Stiftung sind groß eingestiegen. Hinzu kamen auch andere Stiftungen wie die Edith-Maryon-Stiftung und viele kleine Einzelspenden – von 20 Franken bis 10 000 Franken. Es gab auch Zuwendungen für einzelne Bände. Zum Beispiel hat sich die Freie Gemeinschaftsbank entschieden, die beiden Bände zur Dreigliederung voll zu finanzieren. Eine Privatperson hat zugesagt, die Finanzierung von 75 000 Franken für einen Band, an dem sie interessiert ist, voll zu übernehmen.

Zehnter Daneben laufen auch die Neuauflagen auf Hochtouren. Das darf man nicht vergessen. Andrea Leubin hatte zum Beispiel gerade die Lehrerkonferenzen und medizinische Vorträge in Arbeit.

Hoffmann Außerdem haben wir z. B. parallel ‹Aus der Akasha-Chronik› von Grund auf neu durchgesehen und wieder aufgelegt.

Welchen Stellenwert hat der Zyklus ‹Antike Mysterien und Christentum› in dem Zehnjahresprojekt?

Hoffmann Der erste Editionsversuch bestand in einer Prüfung in Bezug auf die Qualität der Überlieferung und des Textes. Das ist damals nicht weiter gediehen. Dann wurde ich 1988 bis 1991 als damals junger Germanist und Philologe mit Ulla Trapp darangesetzt und wir haben die Manuskripte durchredigiert. Wir mussten erkennen, dass unsere Textbearbeitung so eingreifend und übergriffig erschien, dass wir am Ende sagten, wir dürfen diesen Versuch nicht unter dem Namen Rudolf Steiner publizieren.

Gab es das schon einmal vorher, dass man nach so langer Arbeit diese Arbeit verwerfen musste?

Hoffmann: Nein, es war ein Sonderfall, weil es der erste mitgeschriebene Vortragszyklus von Steiner war. Stenografiert von Franz Seiler, einem Geschäftsmann, der in seiner Geschäftsstenografie mitgeschrieben hat. Das war abenteuerlich. Er hat schon versucht, wörtlich mitzuschreiben, aber er hat in der Übertragung auch schon mal tief danebengegriffen. Also haben wir diesen Zyklus damals verworfen. Ich bin 1995 vom Archiv weggegangen. Für Ulla Trapp und für mich war es eine Niederlage. Sie hat es dann um die Jahrtausendwende von Neuem versucht. Man hatte im Archiv aus editorischer Verantwortung allerdings wieder Bedenken. Bei der Planung der Vollendung der Gesamtausgabe war die Frage, was wir damit machen, von Neuem auf dem Tisch. Ich empfand es beinahe karmisch: Nun bin ich seit 2012 wieder da und muss es jetzt anpacken. Ich wollte es aber nicht alleine machen und habe Hans-Christian Zehnter mit ins Boot geholt.

Mich überrascht, dass ich wenig Lücken im Text gefunden habe, wo sich der Stenograf mal kurz die Nase putzt.

Hans-Christian Zehnter Man merkt es inhaltlich, wo eine Lücke sein könnte – ausgewiesen im Steno ist sie nur selten.

Hoffmann Deswegen waren wir sehr zurückhaltend: Alle unsere Eingriffe, Ergänzungen, Änderungen, Bemerkungen sind in eckigen Klammern im Text markiert und in den Hinweisen ausgewiesen.

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Die 24 Vorträge waren nicht von Anfang an aufgeschrieben. Das war nicht Steiners Arbeitsmethode. Sie sind ein Work in Progess. Das spürt man.

Wenn man jetzt liest: «Liebe Anwesende …», dann ist die Vortragsstimmung präsent.

Hoffmann Das war das erklärte Ziel, dass wir den Text als einen gesprochenen Text belassen. Es ist ein gesprochener Text. Es soll nicht suggerieren, dass wir einen abgeschlossenen geschriebenen Text vor uns haben.

Zehnter Der fünfte Vortrag beginnt z. B. mit: «Ich muss um Entschuldigung bitten wegen meiner Erkältung; es wird schwierig sein, mich anzuhören.» Das ist die Lebensrealität des Vortragenden.

Hoffmann Weil wir seit 2016 die Editionsrichtlinien publiziert hatten, hatten wir eine feste und zuverlässige Handhabe. Franz Seiler hatte die Vorträge mitgeschrieben und die ersten drei Vorträge schon 1901 übertragen. Dann hat er abgebrochen, weil es scheinbar keinen Bedarf gab oder ihm die Zeit fehlte. Erst in den 1950er-Jahren hat man erfahren, dass die Stenogramme noch existieren. Dann ist jemand nach Berlin gefahren, hat Franz Seiler im hohen Alter getroffen, der bereit war, die Sache zu übertragen und auf seinem Sofa liegend jemandem in die Maschine zu diktieren. So sind die neuen Übertragungen nun aller 24 Vorträge entstanden, ergänzend zu den drei, die wir schon hatten. Die Übertragungen hat man gleich auf Durchschlagpapier geschrieben. Außerdem sind sie wiederum abgeschrieben worden und haben sich in diesen Abschriften ‹verselbständigt› und kursierten in der Mitgliedschaft. Ein Exemplar ist damals zum Beispiel an Manfred Schmidt-Brabant gegangen.

Zehnter Es ist ein Wunder, dass diese Mitschriften noch existieren. Ich vergleiche das gerne mit Leonardo da Vincis ‹Abendmahl› in Mailand. Das ist im Weltkrieg bombardiert worden, nur die Wand mit dem Bild ist stehen geblieben und mehrfach renoviert worden, mehr schlecht als recht gelungen. Erst jetzt ist eine Fassung entstanden, die jeder gerne erlebt. So habe ich den Eindruck auch von dem Band. Es gab mehrere Anläufe, das Werk hat zwei Weltkriege überstanden und nun ist hoffentlich eine Fassung entstanden, zu der man gern Ja sagt.

Hoffmann Wir haben die verschiedenen Textgrundlagen, zum Beispiel das Schmidt-Brabant’sche Exemplar oder das von Ulla Trapp, mit unseren überlieferten Versionen verglichen. Wir saßen zu dritt zusammen und einer las laut vor, um herauszufinden, was nicht übereinstimmt. So gewannen wir Einblick in die verschiedenen Überlieferungen. Viele Stellen sind unklar oder kryptisch. Immer wieder mussten wir eingreifen. Aber alle Eingriffe sind in eckigen Klammern im Text sichtbar und in den Hinweisen ausgewiesen. Geholfen haben uns vor allem zwei Werke der nachgelassenen Bibliothek Rudolf Steiners. Das eine ist Alexander Baumgartners ‹Geschichte der Weltliteratur› von 1897. Das andere ist von Rudolf Seydel, damaliger Philosophieprofessor in Leipzig, ‹Religion und Wissenschaft› von 1887. Diese beiden Werke hat Steiner intensiv verwendet. Wir haben Stellen so lebhaft angestrichen und kommentiert mit Randbemerkungen gefunden, dass deutlich wurde, das sind die Vorlagen gewesen, aus denen Steiner während des Vortrags zitiert hat. Es ist ein Glück, dass wir diese Werke haben! So können wir die schlecht nachgeschriebenen Stellen durch die offenbar zitierten Stellen ersetzen. Rudolf Steiner hatte diese Werke beim Vortrag auf dem Tisch. Es ist häufig so, dass Stenografen bei Zitaten ab und zu aussetzen, weil sie denken, sie könnten die Zitate später nachschlagen. Dann gibt es im Steno nur Stichworte. Anhand der Bücher konnten wir den eigentlichen Text dann rekonstruieren.

Zehnter Eine Markierung Steiners bei Baumgartner ist eindrucksvoll. Steiner nummeriert dort Begriffe, die Baumgartner aus dem ägyptischen Totenbuch referiert. Eins: Leib, zwei: geistiger Leib, drei: Seele, vier: Genius, fünf: der Schatten, sechs: der Geist, sieben: Intelligenz. Rudolf Steiner überträgt seine Terminologie auf das ägyptische Totenbuch, legt sie drüber, um nachzuweisen, dass die Siebengliederung damals schon gelebt hat und keine Erfindung der Theosophie ist. Es ist eine Geistesweisheit der Welt!

 


David Marc Hoffmann und Hans-Christian Zehnter. Foto: W. Held

David Marc Hoffmann und Hans-Christian Zehnter. Foto: W. Held

 

Das ergibt diese 100 Seiten Anmerkungen, obwohl ihr die Bände doch schlanker machen wolltet.

Hoffmann Das war eine Frage der wissenschaftlich-editorischen Redlichkeit. Wir bauen auf die autonomen Leser, die selbst beurteilen können und müssen, wie sie mit einem Text umgehen. Wir können nicht einen Text willkürlich ändern, ohne es auszuweisen, weil wir es ‹besser› zu wissen meinen.

Zehnter Dann hätten wir vor demselben Ergebnis gestanden wie die Vorgänger. Jetzt haben wir alles ausgewiesen und so ist es deutlich, was Steiner-/Seiler-Text ist und was von uns ist.

Hoffmann Wir sind uns bewusst, dass gewisse Eingriffe als problematisch verstanden werden können. Aber dann hat man in den Hinweisen die andere Version. Jemand kann sagen, er stimmt den Herausgebern nicht zu. Die Lesenden können eine andere Version favorisieren. Alles Nötige dazu findet sich in den Hinweisen.

Es ist in der Genese komplex, und im Inhalt: Ich kenne nicht viele Zyklen, die die Anthroposophie so im christlichen und allgemeinen Mysterienstrom verankern.

Zehnter Der Band ist eine Grundlage der Anthroposophie. Es ist eine Lücke, die geschlossen wird.

Hoffmann Eine frühe Lücke, weil deutlich wird, wie sich Steiner diesen komplexen und für ihn in der Terminologie auch neuen Kontexten annähert, wie er ringt, um verstanden zu werden und selbst zu verstehen. Es ist im Übrigen auch so, was er im ‹Lebensgang› sagt, dass er über eigene spirituelle Erkenntnisse Belege in der Literatur findet. Man kann sagen, er hat es von Baumgartner. Aber die Zuordnung der Wesensglieder zu den Bezeichnungen im ägyptischen Totenbuch ist Steiner. Wir haben hier einerseits die Quelle, die Steiner zu Erkenntnissen inspiriert. Andererseits ist es seine eigene geistige Forschung, die zurückleuchtet auf die Quellen.

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Der Zyklus ist eine Grundlage der Anthroposophie und wenn man ihn gelesen hat, weiß man, worum es ihm ging – die Anbindung einer neuen Geisteswissenschaft an eine Tradition, die sich in Mitteleuropa entwickelt hat.

Mich hat überrascht, dass er die Pythagoreer so zentral bringt.

Hoffmann Viele sind zentral. Augustinus findet breite Anerkennung, Heraklit hat einen enormen Stellenwert. Das hängt auch damit zusammen, dass ihm das Buch ‹Heraklit und die antiken Mysterien› von Pfleiderer zur Verfügung stand. Es hat zum ersten Mal ein ‹exoterischer› akademischer Wissenschaftler über die Mysterientradition, in der Heraklit gestanden hat, publiziert. Da konnte Steiner gut anknüpfen und hat das genutzt.

Zehnter Otto Willmanns ‹Geschichte des Idealismus› war eine zentrale Referenz von Rudolf Steiner für diese Vortragsreihe. Dort kommen die Pythagoreer ausgiebig zum Zuge. Steiner dokumentierte mit seinen Vorträgen seine spirituelle Kompetenz. Er selbst hatte gerade als junger Mensch über die Geometrie und die Zahlen einen Zugang zur geistigen Welt. Insofern ist nachvollziehbar, dass in diesen Vorträgen die Pythagoreer auch eine große Rolle spielen.

Weiß man, wie lange vor den Vorträgen er die Bücher gelesen hat? Spricht er aus der unmittelbaren Lektüre?

Hoffmann Die 24 Vorträge waren nicht von Anfang an aufgeschrieben. Das war nicht Steiners Arbeitsmethode. Sie sind ein Work in Progress. Das spürt man. Das zeigt sich auch daran, dass er für das Buch ‹Das Christentum als mystische Tatsache›, das er 1902 publiziert hat, nicht auf die Stenogramme zurückgegriffen hat. Das Buch ist dementsprechend etwas ganz anderes als die Vorträge. Man findet die Vorträge nicht als Pendant, sondern das Buch ist ein neuer Griff.

Für die Herausgabe war das Buch also keine Stütze?

Zehnter Nein. Das wäre durchaus eine Verführung gewesen, einen Vergleich zu machen. Um wirklich mit unserer Arbeit durchzukommen, haben wir weitgehend auf einen Vergleich verzichtet.

Hoffmann Auch weil es illegitim ist, ein Früheres an einem Späteren zu messen und es daraufhin auszurichten.

 


Erste Seite der frühen Stenogrammübertragung des zweiten Vortrages mit handschriftlichen redaktionellen Eintragungen von weiteren Händen.

Erste Seite der frühen Stenogrammübertragung des zweiten Vortrages mit handschriftlichen redaktionellen Eintragungen von weiteren Händen.

 

Es ist der frühe Steiner, der die Vorträge hält. Wie ist er euch begegnet? Das ist ja die Morgenröte des Vortragswesens von Steiner. In diesem Panorama ist es doch ein großer Anfangsakkord.

Zehnter Mir scheint, es sind eher Vorlesungen als Vorträge gewesen. Er hat sich als Wissenschaftler in den theosophischen Kreisen mit seinem ganzen Wissen etabliert. Allein schon das Namensregister von GA 87 zeigt, mit welchem Bildungsfundus er gearbeitet hat. Offenbar hat solch ein Vortragsabend etwa zwei Stunden gedauert.

Zu Heraklit, der eine entscheidende Rolle in den Vorträgen spielt: Steiner verstand Heraklit offenbar so, dass für ihn das Feuer das Durchgangsprinzip zum Geistigen war. Da knüpft Steiner an: An die Kontinuität der irdischen Kulturgeschichte, ausgehend von einer göttlichen ‹Kulturgeschichte›.

Hoffmann Der fließende Übergang von den antiken Mysterien zum Christentum, auch der Sohnesgott der antiken Mysterien, die Trinität, all das ist vorchristlich angelegt. Der Durchbruch zur Auffassung des Christentums als kosmisch-irdische Zeitenwende ist noch kaum da.

Zehnter Steiner baut einen großen Spannungsbogen auf. Er sagt immer wieder, wir kommen zum Christentum, dann wendet er sich doch wieder zurück zum Ägyptischen. Man wartet und fragt sich, worin der Punkt besteht, auf den er zugehen will. Er spitzt alles zu auf die Auferweckung von Lazarus, dass dort eine öffentliche Einweihung stattgefunden habe. Deshalb ist unsere Titelwahl auch bezeichnend: ‹Antike Mysterien und Christentum›.

Mir ist ein Satz aufgefallen: «Die Keime zu legen […], was das mystische Mittelalter dann gebracht hat.» Steiner geht es um die Verwurzelung der Anthroposophie?

Zehnter Es ist eine Grundlage der Anthroposophie. – Es ging ihm um die Anbindung einer neuen Geisteswissenschaft an eine Tradition, die sich in Mitteleuropa entwickelt hat. Die Theosophen haben sich auf Helena Blavatsky bezogen und ihre Werke. Steiner holte es mit einem großen Schwung in die westliche Welt hinein.

Hoffmann Es ist im Anschluss an die Vorträge über ‹Die Mystik›, die hauptsächlich die deutschen spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Mystiker betrifft. Jetzt zeigt er die Kontinuität der antiken Mysterien mit der ganzen europäischen Mystik – und das vor dem Hintergrund des Übergangs von heidnischem zu christlichem Zeitalter.

Welchen Stein wollte er da hauen? Mit welchen Widerständen hat er da geistig gerungen?

Hoffmann Manchmal waren wir ungeduldig. Er kündigt etwas an und löst es im nächsten Vortrag nicht ein. Der Umgang mit dem Christentum war für Steiner in dieser mystischen Art auch ein neuer Zugang. Er beschreibt es auch in ‹Mein Lebensgang›. Es war wahrscheinlich auch eine sprachliche, begriffliche Einübung in den theosophischen Kontext, in dem er sprach. Es ist vieles erst ansatzweise da.

Zehnter Die Parallele zu Steiners eigenem Einweihungsweg wird ihm dadurch deutlicher geworden sein und ist für die Zuhörer ein wenig dokumentiert worden.

Hoffmann Während im Theosophischen die Einweihung mit Buddha und dem orientalisierenden Weg zusammenhing. Jetzt tritt Steiner auf als Hegelianer, der er war, als Nietzscheaner, Goetheaner. Jetzt spricht er mit diesem Hintergrund vor einem theosophischen Publikum.

Das Buch erscheint etwa in der Hälfte dieses großen Laufes zur Vollendung der Gesamtausgabe. Ist es auch ein bisschen das Herz des Zehnjahresprojektes?

Hoffmann Es ist ein wichtiger Baustein für die Darlegung von Steiners Entwicklungsweg im Übergang der Berliner Boheme, in der er sich immer noch befindet. Er ist immer noch in der Arbeiterbildungsschule, im Kreis der Kommenden. Da ist der Band ein wichtiges dokumentarisches Werk. Innerhalb der Gesamtausgabe ist es ein Band, der uns sehr viel Zeit und Mühe gekostet, aber auch viel Sorgfalt und Klärung gebracht hat. Er hat uns gezeigt, wie wir edieren können.


Buch Antike Mysterien und Christentum. 24 Vorträge über das Christentum als mystische Tatsache, gehalten in Berlin vom 19. Oktober 1901 bis 26. April 1902. Rudolf Steiner Verlag, 2019.

Titelbild: Stenogrammheft Nr. 1 der insgesamt drei Stenogrammhefte von Franz Seiler zu den in GA 87 publizierten Vorträgen und die erste Seite des Stenogramms vom Vortrag vom 19. Oktober 1901. Alle Abbildungen: © Rudolf Steiner Archiv

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