Ein toller Kerl

Der Rezitator Alexander Strakosch

Marginalien zu Rudolf Steiners Leben und Werk 25.


Rudolf Steiner hatte von seinem Freund Moritz Zitter schon viel von dem berühmten Rezitator Alexander Strakosch gehört, bevor er ihn persönlich kennenlernte. Strakosch trug am 14. und 16. Januar 1892 im Weimarer Hoftheater verschiedene Dichtungen vor – u. a. Fausts großen Monolog und eine Szene aus Schillers ‹Demetrius›. Nach der Aufführung saß er offenbar noch lange mit Rudolf Steiner beisammen: Bei «erhöhter Temperatur zu mächtigen Freundschaftsäußerungen bewogen», schrieben sie «eine fast mitternächtliche Bierkarte» an Moritz Zitter.1 Ein Echo dieses Gesprächs findet sich in dessen Brief vom 2. Februar 1892: «Ihr müßt übrigens in sehr lieber Weise von mir gesprochen haben, denn er ist ganz entzückt. Für Dich aber hat er nur Superlative!»2

Alexander Strakosch (Sebeskellemes, Ungarn, 3.12.1840–17.9.1909, Berlin), Sohn eines jüdischen Kaufmanns, fiel früh durch sein ausgezeichnetes Gedächtnis auf, das ihm erlaubte, lange Gedichte und das ganze Buch Hiob auswendig herzusagen. Er sollte deshalb Prediger werden, lernte jedoch zunächst in Wien Buchhalter und bildete sich nebenher zum Schauspieler aus. Wegen seiner sehr kleinen Gestalt mit dem «Haupt des Giganten»3 war er jedoch nicht wirklich als Schauspieler geeignet. Dafür entdeckte er die Rezitationskunst für sich, in der er sich u. a. in Paris weiterbildete. Als Rezitator wurde er so berühmt, dass er große Tourneen durch Europa, die Türkei und Amerika unternehmen konnte. Später wirkte er unter Heinrich Laube am Burgtheater und am Volkstheater Wien als Sprechmeister. Zuletzt unterrichtete er an der Schauspielschule Max Reinhardts in Berlin.

Strakosch war viermal verheiratet. Nach dem frühen Tod seiner ersten Frau Toni Fürst (1852–1873) heiratete er 1874 Anna Götzel (1852–1911). Das Ehepaar ließ sich 1890 scheiden – und Anna Strakosch verehelichte sich sofort mit dem damals populären Schriftsteller Gustav Freytag. Nun erfuhr Rudolf Steiner im Januar 1892 zu seiner großen Überraschung von Alexander Strakosch, dass dessen geschiedene Frau eine Jugendfreundin von Helene Specht gewesen war. In der Wiener Familie Specht war Rudolf Steiner sechs Jahre Hauslehrer gewesen, und so schrieb er in einem Brief an Pauline Specht: «Er erzählte mir, was ich bisher nicht wußte, daß er früher viel in Ihrer Familie verkehrt hat, daß die jetzige Frau Freytag eine Freundin Ihrer Frau Schwester war. Donnerwetter!»4 Auch Strakosch vermählte sich wieder – 1891 heiratete er in Schlesien Ortrud Menzel. Die Auflösung dieser dritten Ehe 1902 wirft ein interessantes Licht auf die damaligen Kulturverhältnisse: «Professor Strakosch ist Israelit, seine Gattin war Protestantin. Da eine derartige Mischehe nach dem österreichischen Gesetze nicht gestattet ist, wurde das Verfahren wegen Ungiltigkeit der Ehe eingeleitet.» Immerhin wurde den Kindern aus dieser Ehe jedoch «die Legitimität gewahrt».5 Es folgte noch eine vierte Ehe, sechs Wochen vor seinem Tod, mit seiner Schülerin Leopoldine Konstantin.

Wenige Tage nach dem oben erwähnten Weimarer Treffen grüßte Strakosch aus München seinen «teuren, teuren Freund» Rudolf Steiner «noch sehr bewegt» mit «ewigem Dank für die beispiellose Güte und Freundschaft».6 Und am 30. Januar 1892 heißt es in einem langen Brief: «Aus Herzens Herzensgrund Dank für Ihren mich beglückenden Brief. Sie wissen ja nicht, wie lieb ich Sie habe.» Der überschwängliche Ton dieser Briefe lässt verstehen, dass Rudolf Steiner am 20. Januar 1892 an Pauline Specht schreibt: «Ist dieser Strakosch ein toller Kerl! Ein nachläufiger Romantiker mit einem Bodensatz von wahrem Gefühle, verbrämt mit endlosem Wust von Phrase, von falschem Pathos. Ich meine nicht seine Declamationskunst, sondern sein Verhalten im Leben. Er setzt jedes Wort auf eine Stelze. Da schreiten sie dann drolligst einher – diese übermäßig großen Massen von Stelzenworten.»7

Bühnenkunst braucht Temperament

Rudolf Steiner muss Strakosch später in Berlin wieder begegnet sein und Gelegenheit gehabt haben, ihn mit Schauspielern arbeiten zu sehen, denn er erzählt mehrfach davon. So heißt es im ‹Dramatischen Kurs› 1924, Strakosch sei «mehr orientiert darauf» gewesen, «die Dinge gewaltmäßig mit den Schülern einzustudieren»: «Von diesem Gesichtspunkte aus war es interessant, gerade bei dem alten Strakosch zu sehen, wie er die Leute dressierte, aber mit dem allerbesten Willen und mit einer auch im Sinne der damaligen Zeit nicht schlecht gehaltenen Kunst. Wenn er irgendetwas einem Schüler eintrichterte, dann war der Schüler bald aufrechtstehend, bald fühlte er sich, wie wenn ihm der Strakosch alle Glieder ausrenken wollte, vor allen Dingen die Lenden ausbiegen wollte, sodass die Beinkugeln oben rauskommen konnten; bald sah man den Schüler auf dem Boden liegen, Strakosch oben drauf, wenn es losgehen sollte, und dazwischen dann die anderen Nuancen. Aber, sehen Sie, Temperament war darinnen. Temperament braucht man zur Bühnenkunst.»8

Und wenige Tage später erzählt er über Alexander Strakosch, der «wirklich einen großen Einfluss gerade als Bühnenrezitator hatte»: «Er war kein guter Regisseur, er war gar kein Schauspieler; er wirkte in der letzten Zeit, namentlich wenn er als Schauspieler auftrat, sogar etwas manieriert. Aber er hatte das Zeug, bis in das Erleben hineingehen zu können in der Sprachgestaltung. […] Strakosch hat eigentlich im Gehör den Charakter aufbauen lassen.» Bei einer Shakespeare-Versammlung mit Professoren und Schauspielern, so berichtet Rudolf Steiner weiter, fragte er Strakosch: «Nun, Herr Professor, sagen Sie uns jetzt, wie ist Ihre Auffassung des Hamlet? – Sehr innerlich! – Das war alles, was er sagte. Er hörte, gestaltete darnach ganz wunderbar, konnte aber eigentlich nichts darüber sagen, als: Sehr innerlich […], weil er in der Tat kaum je Zeit hatte, über diesem Hören zu irgendeiner verstandesmäßigen Interpretation zu kommen.» (23.9.1924, GA 282)

Man kann vermuten, dass Rudolf Steiner, wenn er wieder und wieder in den Ansprachen zur Eurythmie davon spricht, man müsse in der die Eurythmie begleitenden Rezitation zu alten Formen dieser Kunst, wie man sie noch im 19. Jahrhundert erleben konnte, zurückkehren, unter anderen auch Alexander Strakosch innerlich vor sich hatte. So heißt es in einem Nachruf auf Strakosch: «In ihm haben wir die glänzendste Lösung des Problems der Herrschaft des Geistes über die Stimme. […] Die Moderne wird’s nicht verstehen wollen, wie man so begeistert sein kann für ‹Überlebtes›, nein, aber für ‹Erlebtes›! Man muss Strakosch erlebt, gehört haben, und das Herz wird wieder warm und der Sinn glühend bei der Erinnerung an sein Künstlertum. Der Ibsenkult und seine Schule wird jenes alte, erhebende Pathos nicht fortwischen; denn es gibt Dinge in der Kunst und im Volksleben, die nur vom Pathos emporgetragen werden können, um so ihre Mission zu erfüllen. – Die Herrschaft des Geistes über die Stimme!»9

Die Bekanntschaft Rudolf Steiners mit dem berühmten Rezitator hatte noch ein interessantes Nachspiel: Am 26. März 1908 hielt er im Berliner Architektenhaus einen Vortrag über «Sonne, Mond und Sterne», den nicht nur Wassily Kandinsky, sondern auch seine Schülerin Maria Strakosch-Giesler (1877–1970) und deren Mann, der Ingenieur Alexander Strakosch (1879–1958), besuchten. Tief berührt, erzählt dieser, ging das Ehepaar nach dem Vortrag Hand in Hand nach vorne und stellte sich Rudolf Steiner vor: «Ich nannte meinen Namen und Vornamen, worauf er mich etwas erstaunt, aber ohne Abweisung ansah und sprach: ‹Der sind Sie ja gar nicht.› Ich war überrascht und versicherte, dass ich es doch sei; er aber meinte: ‹Aber den kenne ich doch, und Sie sind es nicht.› Schließlich lud er uns freundlich ein, ihn am nächsten Nachmittag zu besuchen. (Damals hatte ich natürlich noch keine Ahnung, dass Rudolf Steiner mit dem berühmten Rezitator und Dramaturgen des Wiener Burgtheaters, der auch Alexander Strakosch hieß, einem Vetter meines Vaters, befreundet war und gemeint hatte, ich wollte mich für diesen ausgeben.)»10 Alexander Strakosch – der Großneffe des Rezitators Alexander Strakosch – und seine Frau wurden esoterische Schüler und wichtige Mitarbeitende Rudolf Steiners.


Bild Alexander Strakosch

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Footnotes

  1. So Moritz Zitter an Rosa Mayreder am 7. Februar 1892 (RSA).
  2. Schon am 26. Januar 1892 hatte Zitter an Alexander Strakosch geschrieben: «Und nun lassen Sie mich Ihnen nur sagen, wie innig ich mich freue, daß Sie Dr. Steiner ebenso verehren wie ich. Ich muß gestehen, daß er mir, bis ich Sie gefunden, ein einziger Freund war, und daß es keine Liebe und keine Opfer gibt, die ich ihm nicht erweisen möchte.» (RSA) Auch geht aus diesem Brief hervor, dass Strakosch Zitter aus finanziellen Nöten half und nach einer Stelle für ihn suchte.
  3. Aus einem Nachruf, siehe Fußnote 9.
  4. Brief vom 20.1.1892, in: Rudolf Steiner, Sämtliche Briefe 2. Basel 2023, S. 334.
  5. Illustrirtes Wiener Extrablatt vom 10. Juni 1902, S. 10.
  6. Brief vom 19.1.1892, RSA.
  7. Siehe Anm. 3, S. 334.
  8. Vortrag vom 23.9.1924, in: Rudolf Steiner/Marie Steiner-von Sivers, Sprachgestaltung und Dramatische Kunst, GA 282, 4. Aufl. Dornach 1981.
  9. Reinhold Braun, «Alexander Strakosch», in: Die Stimme. Centralblatt für Stimm- und Tonbildung. Berlin 1909/10, S. 244. Seine Sprechweise wird dort so beschrieben: «Die große, empfindsame Seele des Künstlers, die im Löwenzorn wüten und im Kindertraum lächeln konnte, fand durch dieses Organ ihren unvergesslichen Ausdruck. Das eherne, blanke Metall, dieser Glockenzauber war dem leisesten Gefühl dienstbar. Nichts Eckiges, Unbehauenes ist ihm jemals entquollen. In zarten, duftigen Klangbällen zitterte der feine Schmerz dahin; äolsharfenweich floss das Liebliche von den Lippen; kesselpaukenwuchtig, donnergrollend fuhr der Zorn, wie zersprungener Fanfarenton der jähe, wilde Schmerz in des Hörers Seele. Dann seine Symbolisierungskunst und Malkraft durch die Eigentöne! Diese Harfenresonanz! Die Vokale waren erzige Klänge, die ‹sch› Konsonanten, wenn es galt, zischelnde Schlangen. Unvergesslich sein ‹R›! Das war bis zum letzten Tage ungebrochene Kraft und unverwelkte Schönheit. Denn Strakosch war auch Diätetiker der Stimme. Dem Meister werden dieses ‹R› viele Jünger danken! […] Welche Empfindungsskala barg seine Seele; welche Töne wusste er bei ihrem Ablauf zu spenden! Die Wandlungskraft seines Organs war ein Phänomen. Das konnte nur einer vollbringen, der seine Stimme bis in die feinste Nuance zügelte. […] Innerstes Erleben der Kunst und Beherrschung unseres Sprachorgans!».

  10. Alexander Strakosch, Lebenswege mit Rudolf Steiner. Erinnerungen.Dornach 1994, S. 25 f.

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