Ein therapeutisches Buch

Hans Memlings ‹Triptychon mit den beiden Johannes›, 1479 fertiggestellt, war als Hauptaltarbild der zum Krankensaal hin geöffneten Kirche des Sint-Janshospitaal in der damaligen Hansestadt Brügge in Auftrag gegeben worden. Ein religiöses und zugleich therapeutisches Kunstwerk.


Wie heilsam das Bild wirken kann, wird von Julia Selg, Kunsthistorikerin und Sprachwissenschaftlerin, und Christiaan Struelens, Priester der Christengemeinschaft und selbst aus Flandern stammend, so nachvollziehbar beschrieben, dass ihr Buch selbst als therapeutisch bezeichnet werden kann. Unter der Bedingung, die Anregungen nachzuvollziehen und zu prüfen. Das Buch ist reich illustriert und eine farbige Reproduktion des Altarbildes ist beigelegt.

Im ersten Teil des Buches lenkt Julia Selg den Blick so einfühlsam auf die bildgestalterischen Mittel des Malers, dass die seelisch-geistige Ausdruckskraft des Bildes weit über das vordergründige Sujet hinaus zu sprechen beginnt. Die Sinne werden wie gereinigt, die Sehgewohnheiten so weit aufgebrochen, dass man schließlich andächtig lauschend wie ein weiterer Zeuge der ‹Sacra Conversazione› zuhört. Dieser Teil wirkt erfrischend und innerlich zur Geistesgegenwart sammelnd.

Im zweiten Teil durchwandert Chris­tiaan Struelens mit Siebenmeilenstiefeln die Jahrhunderte, um eine Ahnung des bewusstseinsgeschichtlichen Umschwungs des 15. Jahrhunderts zu vermitteln. Die vielen Daten, Persönlichkeiten, Namen von geistigen Bewegungen stellen einen zunächst vor eine Herausforderung. Sie dienen aber dem Ziel, die «geistig-seelische Atmosphäre, die das ausgehende Mittelalter durchdrang» und den Nährboden für Memlings eigene künstlerische Inspirationen abgab, empfinden zu können. Danach wird der Blick wieder auf die Betrachtung des Altarbildes gelenkt: Wird jetzt Zusätzliches, Neues ‹sichtbar›? Die Beantwortung liegt bei Leserin und Leser. Überhaupt werden keine Vorstellungen aufgedrängt, sondern Gesichtspunkte angeboten, die zur inneren Freiheit und eigenständigen Urteilsbildung anregen.

Der Titel des zweiten Teils bringt das existenzielle Gesamtanliegen prägnant zum Ausdruck: den Sinn zu heilen, der in der heutigen Zeit arg verkümmert ist, den Sinn für Sinn! ‹Sinn bilden› ist die Losung, die dem Buch brennende Aktualität verleiht. In diesen Pandemiejahren legt der allgemeine Umgang mit Fragen von Gesundheit und Krankheit den ‹Orientierungsnotstand› im gesamten persönlichen und gesellschaftlichen Leben gnadenlos bloß. Krankheit kommt nicht nur aus unverdaulicher Vergangenheit oder von Erregern, die nicht erfolgreich abgewehrt werden können, sondern auch aus einem Mangel an Zukunft, an Sinn, an Zielen, sozialen und geistigen Idealen, die das Leben lebenswert machen und den Willen befeuern. Womöglich sogar vor allem aus Letzterem, weil Wärme auch die Resilienz stärkt und Erstarrungen lösen kann. «Gesundheit ist mehr, als symptomfrei zu leben.» – «Auch das geistig-seelische Klima bedarf der Pflege», wie es in diesem therapeutischen Buch heißt, das einen alten Flügelaltar zu einem zeitlos gegenwärtigen Meditationsbild macht.


Buch Julia Selg und Christiaan Struelens, Der Johannes-Altar von Hans Memling. Betrachtung eines therapeutischen Kunstwerks.Verlag des Ita-Wegman-Instituts, Tübingen 2020.

Grafik: Fabian Roschka

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