Diskurs und Widerstand

Reaktionen auf den Artikel zum ‹Impfpass› von Michael Esfeld, in ‹Goetheanum› 18/2021.


Ich bin der Redaktion des ‹Goetheanums› sehr dankbar, dass sie den Artikel von Esfeld veröffentlicht hat. Der tiefere Sinn dieser Ausführungen könnte nämlich in der folgenden Frage verdichtet werden: Wollen wir wirklich unsere Gemeinschaften – sei es auf lokaler, nationaler oder globaler Ebene – immer mehr so gestalten, dass irgendeine zentralisierte Instanz uns mehr oder weniger zwingt, jedem Mitmenschen prioritär als möglicher Quelle einer Infektion zu begegnen? Wollen wir unsere Kinder in Gesellschaften aufwachsen lassen, die ausschließlich aufgrund der Angst vor dem Tode gestaltet werden, wie es seit über einem Jahr in zu vielen Gesellschaften geschieht? Die Fragen, auf die Esfelds Beitrag hinweist, sind also brennend ‹praktisch› und lebensnah. Denn was ist ‹praktischer› als die Rettung der unantastbaren Menschenwürde sowie der mündigen Schicksalsgestaltung, der Meinungs- und Gedankenfreiheit?

Denn gerade diese im radikalsten Sinne antisoziale und deshalb zerstörerische Wahrnehmung der menschlichen Begegnung und Gesellschaftsgestaltung verbirgt sich in jeglicher Idee bzw. Implementierung eines Impfpasses, von dem ausgehend der Rechtsstatus, das heißt die Würde und Freiheit, einer Person bestimmt werden darf. Ja, wir befinden uns vor einer Weichenstellung, die viel dramatischer ist als bisher. Einerseits ausgehend von den Überwachungs- und Steuerungsmitteln, die heute zur Verfügung stehen. Andererseits ausgehend von der Tatsache, dass ein rein biopolitisches und deshalb radikal antimenschliches Menschenbild – das menschliche Gemeinschaften auf das Niveau von Bakterienkulturen setzt – bisher nie eine solche globale Implementierung erlebt hatte. Nicht einmal vor der schlimmsten Seuche dürfte sich eine authentische liberale, das heißt die Menschenwürde echt als unantastbar wahrnehmende Gesellschaft solche Konzepte erlauben! Umso brisanter ist demzufolge die gegenwärtige Situation, in der das wirkliche Maß an Gefährlichkeit des durchaus ernst zu nehmenden Virus sowie die Art der Begegnung mit ihm gerade in der Wissenschaft viel umstrittener sind, als die politisch korrekte mediale Szene vermittelt. Die gegenwärtige Situation ist deshalb wirklich brisant, weil: 1. die Lockdown-Strategie zum ersten Mal global und in zu vielen Fällen ohne jegliche lokale Differenzierung eingesetzt wurde; 2. eine solche mediale Kampagne der psychologischen Suggestion nie die Begegnung mit einem Virus begleitete; 3. eine solche obsessive Fokussierung auf ein umstrittenes Ziel, das heißt eine hygienisch begründete grundsätzliche Vernachlässigung aller Lebensbereiche und Tätigkeiten sowie aller psychischen Faktoren, nie in der Geschichte auf einer solchen Skala stattfand.

Die in unseren Ländern propagierte Corona-Strategie erinnert erschreckenderweise an manche Ansätze der schon längst widerlegten Onkologie, in der man gesunde Bestandteile des Organismus ‹vorsichtshalber› operativ entfernte, weil sie rein ‹modellmäßig› vom Krebs hätten überfallen werden können (vgl. Young People Are Particularly Vulnerable To Lockdowns). Wollen wir unbedingt glauben, nur die Nachweise, die aus der Politik und aus den von ihr anerkannten Medien und Autoritäten kommen, sind gültig. Jede und jeder, egal wie qualifiziert und persönlich erfahren, die oder der Abweichendes vertritt, ist also neben der Kappe beziehungsweise ein potenzieller Feind des Gemeinschaftssinns? Salvatore Lavecchia


Mit Michael Esfelds ‹Impfpass› hat die Redaktion einen Text platziert, der eine extrem historische Sicht auf das aktuelle Geschehen wirft, eine Betrachtung, die auf der klassischen Weltsicht beruht, soziales Geschehen aus isolierten Polaritäten zu verstehen. Rudolf Steiner intendierte, diese Denkweise zu überwinden, indem er die Struktur des Menschen und das soziale Geschehen besser und tiefer durch die ‹Dreigliederung› zu verstehen und gestalten versuchte. Dabei steht die Freiheit im Spannungsfeld mit Gleichheit und Brüderlichkeit. Inzwischen hat Rudolf Steiners Intention weltweite Zustimmung gefunden: In den von der UNO verkündeten und weltweit akzeptierten ‹Allgemeinen Menschenrechten›, im deutschen Grundgesetz und in der Europäischen Verfassung, stehen die Freiheitsrechte im Zusammenklang und in wechselseitiger Abhängigkeit mit Gleichheit und Solidarität. Ein wunderbarer Fortschritt für das soziale Leben vieler Millionen Menschen! Als komplementäre Blickrichtung auf dieses Thema bitte ich, die Sicht aus der Dreigliederung des sozialen Organismus aufzugreifen. Damit und erst dann wird das Handeln der Staaten, der Politiktreibenden, der Gesundheitsämter verständlich, die aufgrund ihrer Verpflichtung zur Realisierung der Menschenrechte und der Verfassungsgrundsätze einzelne Freiheitsrechte zugunsten des Schutzes von Leben und Sicherheit reduzieren müssen. Michael Esfeld diffamiert dieses ‹dreigliedrige› Handeln, das gerade wir doch schätzen sollten! Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat daher mehrfach Freiheitsbeschränkungen als konform mit der Verfassung beurteilt, weil darin auch Gleichheit und Solidarität gefordert sind. Karl-Dieter Bodack


Die Analyse von Herrn Esfeld empfinde ich als wenig konkret. Was folgt daraus? Soll der Staat aufhören, darauf zu achten, dass Geschwindigkeitsbegrenzungen überschritten werden? Darf ich andere schädigen, auch wenn ich infektiös bin, es aber möglicherweise gar nicht weiß? Das sind doch die konkreten Fragen in diesem Zusammenhang. Wo hört denn die Verantwortung des Staates auf und wo erwarten wir geradezu, dass er sich um das Wohl der Gemeinschaft, möglicherweise durch Einschränkung des Wohls des Einzelnen, kümmert? Und schließlich: Wie könnte man das dann in einer Pandemie unter Berücksichtigung politischer Korrektheit organisieren, ohne die Grundrechte zu verletzen oder einzuschränken? Es wäre wirklich hilfreich, wenn diese und andere Fragen, vielleicht auch nur ansatzweise, in diesem Artikel besprochen würden. Ansonsten bleibt der Eindruck einer theoretischen und nicht wirklich an den gesellschaftlichen Bedingungen ausgerichteten Kritik. Hans-Wilhelm Knost


Michael Esfeld geht von der Prämisse aus, dass die Covid-19-Pandemie vergleichbar den vergangenen Grippepandemien ist und daher auch ähnlich zu behandeln gewesen wäre. Leider ist Covid-19 aber doch nach herrschender medizinischer Meinung ziemlich anders. Wenn das aber so ist, dann ist leider vieles, was daraus gefolgert wird, eher hinfällig. Ich fürchte, dass Esfeld komplett auf Sand gebaut hat, wenn Covid-19 anders ist als die Grippe. Der kleine Hinweis auf ‹Schweden ohne Lockdown› ist leider ebenso verallgemeinernd wie falsch, aber in der entsprechenden Szene häufig wiederholt. Weder gab es in Schweden keinerlei Maßnahmen noch sind die deutschen Maßnahmen ein echter Lockdown. Jedenfalls gab es sowohl bei Todeszahlen als auch bei Hospitalisierungen sehr wesentliche Unterschiede, mehr noch zwischen Schweden und den anderen nordischen Ländern. Was sagt das über die Wissenschaftlichkeit des Artikels aus, dass das einfach so behauptet wird, obwohl es eine ziemlich komplizierte Angelegenheit ist, deren Kurzfassung die entsprechende Aussage nicht rechtfertigen kann?

Die Diktion befremdet mich doch allgemein ziemlich. Es «fand ein Strategiewechsel statt» bei allen westlichen Regierungen. Wer hat das bloß angezettelt? Und warum machen alle mit, egal welcher politischen Couleur, außer vielleicht die Autokraten? Von wem wurde der Versuch unternommen, «politisch zu steuern»? Da Michael Esfeld an sich keine anthroposophischen Ambitionen hat, geht es um irdische Verschwörungen. Nicht ohne Grund wird er inzwischen gerade wegen dieses ‹Vermutungs- und Verdächtigungsstils›, der stark an Daniele Ganser erinnert, von der Querdenker-Szene hofiert und dort häufig interviewt und zitiert. Das an sich sagt natürlich nicht viel, außer dass dieser Stil dort eben mehr gefällt als anderswo. Ich erwarte allerdings gegenüber meinen Mitmenschen – auch in Wissenschaft und Politik – ein Mindestmaß an Offenheit, keine Vorverurteilung. Dazu kommt ein konstant unterliegendes «Wie wir inzwischen wissen …», das unbelegt suggerieren soll, dass sich die Wissenschaft an sich einig ist, nur die Regierenden und ihre Vasallen haben das halt noch nicht eingesehen. Welch suggestive Meinungsmache! Alles in allem weise ich auf GA 245 hin, die Nebenübungen und die «weiteren Regeln in Fortsetzung der allgemeinen Anforderungen …», die darauf hinweisen, dass der Geistesschüler keine ungeprüften Vorstellungen übernehmen, sich um fortwährende unvoreingenommene Vermehrung seiner Vorstellungen bemühen, sich jeglicher Sympathie und Antipathie enthalten soll bei der Aufnahme neuer Erkenntnisse und keine Angst vor Abstraktionen haben sollte (wie sie die heutige Situation sehr häufig fordert, wenn es um Modellrechnungen geht oder um ferne und abstrakte Risiken). Da liegen meines Erachtens die Fallstricke. Ich lobe mir die Veröffentlichungen der Medizinischen Sektion, die in dieser Hinsicht mehr wissenschaftliche Redlichkeit an den Tag legen. Gesinnungsjournalismus, der gefällt, weil er mich nicht herausfordert, wäre dagegen schade. Ilse Wellershof-Schuur


Herzlichen Dank für diese tiefgreifende Analyse und schlüssige Argumentation. Der Versuch, das vermeintlich Gute und Richtige mit Zwang und Gewalt durchzusetzen, kann niemals zu etwas Gutem und Richtigem führen. Das Kind sitzt vor dem Teller, stochert in der gesunden Mahlzeit herum, isst aber nicht. Die Eltern bitten es, zu essen. Dann ermahnen sie, schimpfen mit ihm, versuchen, ihm das Essen zu füttern, denn sie sind überzeugt, dass diese Mahlzeit gut für das Kind ist. Aber dem Kind schmeckt es nicht. Alles, was die Eltern in dieser Situation unternehmen, wird nicht dazu führen, dass das Kind isst. Jede Form von Zwang wird nur dazu führen, dass die Eltern am Ende die Würde des Kindes und letztlich ihre eigene Würde beschädigen. Menschen zu einer Impfung zu zwingen, von der sie nicht überzeugt sind, oder ihnen andere vermeintlich sinnvolle Verhaltensweisen unter Zwang anzutrainieren, ist nichts als Beschädigung der Würde und Totalitarismus. Ingo Lau


Ich bin sehr für einen offen Diskurs, aber die Grundlagen eines Gedankenganges müssen stimmen, ansonsten sind die Schlussfolgerungen hinfällig. So gut wie alles, was Esfeld über die epidemiologische Seite der Pandemie schreibt, ist mindestens fragwürdig. Staaten, die Erfahrung mit SARS, MERS, Ebola, Pest, HIV etc. hatten, haben schnell und konsequent gehandelt. Dann gab es Staaten, die mit der Herdenimmunität geliebäugelt haben. Dies wurde aber schnell aufgegeben. Die meisten westlichen Staaten hatten es verpasst, das Virus beim Auftreten auszumerzen, und haben mehr oder weniger mit Lockdowns versucht, die Zeit bis zur Impfung zu überbrücken. Dass ein Philosoph sich nicht mit Epidemiologie auskennt, ist verzeihlich. Nach meiner Meinung sollte er dann nicht seine Gedankengänge auf dieses ‹Fundament der Unkenntnis› stellen. Hans-Peter Krause-Batz


Mir scheint in diesem ganzen scheiternden Diskurs um die Corona-Situation, den Polarisierungen, den zugeschriebenen oder auch bewussten Meinungsäußerungen, dass diese Art Diskurs selbst anachronistisch ist oder noch gar nicht wirklich geboren. Vielleicht liegt das daran, dass die derzeitige ‹Diskurs-Unkultur› als Technik aus einer Zeit stammt, in der sich die Wissenschaft als herausragend empfand, wenn sie Erkenntnisse über die Natur gewonnen hatte, die Anlass gaben, die Welt zu erfassen und verfügbar zu machen. Und damit Wissen und Fakten von etwas abtrennte, was mit Diversität als Lebensgrundlage zu tun hat. Der Anachronismus dieses Diskurslebens besteht darin, dass man immer noch glaubt, auf einer faktischen Verstandesebene eine Wahrheit erringen zu können, die wie ein naturwissenschaftlicher Fakt dann miteinander gehandhabt werden kann und für alle gültig ist. Es ist ein Kampf, um eine Sicherheit, die es vielleicht nie mehr geben wird. Darum kommen wir vielleicht auch nicht zum Anfangspunkt eines wirklichen Diskurses. Gerade an dem Scheitern des Gespräches, am Unvermögen, verschiedene Standpunkte zusammenzubringen, zeigt sich eine soziale Tatsache, Auswirkung beziehungsweise Chance der Pandemie. Wenn es in diesem Diskurs eine Disposition gibt, die staatliche Repressalien befürchtet oder die Würde der Menschen angetastet sieht (und sowohl die Tatsache der ‹Menschenwürdegefährdung› als auch die der ‹allgemeinen Gesundheitsgefährdung› als zwei Stellvertreter im Ring sind Tatsachen), stellt sich mir die Frage nach dem Widerstand. Was bedeutet im Kontext von Corona Widerstand? Wogegen müssen wir heute widerstehen? Wofür gilt es zu kämpfen und mit wem überhaupt? Meine einzige Antwort ist: gegen uns selbst. Ich muss in mir selbst meine ausgrenzenden, tauben, aggressiven Totschlagargumente sehen lernen, mein ‹Empörungswesen›, mein ‹nicht ganz wissen›, mein Verharren auf meiner Ansicht, und sie als eine mögliche Disposition auffassen können. Ich muss mir selbst widerstehen in meiner Angst, meiner Meinung, meiner mir als Wahrheit erscheinenden Perspektive, meinem Klimawandelbeitrag, meinem Plastikmüllverbrauch. Dort ist der Ausgangspunkt, an dem sich etwas verändern, wenn nicht gar heilen kann. Ich selbst bin dafür verantwortlich, wie wir als Gesellschaft mit dem Phänomen der Pandemie in einen handhabbaren Austausch gelangen. Und mir scheint, wir haben damit noch gar keine Erfahrungen, keine Urbilder. Mein 18-jähriger Sohn war bei der 1.-Mai-Demonstration, auf der er mit den unterschiedlichsten ‹Meinungsinhabern› ins Gespräch gekommen war. Er war ‹völlig fertig›, als er nach Hause kam, denn in seiner Seele lebte der Fakt, dass er keine Antworten mehr habe, dass er alle Seiten verstehen könne, dass er mit allen nur sprechen und sich austauschen konnte, es gute Gespräche waren, aber er nicht mehr wisse, was das jetzt für das gesellschaftliche Wohl bedeute und wie man zu einem Ergebnis kommen könne. Und ich konnte ihm nur sagen, dass das der richtige Weg sei. Gilda Bartel

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