Die zwei Masken

Der Generationswechsel scheint sich zu beschleunigen. Doch die Jugendbewegungen der Vergangenheit sind von den heutigen nicht so weit entfernt. Nathaniel Williams über die Narrative und Masken, die in den 1960er-Jahren abgelegt wurden, und jenen, die von der heutigen Jugend aufgesetzt werden.


In den 1950er- und 1960er-Jahren fühlten sich junge Menschen in den USA dazu gedrängt, eine neue spirituelle Orientierung im Leben zu finden, die irgendwie mit dem übereinstimmte, was sie für sich selbst empfanden. Sie fühlten sich durch die Erwartungen in ihre gesellschaftliche Integration und die Teilhabe an der Generation ihrer Eltern und Großeltern eingeschränkt. In deren Lebensmittelpunkt hatte zumeist die Kirche als soziales und spirituelles Zentrum des gesamten Lebens gestanden. Doch die Jugend erlebte diese Kultur nicht als authentisch, sondern als irgendwie leer. Etwas Zentrales schien zu fehlen. Auf der Suche nach authentischer Begegnung stießen sie nur auf ‹Masken›. Aber sie suchten nach unmittelbaren Erfahrungen von Spiritualität, miteinander und mit sich selbst. Es war die Zeit der ‹Rights Revolution›1, als die Bedeutung der Rechte in den USA eine ganz neue Färbung annahm. Die neue ‹Sprache der Rechte› verlangte, dass das Handwerk des Juristen von einem Gefühl der Ehrfurcht durchdrungen wurde. Nicht nur im juristischen Diskurs, sondern auch in anderen Bereichen des Lebens zeigte sich diese neue Färbung. Zu finden ist sie zum Beispiel in der Kunst von Helen Frankenthaler und Joan Mitchell, in der Poesie von Mary Oliver und Wendell Berry oder sogar in der Musik von Bob Dylan, Joan Baez und Joni Mitchell. Das Interesse an anderen Kulturen, Orten und auch an anderen Zeiten stieg damals explosionsartig an. Die spirituellen Traditionen der amerikanischen Indigenen waren für viele in den Vereinigten Staaten von besonderem Interesse, aber auch die spirituelle Kultur Indiens und Japans. Der große Wunsch war, dem spirituellen Diskurs in den USA Immanenz zu verleihen.

Heute leben wir Erwachsenen inmitten einer Welt, die stark von diesen gegenkulturellen künstlerischen, politischen und spirituellen Bewegungen der 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahre beeinflusst ist. Wir nehmen sie als selbstverständlich. Die ‹Revolution der Rechte› war so erfolgreich, dass Unternehmenslobbygruppen im Jahr 2010 in Amerika vor dem Obersten Gerichtshof erfolgreich für eine Deregulierung der politischen Spenden auf Bundesebene plädierten, indem sie diese als Einschränkung der Meinungsfreiheit darstellten. Doch für heutige junge Menschen, die mit der digitalen Revolution aufgewachsen sind, fühlen sich diese Bewegungen einerseits vertraut und andererseits weit entfernt an. Das hängt mit der zunehmenden Lebensweltgestaltung der digitalen Revolution zusammen. Junge Menschen integrieren diese Technologien ganz selbstverständlich. In diesen digitalen Räumen erstellen sie Avatare von sich selbst, sei es als Profil auf Facebook oder in einer Figur im Videospiel. Heute taucht eine andere ‹Maske› auf, die nicht mehr aus der Vergangenheit, sondern aus der Zukunft stammt. Sie entsteht als Teil unserer neuen Technologie. Und sie wird sicherlich weiter wachsen und sich entwickeln. Diese Maske setzen wir auf, verbergen uns also hinter ihr, wenn wir einen anderen Menschen treffen. Sie hat in den Profilen der sozialen Medien, in den Charakteren der Computerspiele fast eine vom Erstellenden unabhängige Existenz angenommen.

Die ‹Maske›, welche junge Menschen in den 1960er- und 1970er-Jahren erlebten, war eine Art alte Maske, die die Identität und Erfahrung von Authentizität zu übernehmen drohte. Die damalige Jugend war auf der Suche nach ihrer eigenen Wahrheit und Identität, damit der ausgetretene Pfad, den andere seit Jahrzehnten oder Jahrhunderten beschritten hatten, in der Welt nicht die Oberhand gewann. Die ‹Maske›, die heute aus der Zukunft kommt, hat einen anderen Charakter. Sie mindert unsere Fähigkeit, uns mit der gleichen Unmittelbarkeit und Wärme zu verbinden, die physische Nähe und Versammlungen ermöglichen. Diese ‹Maske› lässt uns in gewisser Weise erstarren und erzeugt den Druck, einen Avatar von uns selbst zu präsentieren, der übereinstimmt mit kulturellen Normen und Erwartungen wie Hyperkonsumismus, politischen Meinungen und Populärkultur. Diese Dynamik hat es im menschlichen Leben immer gegeben. Aber durch die Kluft zwischen Avatar und dem Gefühl für sich selbst wird sie heute verstärkt.

Menschenmenge während des Marsches auf Washington 1963, in Washington. Das Foto wurde von einem der Fotografen des ‹U.S. News & World Report› aufgenommen.

Isoliert zusammen

Viele junge Menschen beschreiben, dass sie trotz sozialer Medien, Handys und Internet das Gefühl haben, isoliert zu sein. Sie interagieren über digitale Technologien und fühlen sich doch stark von anderen getrennt. Sie berichten, dass sie sich weniger mit Echtzeiterlebnissen verbunden fühlen und weniger in der Lage sind, einfach mit anderen zusammen zu sein. Wenn sie unterwegs sind, kommunizieren sie vielleicht sogar mehr über ihre Geräte als mit den Menschen, mit denen sie gerade Zeit teilen.2 Es wird immer schwieriger, uns gegenseitig wahrzunehmen, und wir haben immer weniger Zeit füreinander. Das hat eine lähmende Wirkung, fast so, als würden wir eingefroren. Eine feine, seelenvolle Beweglichkeit und Wendigkeit unseres Seins geht verloren. Damit einher kommen Angst, Unruhe, das Gefühl von Isolation und Einsamkeit.3 Die Generation, die jetzt erwachsen wird, ist die erste, die mit diesen Fragen konfrontiert wird. Es wäre töricht zu glauben, die Technologie würde nicht weiterhin in das Leben und die Erfahrung des Erwachsenwerdens eingreifen. Dennoch wird es immer wichtiger werden, komplementäre Kräfte zu entwickeln und ein tieferes Verständnis für diese Technologie in Bezug auf die menschliche Konstitution zu entwickeln.

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Footnotes

  1. Charles Epp, The Rights Revolution: Lawyers, Activists, and Supreme Courts in Comparative Perspective. University of Chicago Press, 1998.
  2. Sherry Turkle, Alone Together: Why We Expect More from Technology and Less from Each Other. Basic Books, 2012.
  3. Serie von Matt Richtel in der ‹New York Times›.

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