Die Quellen unserer Narrative

Der Austausch mit einem afrikanischen Freund hat Christopher Becker zu den Narrativen geführt, die auf beiden Seiten wirken. Er versucht, an die Quelle zu gelangen, von der aus eine Überwindung der Zu- und auch Festschreibungen stattfinden kann.


Ein normaler Arbeitstag im Büro der Kulturgemeinschaft fakt21 in Bochum. Philip Stoll und ich sitzen an unseren Schreibtischen und haben gerade angefangen, zu arbeiten. Ich öffne Whatsapp, um einem Kontakt unsere Adresse für eine Rechnung zu schicken. Seit meinem letzten Aufenthalt in Namibia 2019 habe ich mir angewöhnt, auf Whatsapp den Status1 meiner Kontakte anzuschauen. Es ist für mich eine schöne und unkomplizierte Art, etwas über mir wichtige, aber oft ferne Personen mitzubekommen, vor allem, weil die Posts meistens von Freunden und Bekannten aus dem südlichen afrikanischen Kontinent sind, die ich während meinen Afrikareisen kennengelernt habe. Also schaue ich noch mal Whatsapp-Statusmeldungen an. Eine von ihnen erregt meine Aufmerksamkeit. Mein Freund Tinashe Elvis Chikodzi nämlich schrieb um 5.18 Uhr morgens: «Ökologisches Denken lehnt im Ursprung den Gedanken des Konsumismus ab: Aufrüstung, Weltverschuldung und geplante Obsoleszenz, das sind die drei Säulen des westlichen Wohlstands. Würden Krieg, Verschwendung und Geldverleiher/Banken abgeschafft, würde der Westen zusammenbrechen. Und während ihr im Übermaß konsumiert, versinkt der Rest der Welt immer tiefer in chronischen Katastrophen.»

Eine starke, nicht sehr ausdifferenzierte und vorwurfsvolle Meinung von Tinashe, dachte ich mir! Aber gleichzeitig auch richtig gut, weil Tinashe mit diesem Gedanken für mich zwei sehr wichtige Punkte ans Licht bringt. Wir hören in Deutschland und im sogennanten Westen viel zu selten Stimmen aus dem globalen Süden, die sich jeden Tag mit den schwerwiegenden Konsequenzen unseres ‹entwickelten› Lebensstandards auseinandersetzen müssen. Tinashe ist ein Klimaaktivist in Simbabwe, der sich unter anderem für die Aufarbeitung von intergenerationellen kolonialen Traumata einsetzt. Er versucht, Bewusstsein für vorhandenes einheimisches Wissen, Pflanzen und Gewohnheiten zu vermitteln, um die Selbstermächtigung der Simbabwer und Simbabwerinnen zu stärken. Tinashe setzt sich somit für die Regionalisierung von Produkten und die Unabhängigkeit von Importen ein. Er ist ein Mensch, der sich in einer sehr konstruktiven und ganzheitlichen Weise der Ökologie und der sozialen Gerechtigkeit in Simbabwe annimmt.

Als ich mit Tinashe telefonierte, wurde mir klar, dass sein Whatsapp-Status aus einem Frustrationsmoment heraus entstanden ist. In unserem Gespräch äußerte er auch sein Unverständnis über die aktuelle Lage. Die spürbare Notwendigkeit und der offensichtliche Drang vieler Menschen, etwas zu verändern, ist gekoppelt mit dem Gefühl einer großen Machtlosigkeit gegenüber der Trägheit des Systems. Was tun? Einfach dran bleiben, Bewusstsein schaffen und auf die Fähigkeiten und das Wissen seinesgleichen zu vertrauen, war seine Einstellung. Einfach ist das nicht, aber «we have to keep pushing», wie er zu mir sagte!

Tinashe Elvis Chikodzi

Die Macht der Narrative

Tinashes Whatsapp-Status und seine dahintersteckende Frustration verdeutlichten mir die Macht von Narrativen. Was er über uns, den Westen, beschreibt, ist eine Perspektive der Wahrheit. Diese Perspektive wird von Menschen vorwiegend im globalen Süden geteilt, bekommt aber nicht die nötige Aufmerksamkeit, um etwas auf globaler Ebene zu verändern. Denn sie entspricht nicht dem hegemonialen Diskurs beziehungsweise der dominanteren, westlichen Weltanschauung. Wer beansprucht und bestimmt das Narrativ der Normalität? Der Westen? Auch wenn über die letzten drei Jahrzehnte neue globale Spieler mehr und mehr im internationalen Geschehen mitreden und mitgestalten, bündelt sich im globalen Norden eine hohe Konzentration an Ressourcen und vor allem strategischen Positionen. Diese Konzentration an Gestaltungs- und Entscheidungsmacht sowie eine Vielzahl internationaler Strukturen sind das historische Erbe der europäischen Imperien und des Kolonialismus, die den Kapitalismus und den westlichen Rationalismus zur Normalität gemacht haben. Auch wenn es der Westen dadurch geschafft hat, viel Wohlstand und Komfort zu generieren, dürfen wir nicht ignorieren, dass dafür viele Menschen einen hohen Preis zahlen mussten und Traditionen und indigene Weisheiten gelitten haben.

Wie tiefgreifend die Folgen dieses Erbes für die ganze Welt sind, mag den wenigsten im Westen bewusst und greifbar sein, da wir ja im globalen Verhältnis selbst in der Machtposition stehen. Allein wie und welche Nachrichten wir in Deutschland aus Afrika bekommen, spiegelt ein gewisses Narrativ und eine Überordnung der westlichen Denkart wider. Ein Fokus auf Krisen, Konflikte, Epidemien oder atemberaubende Landschaften, Pflanzen und Tiere ist zu beobachten. Aber wo ist der selbstermächtigte, erfinderische und moderne afrikanische Mensch zu sehen? Wo sind die kulturellen Schätze, Weisheiten und neuen Denkweisen, die sich in Afrika finden und von denen wir uns eine Scheibe abschneiden könnten?

In unserer eurozentrischen Sichtweise zeigt sich ebenfalls eine vereinfachte und einseitige Repräsentation der Realität. Allerdings lassen sich zwischen unserem eurozentrischen Narrativ und jenem Narrativ Tinashes zwei fundamentale Unterschiede erkennen. Zum einen können wir davon ausgehen, dass Tinashe durch die Zugänglichkeit zu europäischem Wissen und der europäischen Kultur ein viel differenzierteres Verständnis des globalen Nordens hat. Denn auch heute noch gilt: Um als in Simbabwe lebender Mensch strukturell wirklich handlungsfähig zu sein, kommt man an der westlichen Bildung und dem Erlernen europäischer Sprachen nicht vorbei – ein Erbe des Kolonialismus. Zum anderen können wir davon ausgehen, dass unser westliches Narrativ viel größere Auswirkungen auf die Menschen auf dem afrikanischen Kontinent hat, als Tinashes vertretene Sicht auf den Westen es je für uns haben könnte. Da unser Narrativ ein Afrika auf Augenhöhe nämlich noch gar nicht vorsieht, erhebt es uns automatisch in eine Position der Macht, womit zwangsläufig eine Unterdrückung der anderen einhergeht.

Die Quelle der Narration

Zurück im Büro. Jeden Montag früh nehmen Philip Stoll, Gerhard Stocker und ich uns eineinhalb Stunden Zeit, um gemeinsam inhaltlich zu arbeiten. Dafür lesen wir ‹Die Metamorphose des Gegebenen – Zu einer Ökologie des Bewusstseins› von Friedemann Schwarzkopf. Darin schrieb er bereits 1992 Folgendes (frei übersetzt): Heute ist eine Zeit, in der die Menschheit viele Annahmen, die unsere Geschichte und unser Schicksal in den letzten zweitausend Jahren bestimmt haben, neu bewerten muss. Es geht nicht mehr darum, einfach eine neue oder geeignetere Perspektive zu ‹erfinden›, sondern die Quelle all dieser Perspektiven zu entdecken.2

Diese Aufforderung von Schwarzkopf, an die Quelle der Perspektiven und Narrative zu gehen, ist notwendig, wenn wir mit den Krisen unserer Zeit einen neuen Umgang finden wollen. Egal, ob es um die ökologische Krise, die gesellschaftliche Polarisierung oder das Machtgefälle zwischen globalem Norden und globalem Süden geht. Sich auf die Suche nach den Ursachen zu begeben, bedeutet, neue Erkenntnisse über unsere Realität und über das, was wir als gegeben annehmen, zuzulassen und zu erlangen. Somit verbinden wir uns auf eine neue Art mit der Welt und übernehmen Verantwortung. Dies ermöglicht uns, bisher unbekannte, ganzheitliche Lösungsansätze zu finden und weitere Potenziale zu entfalten.

Es handelt sich hierbei um ein Spannungsfeld zwischen innerer und äußerer Entwicklung, um ein im Prozess schwankendes Hin und Her und ein sich gegenseitiges Bedingen. Wie bekommt man das hin? Diese schöne und zugleich schwierige Aufgabe haben wir uns bei fakt21 gegeben.


Titelbild Christopher Becker und Tinashe Elvis Chikodzi

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Footnotes

  1. Ein Whatsapp-Status ist eine Funktion des Messengerdienstes Whatsapp, mit der jeder Nutzer Bilder, Gedanken, Links für 24 Stunden mit allen Kontakten als sogenannten Status teilen kann.
  2. Friedemann Schwarzkopf, The Metamorphosis of the Given – Towards an Ecology of Consciousness. New York, Peter Lang Publishing, 1998, S. 6.

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