Die Hypermoral tötet die Freiheit

In der Reihe ‹Mensch, Entwicklung, Zukunft› lud die Mahle-Stiftung den Philosophen und Publizisten Alexander Grau ein. Er kritisiert seit einigen Jahren die ‹Hypermoral› unserer Zeit, spricht vom Sieg der Moral über die Vernunft und fragt, ob wir es mit einer modernen Form der Inquisition zu tun haben. Hier Sequenzen aus diesem Gespräch.


Wir verweisen gern darauf, dass Deutschland ein Rechtsstaat ist und die Meinungsfreiheit gilt. Wer das hinterfragt, ist eine verdächtige Person, die die Legitimität unserer Demokratie infrage stelle. Die Gesetzgebung gewährleiste Pressefreiheit und Zensur finde nicht statt. Aber braucht es tatsächlich eine Diktatur, um die Meinungsfreiheit einzuschränken? Alexander Grau behauptet in Anlehnung an Alexis de Tocqueville (1805–1859), dass das auch die Demokratie kann. Denn sie ist eine Herrschaft, wenn auch die der Mehrheit. Und Herrschaft übt Zwang aus. Tocqueville schrieb: «Der Herrscher sagt in der Demokratie nicht mehr: ‹Entweder du denkst wie ich oder du bist des Todes›. Er sagt: ‹Du bist frei, nicht so zu denken wie ich, du behältst dein Leben, deinen Besitz. Aber von dem Tag an bist du unter uns ein Fremdling. Du behältst deine Vorrechte in der bürgerlichen Gesellschaft, aber sie nützen dir nichts mehr. Denn bewirbst du dich um die Stimme deiner Mitbürger, so werden sie dir diese nicht geben. Und begehrst du bloß ihre Achtung, so werden sie tun, als ob sie dir auch diese verweigerten. Du bleibst unter den Menschen, aber du büßt deine Ansprüche auf Menschlichkeit ein. Näherst du dich deinen Mitmenschen, werden sie dich wie ein unreines Wesen fliehen […]. Ziehe hin in Frieden, ich lasse dir das Leben. Es wird aber für dich schlimmer sein als der Tod.›» (Tocqueville 1835)

Alexander Grau spricht von den Netzwerken des richtigen öffentlichen Meinens, von den analogen und digitalen Scharfrichtern der ‹political correctness›. Sie agieren zwar nicht wie die mittelalterliche Inquisition, aber sie haben doch die Macht, Einzelne oder Gruppen aus dem Diskurs auszuschließen und als umstritten zu etikettieren. Sie arbeiten mit Moralismus, was nicht mit Moral zu verwechseln ist. Moralismus ist Moral als Ideologie. Dieses Phänomen ist laut Grau vergleichsweise neu. Denn im ‹modernen Moralismus› ist die Moral selbst die ganze Ideologie. Traditionell wurden Moralen aus einer übergeordneten Weltanschauung abgeleitet. Der Moralismus als Ideologie kennt eine solche übergeordnete Instanz nicht mehr, weshalb er zum Radikalisieren neigt. Das wird dann in Alexander Graus Terminologie zum ‹Hypermoralismus›. Pragmatische Erwägungen oder technische Argumente zählen nicht. Es gilt nur die moralische Erwägung. Dadurch entsteht eine moralistische Monokultur, die faktisch die Diskurshoheit hat. Im Stadttheater, auf dem Kulturfestival, im Radio werden heute die gleichen moralischen Lehrinhalte vermittelt. Dieser Moralismus maßt sich an, zu bestimmen, was eine demokratische Position ist. Er gefährdet die Demokratie, die Freiheit und den Individualimus. Denn der Einzelne soll in ein Korsett des richtigen, moralisch genehmen Meinens gezwungen werden.

‹Hypermoral – die neue Lust an der Empörung› heißt das Buch von Alexander Grau, welches er bereits 2017 geschrieben hat, als Begriffe wie ‹wokeness› und ‹cancel culture› noch gar nicht en vogue waren. Sein dramatisches, paradigmatisches Erlebnis für diese Gedanken war der Umgang mit Thilo Sarrazins Buch ‹Deutschland schafft sich ab› von 2010. Die Mechanismen von Anklage, Aufregung, Ausgrenzung bei gleichzeitiger Bestreitung, dass man überhaupt ausgrenzt, war für ihn ein Dammbruch. Damals schon wurden alle Argumente, die wir heute im Wochentakt haben, durchgespielt. Seit den 2000er-Jahren bereits sieht Grau diese Phänomene am Firmament aufziehen. Entsteht die ‹Hypermoral› durch den Wegfall der Religionen, durch die Säkularisierung? Moralismus hat ein großes Sinnstiftungspotenzial. Und politisch-moralische Bewegungen vermitteln Religionsderivate. Für unsere junge Generation sind sie ein Halt zwischen Klimawandel, Zukunftsangst und der Suche nach dem richtigen Handeln. Es gibt mehr Sensibilität und Achtsamkeit heute. Das ist auch erst mal gut. Die Frage für Grau: Werde ich damit zum ‹Moraltalibanisten›? In seinem Buch spricht er von ‹gefühlten Gewissheiten›. Menschen empfinden Dinge. Es geht nicht mehr um Fakten, sondern um Gefühle. Zum einen sind wir emotionale Wesen, aber in Debatten sollte man Gefühle in den Griff bekommen, beobachten können, was Ressentiments, was Argumente sind. Massenmedien spielen dabei eine wesentliche Rolle. Aufgrund ihrer eingebauten Psychologie tragen sie dazu bei, dass Debatten emotionalisiert werden. Und Social Media sind regelrechte Brandbeschleuniger. Dieser Aufregung kann man nur mit ‹kühlem Blick›, mit ‹ruhigem Blut› begegnen. Auch wenn Diskussionen mitunter hysterisch sind, kann man bei bestimmten Formen von Diskriminierung noch das Anliegen dahinter wahrnehmen und ihm zustimmen. Im ‹Hypermoralismus› jedoch rotiert die Moral frei und entbehrt der Realität. Dieses ‹politmoralische Gouvernantentum› wird von den Massenmedien mitgetragen.

Was aber sollen wir tun, wenn 40 Prozent der Menschen in unserer Gesellschaft den Eindruck haben, sie müssen vorsichtig sein mit dem, was sie sagen wollen? Grau sieht die Institutionen in der Verantwortung, die Debatten offen zu halten. Das könnte bedeuten, ‹unliebsame› Rednerinnen einzuladen statt auszuladen und zuzulassen, dass andere Meinungen gehört werden. Eine wirkliche Alternative bezweifelt er. Diese Entwicklungen sind für ihn notwendige Entwicklungen einer spätindustriellen Gesellschaft mit einem gewissen Wohlstandsniveau und den entsprechenden sozialen Prozessen. Westliche Gesellschaften mit unserem wirtschaftlichen und technischen Stand bringen den Moralismus hervor. Das kann man nur ‹abwürgen›, wenn wir an die Wurzeln gehen und unseren Wohlstand nicht mehr sichern wollen. Darin outet sich Grau in seinem tiefsten Herzen vielleicht als Marxist.


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Foto Screenshot aus der Videoaufnahme

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