Die Feuer der Selbstwerdung

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Respekt und Ehrfurcht vor dem menschlichen Wesen vertiefen sich auf dem Weg der Selbsterkenntnis. Das Gewöhnliche, das Alltägliche, alles, was als selbstverständlich angesehen wird, beginnt, unerwartete Dimensionen zu offenbaren. Was einfach und alltäglich erschien, wird bereichert und belebt. Doch dieses Staunen, die Ehrfurcht beschränken sich nicht auf positive Erfahrungen von vertiefendem Wachsen, wie es sich die populäre New-Age-Wellness-Industrie vielleicht vorstellt. Ab einem bestimmten Punkt verflechten sie sich mit und in einer echten Probe.

Die tieferen Gegebenheiten des normalen Bewusstseins zu erforschen durch Meditation und Belebung des Denkens und der Vorstellungskraft, führt zu Selbsterkenntnis. Auf diesem Weg kann das normale Bewusstsein als naiver Zustand erscheinen, zu dem man sich zurücksehnt. Es gibt eine Art von Erfahrung, die diese Sehnsucht hervorruft (je nach Reisendem in Dauer und Charakter variierend). Die Rückkehr zum normalen, für selbstverständlich gehaltenem Bewusstsein ist jedoch nicht mehr so einfach möglich. Belebtes Denken und Vorstellungsvermögen, durchdrungen von unabhängigen schöpferischen und ethischen Kräften, werden zu einer Quelle von Schmerz und Prüfung. Das scheinbar normale äußere Leben kann dann von dramatischen inneren Erfahrungen und Transformationsprozessen begleitet sein.

Im normalen Bewusstsein gibt es ein unbewusstes Wohlgefühl, das mit dem gesunden Körper verbunden ist. Es ist eine wichtige Grundlage für ein normales Leben. Dennoch kann es zu Situationen kommen, in denen dieses Gefühl der Behaglichkeit und das unbewusste Verlangen danach eine Art inneres Feuer entfachen. Sich im Leben zu erfahren, mit anderen in Kontakt zu treten, selbst auf einfache Weise aktiv zu werden, hat eine ähnliche Wirkung. Es entsteht eine Trennung von der einfachen, fast unbewussten und naiven, hingegebenen Erfahrung von Verkörperung und Geselligkeit. Diese geringfügige Trennung entfacht ein irrationales Feld von Ängsten und Schrecken, das in Stößen und Zuckungen aufblitzt und intensive Bilder unter anderem von Gewalt, Zerstörung und Lust mit sich bringt.

Ausgeliefertsein

Plötzlich verschwindet die bisher stabile Kulisse des Selbst als mehr oder weniger geliebte Person mit einer Biografie, einem Gefühl der Zugehörigkeit und des Kontextes, einer Identität und einem Ziel. Eine Erfahrung von Exil und Ausgeliefertsein tritt an ihre Stelle. Der spontane Drang, sich zu ergeben, um zum normalen Bewusstsein zurückzukehren, um das Aufgedeckte zu verdecken, verstärkt die Flamme. An diesem Zeitpunkt offenbart ein instinktiver Prozess eine neue Verfassung des Selbst, eine innere Verfasstheit in einer Welt der inneren Strukturen und Horizonte. Ein radikales Zusammenziehen und ein Rückzug aus dem Feld des Bewusstseins entfalten sich in Form einer Selbstheit, die, so scheint es zunächst, keinen Inhalt hat. Während jedes auftauchende Bild das Selbst zu verschlucken droht, konzentriert sich dieses neue Selbst in einer Intensität, die mit dem normalen Bewusstsein nicht vergleichbar ist. Zunächst wird jeder abbildbare Teil des Selbst oder der Persönlichkeit zu einer Quelle von Schmerz und Leid. Die einzige Zuflucht besteht darin, sich so weit zu verdichten, dass nichts in diesem imaginativen, kontemplativen Raum ausgedehnt wird. Das neu verfasste Selbst existiert in Negation dessen, was abbildbar ist, als unsichtbare Präsenz. Das bietet zwar einen gewissen Halt, aber es ist nur ein Splitter eines Vorsprungs über einem gähnenden Abgrund der Dunkelheit. Dieses Selbst sagt beständig: Ich bin nicht das, ich bin nicht das, ich bin ich, doch was ich bin, kann ich nicht sagen.

Unter diesen Bedingungen entwickelt sich ein hohes Maß an Selbstbeherrschung und Unabhängigkeit. Diese Bedingungen sind Qualitäten wie Einfühlungsvermögen, Liebe und Mitgefühl nicht zuträglich. Es ist eine strenge Existenz. Alle Gefühle sind zunächst von Begierde, Angst, Selbstgefälligkeit oder Eitelkeit verunreinigt und Quellen von Qualen. Das Streben nach Güte und Spiritualität, das von Selbstsucht beseelt ist, führt zu Leiden, ebenso wie jede Dynamik der Selbstverachtung. Diese Feuer, die alles verschlingen, was als Wahrheit angenommen wurde, bereiten die Wahrheit der Selbsterkenntnis vor. Eine leidenschaftslose Nüchternheit wird gesät.

Drei Elemente werden von diesem Feuer nicht verzehrt. Das erste ist die Fähigkeit, das Selbstsein aufrechtzuerhalten, wenn alle Eigenschaften und Identifizierungen zurücktreten. Das zweite ist ein geklärtes Bewusstsein: ein aufkommender Sinn für Gut und Böse, der nicht auf Vergnügen oder Schmerz, Eitelkeit oder Scham beruht, ein gereinigtes Gewissen. Das dritte ist die Einsicht, das Verständnis dafür, dass die wirbelnden Bilder und Kräfte geistig und nicht mit der äußeren Wahrnehmung zu verwechseln sind. Die Prüfung ist ein scheinbar unendlicher Kreislauf aus Hingabe, böser Offenbarung und Selbstkonzentration. Gefühle der Hilflosigkeit und Vergeblichkeit tauchen auf und werden mit der Zeit immer intensiver.

Aufrichtiges Gebet

Aus dieser Ohnmacht erwächst eine Stimmung, aus der heraus das tiefste und aufrichtigste Gebet gesprochen werden kann: Ich kann es nicht allein tun; ich bin unfähig; ich erkenne meine Ohnmacht und wende mich an das Göttliche. Das Aufgeben wendet sich nicht mehr nur dem normalen Bewusstsein zu. Es handelt sich um einen anderen Akt der Hingabe, der eine höhere Form der Resignation beinhaltet. Es ist eine Hinwendung zum Guten, nicht aus Vergnügen, nicht um ‹gut zu sein›, sondern als Erkenntnis, dass neues Leben nur aus dieser Quelle entstehen kann. Es liegt nicht in unserer Hand. Eine Substanz wird geschaffen, die erlösende Kräfte, Liebe und Auferstehung empfangen kann.

Das Gute nähert sich nicht nur in Form von Bewusstsein, die Wahrheit nähert sich nicht nur als Einsicht, und das Selbst erscheint nicht nur als Negation der Seele und des Gefühls. Es ist eine lebendige geistige Welt, die sich vereint – ein ‹Überfluss›, der als Geschenk, als Antwort, als Gegenwart, die zugleich wertschätzend und rettend ist, erlebt wird. Dieser Wendepunkt ist keine totale Verwandlung, sondern ein bescheidener Beginn der Verwandlung. Für die Person, die ihn erlebt, ist dieser Anfang jedoch von enormer Bedeutung und von großer Freude begleitet, da er auf dem Höhepunkt (oder in der Tiefe) der Prüfung auftaucht.

Spirituelles Wissen befähigt, die Kräfte zu erkennen, die an der Gestaltung der inneren Wahrnehmung und Erfahrung beteiligt sind. Spirituelles Wissen ist abhängig von Selbsterkenntnis. Anhaftungen, Wünsche und Ängste werden als Kräfte offenbart, die sowohl mit Illusion als auch mit Leiden verbunden und untrennbar vom normalen Bewusstsein sind. Während diese Kräfte im täglichen Leben eine wichtige Rolle spielen, stellen sie für das hier angedeutete kontemplative spirituelle Bewusstsein einen Prüfstein dar. Die Fähigkeit, ein von diesen Kräften freies Bewusstsein zu kultivieren, bringt Nüchternheit, Klarheit und Einsicht in die Begegnung mit dem Geistigen.

Es wäre töricht zu behaupten, dass die Form und Anatomie des menschlichen Kopfes eine Erfindung der subjektiven Fantasie sind. Ebenso töricht ist die Behauptung, die Dynamiken des Bewusstseins seien subjektive Fantasie. Erlebt man sie, wird ihre innewohnende Notwendigkeit offensichtlich. Die Form, die das Bewusstsein annimmt, bestimmt unsere Erfahrung, so wie ein Berg unseren Blick auf die Landschaft bestimmt, wenn er in unser Blickfeld tritt. Wenn wir uns dem Spirituellen nähern, treffen wir auf einen Wächter, der uns durch den Tod führt, damit wir im Tod ein neues spirituelles Leben und Verständnis anerkennen und empfangen können.

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