Die drei Gesichter der Corona­pandemie

Es geht darum, die Lebenskräfte zu stärken, sozial verantwortlich das Miteinander zu entwickeln und zu einer ökologisch neuen Moralität zu finden – auf drei Ebenen ruft die Coronapandemie nach neuem Verhalten.


Die Krankheitsverläufe zeigen, dass Covid-19 akut und auch nachhaltig den Organismus schädigen kann. Es ist eine Erkrankung, die nach integrativer Medizin ruft und schulmedizinisch bis auf die intensivmedizinischen Maßnahmen schwer zu behandeln ist. In der Behandlung von Covid-19-Patienten hat sich die anthroposophische Medizin gerade deshalb als wirksam erwiesen, weil es zu ihren Stärken gehört, die Selbstregulation und die Lebenskräfte des Organismus zu stärken und deren Erholung zu fördern. Das betrifft die Lebenssphäre.

Was die Seele lernen kann

Die Zahlen der Erkrankungen zeigen, dass dort, wo die Krankheit politisch bewusst bagatellisiert wurde, wo man sich darin gefiel, allzu lange die eigene Egozentrik fortzusetzen und die Krankheit zu ignorieren, viele, auch jüngere Menschen an Covid-19 schwer erkrankten und gestorben sind. Es sind dabei Länder wie Brasilien oder die USA, wo die Krankheit katastrophal verläuft und schweres Leid entsteht. In der Medizinischen Sektion erreichte uns kürzlich ein Bericht aus Manaus, einer Metropole in Brasilien. Vor dem Krankenhaus warteten 120 Menschen mittleren Alters auf einen Beatmungsplatz und starben sprichwörtlich auf der Straße. Die tatsächliche Zahl an Verstorbenen dürfte in Brasilien deutlich höher sein als die bisher gemeldeten 130.000 Menschen. Viele, gerade unter indigenen Völkern werden von keiner Statistik erfasst. Diese Menschen, die von Holzfällern bedrängt werden, welche ihrerseits die Krankheit in den Urwald tragen, müssen nun fürchten, von den wirtschaftlichen Interessen an sinnloser Rindfleischproduktion und jetzt der Pandemie zerrieben zu werden. Covid-19 ist also eine ernste Erkrankung, die direkt oder indirekt vor allem dort Opfer fordert, wo sozialer Egoismus, schwere soziale Ungerechtigkeit und politische Lügen die Atmosphäre vergiften, ob in den Klassengesellschaften Lateinamerikas oder in norditalienischen Altenheimen, in denen der Profit und nicht das Wohl der Menschen im Fokus standen. In Ländern mit strukturiertem Gesundheitssystem und einer Bevölkerung, die sinnvolle Verhaltensregeln verinnerlicht, ist die Lage weit weniger dramatisch. Natürlich gibt es auch hier steigende Neuinfektionsraten, das war gerade bei jungen Menschen nach dem Lockdown auch zu erwarten, aber die Sterblichkeit ist im Vergleich zum Frühjahr um über 95 Prozent gesunken. Wir hatten am 2. Juli in der Schweiz 220 Neuinfektionen, zugleich ist dort vom 4. bis 13. Juli niemand an Covid-19 gestorben, ist die Zahl der täglichen Todesfälle an Covid-19 in Deutschland seit Juli meist einstellig. Jetzt liegt das Durchschnittsalter Infizierter in Deutschland bei 34 Jahren! Bei der Firma Tönnies, dem deutschlandweit größten Infektionsherd mit 2000 Infizierten, kam es zu keinem einzigen Todesfall. So scheint Covid 19 bei uns überzugehen in eine medizinisch gut zu meisternde Herausforderung. Jetzt sind in Deutschland etwa 230 Menschen auf Intensivstationen, gut die Hälfte davon beatmet, und es stehen ca. 9000 Betten für die Intensivpflege leer. Das ist nicht bedrohlich.

Grafik: Sofia Lismont

Die spirituell-moralische Dimension

Die dritte Schicht der Erkrankung betrifft verstehbaren und wahrheitsgemäßen Journalismus und entsprechende Politik. Am 16. April, auf dem Höhepunkt der Pandemie in Deutschland, starben an einem Tag 309 Menschen an Covid-19, während 2866 Neuinfektionen gemeldet wurden – ein Todesfall auf neun Neuinfektionsfälle. Diese Verhältnisse prägten sich ein. Jetzt aber standen am 8. September 1499 Neuinfektionen vier Todesfällen gegenüber! Zwischen Infektion und Tod besteht derzeit nur ein geringer Zusammenhang, weil diejenigen, die jetzt bei uns mit Covid-19 sterben, oft viele andere Gesundheitsprobleme hatten oder im Alter schon an der Schwelle des Todes standen. Folglich sollten wir nicht weiterhin mit den Infektionszahlen Angst schüren.

Die politisch Handelnden stehen unter Druck, weil die Medien ein Bild von gestern konservieren. Das rechtfertigt aber nicht solche Einschränkungen. Sich jetzt als Opfer dieser Eingriffe in die eigene Freiheit zu sehen, ist insofern allerdings fadenscheinig, als man dabei vergisst, dass unser materialistisches Denken, unser herzloses Konsumverhalten, die Ausbeutung und Zerstörung der lebendigen Erde erst diese Viruspandemie ermöglicht haben. Hier liegt die geistige Herausforderung der Pandemie. Covid-19 hat die ökologische Krise, zu der Greta Thunberg aufrüttelnde Worte sprach, von einer anderen Seite gezeigt, nämlich wie wir mit den Tieren umgehen, von denen das Virus auf uns übergegangen ist. Dabei reicht es nicht, als Antwort die Käfige zu vergrößern. Wir müssen zuerst verstehen, was Mensch und Tier unterscheidet, um unsere Verantwortung zu erfassen.

Die Pandemie ruft uns dazu auf, aufzuwachen für die Erkenntnis, dass unser moralisches Verhalten von den Tieren und den Pflanzen wahrgenommen wird.

Es klingt überraschend, aber wir werden der Tierwelt erst gerecht werden, wenn wir einen Begriff davon haben, was uns zu Menschen macht. In den letzten hundert Jahren ist in allen Wissenschaften systematisch der Mensch dem Tier und das Tier der Maschine gleichgestellt worden. Eine einzigartige Fähigkeit des Menschen besteht darin, aus dem Erfühlen und bewussten Verstehen des anderen moralisches Verhalten abzuleiten. Diese Freiheit macht uns zu Menschen, und sie kann uns dazu führen, zu fragen, was ein Tier fühlt, ja, was eine Pflanze durch uns erlebt, wenn wir so mit ihr umgehen. Gehen wir doch in die Wälder, um zu sehen, wie viele Bäume aus Trockenheit und Schädlingsbefall sterben. Hängt das nicht auch mit unserer Haltung gegenüber der Natur zusammen? Wir wissen heute, dass ein Wald ein sensibles Wesen ist. Alle Bäume stehen miteinander in Verbindung und nehmen wahr, was in ihrer Umgebung und bei ihren Artgenossen geschieht. Die Pandemie als ein Glied einer Kette von Ereignissen ruft dazu auf, aufzuwachen für die Erkenntnis, dass unser moralisches Verhalten von Tieren und Pflanzen erlebt wird. Daraus entstehen kurz- und langfristig Folgen für die Menschheit, worauf Rudolf Steiner eindringlich und konkret hingewiesen hat. Aus diesem Wissen gilt es Konsequenzen abzuleiten, wie wir unser Verhältnis zu Tier, zu Pflanze und sogar zur Maschinenwelt neu gestalten. Am Tier können wir lernen, dass die Natur nicht aus Dingen besteht, sondern aus Wesen! Das Gute ist, dass wir nicht bei null anfangen, sondern dass wir auf hundert Jahre biologisch-dynamische Landwirtschaft zurückgreifen und aus dieser Erfahrung ein integratives Verhältnis zum Tier aufbauen können, sodass wir Mensch und Tier und einer artenreichen Pflanzenwelt ihren jeweils passenden Platz geben.

Die aktuelle Mäuseplage in Norddeutschland bedroht die Ernten, weil es kaum mehr Mäusebussarde gibt, weil es seit der Flurbereinigung zu wenig Hecken und andere Brutplätze für Vögel gibt. Dies ist ein kleines Beispiel dafür, dass ökologisches Denken vom Umkreis des Menschen her unsere Verantwortung für alle Lebewesen erfassen muss, um angemessen handeln zu können. Die Phase rücksichtsloser Zentralperspektive der Neuzeit ist vorbei. Dies zu erfassen, dafür empfinde ich die Anthroposophie als entscheidende Hilfe. So stoßen uns anthropogene Pandemien wie Covid-19 auf unsere wahre Stellung in Natur und Kosmos und auf unsere moralische Verantwortung.

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