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Der Weltenliebe: Weg zum Licht

Eine ‹zufällige› Entdeckung in einem winzigen Antiquariat: ein Gedicht von Joseph Roth.


Diesen Sommer entdeckte ich in De Panne, einem kleinen, merkwürdigen belgischen Badeort nahe der französischen Grenze, ein winziges, leicht verborgenes Antiquariat namens Serendiep. Serendipität bedeutet ‹zufällige Entdeckung›. Wenn man das Wort Serendiep nicht versteht, klingt es fast wie ein uraltes westflämisches, mindestens mittelalterliches Wort, das von Tiefe (‹diep›), von Gott (‹des Herrn Tiefe›, ‹’s Heeren diepte›), von Meer (‹Zee›, ‹See›) träumen lässt. Dort machte ich also eine ‹zufällige Entdeckung› – der Name wirkte.

Ich fand ein eher unscheinbar aussehendes Büchlein mit dem Titel ‹Parade van Gebeenten› (‹Gebeente› bedeutet ‹Gebein›, ‹Knochen›), das Gedichte und Reportagen über den Ersten Weltkrieg aus der Feder des jüdisch-österreichischen Autors Joseph Roth enthielt. Joseph Roth (1894–1939) ist in den letzten Jahren fast zu einer Kultfigur im literarischen Leben in Belgien und den Niederlanden geworden. Sein Ruf wächst. Obwohl sicher noch nicht alles von ihm erhältlich ist, erscheinen laufend neue Übersetzungen. Vor allem sein Leben im belgischen Exil fasziniert heutige Menschen. Joseph Roth war mir seit Langem nicht unbekannt: Ich liebte ihn als ausgezeichneten Stilisten einer sachlichen, zugleich poetischen deutschen Sprache und als freien Erzähler, der weder tiefe Tragik noch Komik meidet. Seine Reportagen haben zeitgeschichtlichen Wert und dokumentieren ein Zeitalter – das sogenannte Interbellum –, das nicht aufhört, uns zu faszinieren (und zu warnen). Ein großer, nüchtern-prophetischer Aufsatz aus dem Jahre 1933 ist ‹Autodafé des Geistes›. (1)

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Meine eigentliche Entdeckung aber galt einem Gedicht. Roth hatte auch eine spirituelle Ader. Das Gedicht heißt ‹Christus› und handelt von einer zweiten Kreuzigung, einem neuen Golgatha.

Ich wusste nicht, dass Roth in seiner Jugend auch Gedichte geschrieben hatte, und begegnete ihnen durch das in der Serendipität gefundene Büchlein. Die Gedichte aus der Zeit des Ersten Weltkrieges entstammen entsetzlichen Kriegserfahrungen (J. R. war selbst Soldat). (2) Von den Reportagen sollte man vor allem ‹Wo der Weltkrieg begann› lesen! Sie vermitteln das Gefühl, dass hier jemand etwas geschrieben hat, was hundertprozentig unentbehrlich und wahr ist, etwas, was auch das kleinste Kind wissen sollte, wie lyrisch es auch sei. Roth beschreibt dort eine Jugenderinnerung an den Mord des Thronfolgers Franz Ferdinand von Österreich im Juli 1914 in Sarajevo und einen Besuch in Sarajevo 13 Jahre später. Es wird erlebbar, wie in unfassbarer Weise aus der Idylle des Alltags ein maßloser Weltkrieg entbrannte und wie aus diesem Monster wiederum eine scheinbar unschuldige Alltagsidylle hervorging. Roth ist imstande, den notwendigen Schock weiterzugeben und die Wunde offen zu halten.

Meine eigentliche Entdeckung aber galt einem Gedicht. Roth hatte auch eine spirituelle Ader. Das Gedicht heißt ‹Christus› und handelt von einer zweiten Kreuzigung, einem neuen Golgatha. Als Anthroposoph kommt man nicht umhin, hier an Rudolf Steiners Londoner Vortrag vom 2. Mai 1913 zu denken. Ich werde unten die gemeinte Stelle zitieren. Das Gedicht erschien vier Jahre später, «mitten in den kriegerischen Stürmen», am 25. Februar 1917 in Prag. Hundert Jahre später eröffnete Peter Selg am 25. Februar 2017 die Antwerpener Tagung ‹Lichtbaken 1917–2017›, die dem 100-jährigen Jubiläum der Entdeckung der Dreigliederung/Dreigliedrigkeit des Menschen und der Gesellschaft gewidmet war. Das Gedicht wurde inzwischen von Antoine Lambrechts ins Englische übersetzt. Nun möchte ich es der Meditation und der Betrachtung der Leser überlassen, inwiefern es sich in Roths Gedicht und Steiners Ausführungen in London um das gleiche spirituelle Phänomen handelt, oder um die ‹zufällige› Ahnung davon in einer sehr begabten, empfindsamen, jungen Seele. Mich selbst würde das jetzt zu weit führen, doch danke ich von Herzen für das Serendiep-Erlebnis.

CHRISTUS

Oh Herr! – O damals litt ich nicht –

ich jauchzte über meine Wunden

und durch den Flor der dunklen Stunden

ging ich der Liebe Weg zum Licht – –

Doch jetzt durchwühlt mich diese Qual

der Brüder, die einander hassen:

ich kann von meinem Kreuz nicht lassen

und sterbe täglich tausendmal …

Oh Herr! – Die Tage sind so rot,

weil sie in heißem Blute schwammen

und alle Nächte sind nur Flammen,

von deren Brand der Himmel loht – –

Ich berge still mein Angesicht

und harre auf mein Auferstehen:

denn – Herr! – nun will ich wieder gehen

der Weltenliebe Weg zum Licht.

Rudolf Steiner am 2. Mai 1913 (GA 152, S. 46):

‹Die Samen von irdischem Materialismus›, die seit dem 16. Jahrhundert in die geistige Welt in immer größerem Maße von den durch die Pforte des Todes schreitenden Seelen hinaufgetragen wurden und immer mehr Dunkelheit bewirkten, bildeten die ‹schwarze Sphäre des Materialismus›. Diese schwarze Sphäre wurde von Christus im Sinne des manichäischen Prinzips in sein Wesen aufgenommen, um sie umzuwandeln. Sie bewirkte in dem Engelwesen, indem sich die Christus-Wesenheit seit dem Mysterium von Golgatha offenbarte, den ‹geistigen Erstickungstod›. Dieses Opfer des Christus im 19. Jahrhundert ist vergleichbar dem Opfer auf dem physischen Plan im Mysterium von Golgatha und kann als die zweite Kreuzigung des Christus auf dem Ätherplan bezeichnet werden. Dieser geistige Erstickungstod, der die Aufhebung des Bewusstseins jenes Engelwesens herbeiführte, ist eine Wiederholung des Mysteriums von Golgatha in den Welten, die unmittelbar hinter der unsrigen liegen, damit ein Wiederaufleben des früher verborgenen Christus-Bewusstseins in den Seelen der Menschen auf Erden stattfinden kann. Dieses Wiederaufleben wird zum hellseherischen Schauen der Menschheit im 20. Jahrhundert.

CHRIST

Oh, Lord! – I did not really suffer then –

I screamed over my wounds in joy

and through the bloom of gloomy hours

I went the way of love to light – –

But now the woe of brothers

hating one another torments me:

I cannot leave my cross behind,

I die a thousand times a day …

Oh, Lord! – The days appear so red

because they swam in burning blood

and all the nights are merely flames

whose fire set ablaze the sky – –

I quietly hide my face

and wait to rise again:

because – oh Lord! – I want to go once more

the way of universal love to light.

(Translation: A. Lambrechts, 2019)


(1) Siehe: Joseph Roth: Berliner Saisonbericht, Unbekannte Reportagen und journalistische Arbeiten 1920–39, 1984, S. 381).
(2) Heute findet sich das ganze Material im zweiten Band seiner Werke (Köln 1989).

Bild: Joseph Roth

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