Den eigenen Blick erweitern

Leserbriefe und Kommentare zum Artikel von Gisela Kurnatowski ‹Im fünften Monat der Corona›, ‹Goetheanum› Nr. 36, 4.9.2020.


So darf Anthroposophie nicht in der Öffentlichkeit erscheinen

Überlegen Sie doch einmal, was Institutionen für einen Aufwand betreiben, um zu helfen, die Pandemie einzugrenzen und vor allem auch den gesetzlichen Anforderungen zu genügen. Wenn das Goetheanum Gäste hätte, die sich so verhalten, wie die Autorin in der Bahn, dann müsste es schließen. Es ist so wahnsinnig klischeehaft. Böse sind: Schwarze Masken, Laptops, knochige Hände und rote Fingernägel. Wir als Anthroposophinnen und Anthroposophen sollten wirklich auf solche Klischees verzichten und voller Verständnis mit allen Menschen sprechen und durch Weisheit, liebevolles Verhalten auffallen und den Menschen ihre Freiheit lassen. Das kann dann auch bedeuten, eine Maske zu tragen, wenn das angesagt ist. Erst verstört die Autorin die Leute, die wegen der Pandemie und der Verweigerung der Autorin, wie vorgeschrieben eine Maske zu tragen und ihre Umgebung zu schützen, verunsichert sind. Und dann stilisiert sie eine Frau, die ihrer Meinung ist, als Mitschafferin an der «sozialen Wirklichkeit, die im Entstehen begriffen ist». Was meint die Autorin mit dieser Wirklichkeit? Ich denke, Anthroposophie hat das Anliegen, Weisheit, Liebe und Frieden unter den Menschen auszubreiten. Was ist mit dem sozialen Hauptgesetz?

Torsten Arncken


Anthroposophen als Radikale?

Ich sitze jeden Werktag mit Mund-Nasen-Schutz neben meinen Fahrschülerinnen und -schülern – jeden Werktag mindestens acht Stunden. Auch ich habe schon geschwitzt, habe schwer geatmet und diese Masken innerlich verflucht. Aber ich kenne auch die Geschichten der Covid-Kranken und -‹Genesenen›. Manchmal meine ich, wir kennen dieses Virus noch gar nicht genau: was es macht, was es, vor allem, bei den Genesenen noch für Nach- und Nebenwirkungen hat. Ich weiß nicht, wo in dieser Coronapandemie so manche Anthroposophen und Anthroposophinnen hintendieren. Ich befürchte, dass wir durch solche Artikel in dem vielen Guten, welches wir sonst in die Welt bringen, unglaubhaft, sektiererisch und weltfremd aufgefasst werden. Nach der Berlin-Demo wurden Anthroposophinnen und Anthroposophen mit Weltverschwörern, Querdenkerinnen, Rechtsradikalen und Reichsbürgerinnen in einem Atemzug genannt. Wollen wir das?

Andreas Deibele


Zeichnung: Sofia Lismont

Im Einklang mit der Gemeinschaft

Als ich vierzehn Jahre alt war, habe ich die Seelenhaltung der Toleranz zum ersten Mal bewusst geübt. Ich sollte einen Teil der Sommerferien mit der Familie meiner besten Freundin verbringen, und da ich ihre Eltern kannte, betete ich: «Lieber Gott, lass mich auch den Intoleranten gegenüber Toleranz lernen.»

Jetzt übe ich wieder, wie schon so oft, und dieses kleine Stimmungsbild hilft mir dabei.

Ehrlich gesagt begegnet mir im Alltag häufiger das Gegenteil. Im Naturkostladen wird man von Bekannten angeblafft – «Na, Sie sind aber auch eine ganz Obrigkeitstreue», wenn man mit Maske einkauft. Auch eine Art «Schwarzschnabel»-Verhalten? Ich bringe volles Verständnis auf für die Unbequemlichkeit des Maskentragens im Zug, aber ich denke an die Menschen, die gar nicht mehr Zug fahren könnten, wenn es keine Maskenpflicht gäbe, und dann krame ich ab und zu die Wasserflasche heraus oder ein Brot oder einen Apfel, um mal ‹zwischenzutanken› – nicht nur in den Magen, sondern auch in die Lunge. Ich habe meinen Humor bemüht und überlebt.

In einer israelischen Tageszeitung fand ich neulich einen Artikel darüber, ob es ethisch vertretbar ist, andere auf die Maskenpflicht hinzuweisen, der nach langer Abwägung aller philosophischen Grundpositionen dazu kam, dass es tatsächlich geboten sein kann – um der anderen willen, die dadurch geschützt werden sollen. Was ist daran lächerlich? Warum glaubt die Autorin nicht daran, dass es tatsächlich um die Risikogruppen gehen könnte? Und in liebevoller Art. Das mag hier den Mitreisenden gefehlt haben, so wie es denen fehlt, die mich ein ‹Schlafschaf› nennen oder meinen, ich würde nur die Gesetze befolgen, weil ich früher einmal Juristin war oder mein Mann eine Staatspension bekommt. Aber Toleranz und Empathie spricht aus der Gesinnung der maskengeplagten Reisenden leider auch nicht so richtig.

Man könnte es mit der ‹Philosophie der Freiheit› versuchen. Am Ende des 9. Kapitels geht es um das Einhalten von Gesetzen, von denen der Philister befürchtet, dass der freie Geist sie womöglich nicht einhalten könnte. Der freie Geist hat es aber gar nicht nötig, sich über die Gesetze der Gemeinschaft zu erheben. Er wird sie achten, weil er sie überzeitlich, aus ihrem Gesamtzusammenhang heraus versteht. Wo er sie nicht berechtigt findet, wird er sie zu ändern suchen, aber ansonsten wird er sie befolgen, als wären es seine eigenen. Insofern habe ich größten Respekt vor denen, die die Maskenpflicht zu kippen versuchen im Einklang mit der Gemeinschaft. Sich individuell darüber zu erheben, ist etwas ganz anderes und nicht unbedingt nur gemeinschaftstauglich. Zur sozialen Eskalation gehören aber immer beide Seiten.

Ilse Wellershoff-Schuur


Redaktion

Was kommt nach den Meinungen und Vorstellungen?

Der Artikel hat viele Reaktionen hervorgerufen und die Gemüter erhitzt. Hier gibt die Redaktion der Wochenschrift eine ergänzende Perspektive auf den Text.

Ich sehe in Gisela Kurnatowskis Beitrag nicht so sehr ein politisches Statement, sondern einen literarischen Versuch, zu schildern, zu welchen zwischenmenschlichen Phänomenen es kommen kann in diesen Zeiten. Für mich war der Text insofern erschütternd, dass ich in mir vernehmen konnte, so nicht mit Menschen sein zu wollen. Ein auf Pro oder Contra ausgerichtetes und richtendes Verhalten miteinander kann nicht zukunftsfähig sein. Die Frage bleibt, wie wir miteinander unterschiedliche Bedürfnisse handhaben und aushandeln wollen. Auch kann ich mich durch den Text und die Leserreaktionen fragen, aus welchen Emotionen heraus ich agiere oder wo ich in mir eine innere Ruhe herstellen kann, die mir ermöglicht, in wirkliche Begegnungen zu gehen, statt in ‹Vergegnungen›. Insofern finde ich eine Debatte, die sich darauf beschränken würde, meine Meinung zur Maskenpflicht oder den ergriffenen Maßnahmen zu bekunden, gar nicht so interessant. Mich würde eher interessieren, welche sozialen Qualitäten der Einzelne sieht und für wert erachtet, in Zukunft zu pflegen und zu fördern. Diese Frage lässt sich von beiden Seiten aus stellen: Die Menschen, welche die Maske tragen, um andere zu schützen, bringen in die Frage genauso einen Anteil ein, eine Perspektive, wie jene, die die Maske am liebsten gar nicht tragen würden, weil sie Antlitze vermissen.

Aber der Raum, in dem das ermöglicht würde, ist keine Kampfarena. Er ist noch zart und als gesellschaftlicher Raum noch neu. Und irgendwie fragt Corona, neben den Fragen zum Klima, zum Kapitalismus, zu unserem Verhältnis zur Globalisierung, auch nach diesem Raum. Am konkretesten in Situationen wie der von Gisela Kurnatowski geschilderten. In der Konkretheit meines Umgangs mit einem konkreten anderen, mir gegenüber seienden Menschen in der Situation von Corona als der Möglichkeit, andere durch mein Bedürfnis, meine Freiheit zu gefährden, ist diese Frage am schwierigsten zu beantworten. Wo ist die Grenze oder wie ist eine Grenzausdehnung möglich? In dem Sinne ist die Wochenschrift nicht parteiisch, sondern hat eine Erkenntnisaufgabe, die sich auch in kontroversen Perspektiven spiegelt und das Denken und die Selbstbeobachtung anregen will.

Gilda Bartel

Sorgfalt und Großherzigkeit

Wenn jemand mit 70 km/h durch die Ortschaft fährt, dann wird dieses eine schnelle Auto zur Gefahr. Anders ist es, wenn jemand keine Maske trägt. Hier ist es wie mit dem Impfen, es kommt nicht darauf an, dass alle die Ansteckung verhindern, sondern nur, dass möglichst viele es tun, denn die Wahrscheinlichkeit, dass die- oder derjenige ohne Schutz gerade infiziert ist, ist außerordentlich gering. Während also im Straßenverkehr alle sich an Regeln halten sollten, weil jeder Regelverstoß das Risiko hebt, gilt bei den Masken, dass das Gros sich so verhalten sollte, die Ausnahmen fallen nicht ins Gewicht – oder man hält Abstand, wie früher, wenn jemand hustete. Großartig, wenn eine Gesellschaft hier Sorgfalt und Großherzigkeit vereinen kann, sodass die allermeisten eine Maske tragen und die, denen es schwerfällt, es lassen dürfen, lassen sollen.

Wolfgang Held


Antwort der Autorin

Vielen Dank den kritischen Stimmen, die sich geäußert haben und mir eine Vorstellung davon geben, wie der Text innerhalb des Leserkreises aufgefasst werden kann. Es war ja kein Artikel zur Verhältnismäßigkeit der Maskenpflicht, sondern die Schilderung einer Begebenheit, die sich tatsächlich abgespielt hat – eine soziale Engführung im fünften Monat der Corona. Weder habe ich den Plot konstruiert noch die Personen aus meiner eigenen Vorstellung klischeehaft ausstaffiert; auch nicht impliziert, dass schwarze Masken, Laptops und lange rote Fingernägel ‹böse› sind. Ich habe lediglich versucht, zu schildern, wie Menschen agiert und mich bedroht haben, die eben im Falle des Paares tatsächlich schwarze Masken trugen und im Falle der aussteigenden Frau mit gelber Maske tatsächlich mit roten Fingernägeln bewehrt waren.

Wie soll man denn Menschen schildern, deren Gesicht man nicht sieht und die sich mit keiner verbindenden Geste, keinem Gruß, verbal auf einen stürzen?

Ohne ein Lächeln, ein Grüßen, ein freies Atmen kommt in der sozialen Begegnung kein Einverständnis zustande, kein Abwägen, was man miteinander teilen, wie man sich in der Situation einrichten kann.

Die Abstandsregeln haben sicher viel Gutes gebracht, z. B. dass wir uns nicht mehr in Eile und Ungeduld die Einkaufswägen in die Hacken fahren, überhaupt die Sphäre des andern wahrnehmen und achten; aber der Abstand sollte zum Spielraum werden, in dem man sich verständigen kann, und dazu gehören Sprache, Mimik und unverstellter Blick.

Die Maske, insbesondere die schwarze, macht autark, in einer martialischen Weise stark und unangreifbar. Bis vor Kurzem kannten wir sie allein als Berufskleidung von Bankräubern und Terroristen. Mittlerweile ist es die eleganteste Lösung für Persönlichkeiten, der Maskenpflicht zu obliegen und zugleich Macht und Autorität zu repräsentieren. Und an dieser Stelle habe ich nun stark stilisiert: Ich nannte das Paar mit der schwarzen Maske schon beim ersten Auftritt: Schwarzschnäbel. Das ist eine Real­imagination. Das Wort kam erst später, aber das, was ich sah, war – Schwarzschnäbel.

Es war und ist nicht mein Anliegen, etwas Verächtliches über diese Menschen zu äußern – man möge sich erinnern, der letzte Satz lautete: Ich würde mich gern auch an ihr menschliches Gesicht erinnern. Aber der schwarzen Maske eignet eben eine sehr besondere Wirkung: Sie verursacht elementarste Angst, aber es zeichnet sich, wenn man in der Aufmerksamkeit nicht nachlässt, die moralische Gestalt des Menschen ab und zwar in ihrem noch unerlösten Aspekt, mit anderen Worten: der Doppelgänger wird klar umrissen. Deswegen konnte ich die beiden nur so nennen, denn das war das Einzige, was sie mir von sich zu sehen gestatteten.

Ich denke, in dem Ganzen ist doch eine Menge enthalten, was einen positiven Bezug zum Anliegen der Anthroposophie aufweisen dürfte. Ich werde mir jedenfalls demnächst eine schwarze Maske zulegen und, bevor ich sie bei meiner nächsten Zugfahrt trage, mal einen Blick in den Spiegel und – den eigenen Abgrund wagen.

Gisela Kurnatowski

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