Daß ich mein Hirn auch zum Denken gebrauche

Wer war Sophie Scholl? Die jugendliche Ikone des deutschen Widerstands gegen Hitler wäre am 9. Mai 100 Jahre alt geworden. Der Mythos einer modernen Heiligen entfernt ihre Nachwelt jedoch von der Kraft, die sie als Menschen wirklich ausmachte. Sie konnte aus der Spannung innerer und äußerer Polaritäten Mut zum Denken und Handeln gewinnen und war entschlossen, trotz einer gefährlichen Übermacht, diesen Mut nicht aufzugeben. Franka Henn sprach mit der Biografin und Historikerin Barbara Beuys.


Franka Henn Wir treffen uns anlässlich des 100. Geburts­tags von Sophie Scholl. Sie sind die Autorin der umfassendsten Biografie über Sophie Scholl. Wie gehen Sie an eine Biografie heran?

Barbara Beuys Ein Merkmal aller meiner Bücher ist, dass diese Persönlichkeiten nicht vom Himmel gefallen sind. Es sind übrigens immer selbstbewusste, große Frauen, weil ich glaube, wir können mit den Büchern der großen Männer die Straße pflastern. Es gibt noch viele Frauen, die in der Geschichte ganz wichtig waren und vergessen wurden. Mein Merkmal ist, dass ich diese Frauen in ihre Zeit hineinstelle, ihre Wurzeln zeige und inwieweit sie die Zeit beeinflusst haben. Wer meine Bücher liest – sei es über Hildegard von Bingen oder die finnische Malerin Helene Schjerfbeck –, bekommt also immer ein Bild der Zeit, in der diese Frauen gelebt haben. Ich zeige sie mit ihren Widersprüchen, Ecken und Kanten. Das war dann das Besondere meines Buches über Sophie Scholl, dass mit ihm ein gewisser Mythos, der sie umrankt und als Persönlichkeit eigentlich verfälscht hat, beiseitegeschoben wurde.

Henn Die Frage nach dem Mythos und der Ikonografie Sophie Scholls liegt mir auch auf der Zunge. Sie wurden außerdem dafür ausgezeichnet, als Publizistin zur Geschlechtergerechtigkeit beizutragen. Wie haben Sie es geschafft, sich dieser Ikone des deutschen Widerstands zu nähern, und wie sind Sie dann zu Sophie Scholl durchgedrungen?

Beuys Das Durchdringen war einfach ganz viel Recherchearbeit. Ich habe 2008/09 lange Zeit im Archivkeller im Institut für Zeitgeschichte in München gesessen. Da gab es noch keine Digitalisierung. Das Institut hatte alle Dokumente, und das sind Tausende, als Film aufgenommen, und ich saß da an der Kurbel und habe diese Filme gedreht. Die meisten Dokumente, viele aus den 20er-Jahren, sogar noch einige aus dem 19. Jahrhundert von ihrer Großmutter, waren handgeschrieben. Ich musste mich erst einmal in Dutzende von Handschriften einarbeiten, und leider war die Handschrift von Sophie Scholl die allerkrakeligste. Aber mit der Zeit habe ich es dann auch geschafft. Diese Dokumente haben mich alle auf den Boden der Tatsachen gebracht.

Auf festem Grund

Henn Können Sie uns ein Bild von Sophie Scholl malen?

Beuys Das Faszinierende, das sich durch ihr ganzes Leben zieht, sind ihre Gegensätze und dass sie es geschafft hat, aus diesen Gegensätzen etwas Produktives hervorzubringen. Ich beginne mal mit ihrer Familie. Diese Familie, die sie als ihren sicheren und warmen Kreis beschrieben hat, war für sie ganz wichtig, auch für ihr späteres Engagement als Widerstandskämpferin. Sie hat die Widerstände, die positiven, in ihrer Familie erlebt. Da war einmal ihre Mutter, eine tiefgläubige Christin, ausgebildet als Krankenschwester. Sie hat ihren Mann, Robert Scholl, 1915 während des Krieges im Lazarett kennengelernt. Sie war eine Diakonisse, unverheiratet und 35 Jahre alt. Robert Scholl war 25 Jahre alt. Es war besonders, dass eine 35-jährige, selbstbewusste Frau einen jungen Mann von 25 Jahren heiratet. Noch überraschender: Dieser Robert Scholl war Agnostiker, er glaubte nicht an den christlichen Gott seiner Frau. Er verehrte Friedrich Schiller und sah sich als einen Jünger des Humanismus, der sein Leben allein auf Freiheit und Selbstbestimmung gründet. Die fünf Kinder haben erlebt, dass sich das ergänzen konnte. Auch bei Diskussionen am Mittagstisch durften alle Kinder mitreden. Die Eltern hatten das gleiche Ziel, sie wollten die Kinder zu selbstbewussten und selbständigen Menschen erziehen. 1933 kam es sozusagen zu einem Knall, als die Eltern weiterhin überzeugt demokratisch waren, während ihre Kinder den Verführungen des Nationalsozialismus erlagen. Alle Kinder, Sophie Scholl 1934 mit 13 Jahren, sind in die Jugendorganisationen der Hitlerjugend (HJ) eingetreten. Sophie Scholl hat sich von 1934 bis 1938 intensiv in diesen NS-Jungschaften engagiert. Das ist etwas, was man vor meinem Buch verschwiegen hat. Aber es gehört zu den Widersprüchen ihres Lebens und es gehört dazu, dass sie sich dann davon getrennt hat.

Henn Man sagt oft, sie hatte eine frische, kecke Art, mit einem sehr empfindsamen Wesen und einem ziemlich scharfen Verstand. Würden Sie dieses Bild noch ergänzen, und welche Gegensätze haben Sie noch außerhalb ihrer Familie gefunden?

Bei Diskussionen am Mittagstisch durften alle Kinder mitreden.

Beuys Ja, sie war keck und aufgeweckt. Von ihr wurde immer die Anekdote erzählt, dass sie als Grundschülerin sagte: «Die Brävste bin ich nicht, die Schönste will ich gar nicht sein, aber die Gescheiteste bin ich immer noch.» Sie hat immer ihren Geist hervorgehoben. Dann, innerhalb ihrer Jahre als Mädelführerin im Bund Deutscher Mädel (BDM), ist sie einerseits durch Ulm marschiert mit den Mädchen, für die sie verantwortlich war, hat mit ihnen NS-Gedankengut studiert, gleichzeitig war ihr Auftreten gegensätzlich. Sie hatte einen ganz kurzen Haarschnitt, trat burschikos auf, trug am liebsten Jacken von ihren Brüdern und rauchte schon mit 16. Der Slogan der Nazis hieß: ‹Eine deutsche Frau raucht nicht› – das war ihr völlig egal und es wurde auch akzeptiert. Sie hat auch ausgehalten, dank der Einsicht ihrer Eltern, dass diese anderer Meinung waren. Die sagten klar, dass Hitler in den Krieg führe, aber sie haben weiterhin zu ihren Kindern gehalten. Es war ungeheuer wichtig, dass die Kinder wussten: Egal, was sie denken, sie können sich auf diese Eltern verlassen. Natürlich wussten sie dies auch später, als ihr Widerstandskampf begann.

Verführung durch Ideologie

Henn War die Begeisterung der Scholl-Kinder für Hitler sofort da?

Beuys Die Begeisterung war sofort da. Dank dem Tagebuch der ältesten Tochter Inge konnte ich die glühend positiven Einträge lesen, die sie sofort, als Hitler Reichskanzler wurde, gemacht hat. Unterstützt wurde Inge in ihrem Eindruck noch vom Ulmer Pfarrer Oehler, der, wie die evangelische Kirche, den Aufbau des neuen Deutschlands, das Hitler propagierte, stark befürwortete. Wir können im Tagebuch von Inge Scholl sinngemäß nachlesen: «Der Pfarrer ist dafür, wunderbar, ich bin auch für Hitler, wir singen die Lieder.» Das alles hat Sophie mitbekommen, auch dass ihr Bruder Hans, der ja unbedingt in die HJ wollte, 1933 in seinem Kinderzimmer ein Hitlerbild hatte, das er morgens aufhing. Dann gab es ein verqueres Ritual, denn am Abend kam der Vater aus dem Büro, ging in das Zimmer seines Sohnes und hing das Bild ab, und am Morgen hing es wieder da. Es dauerte einige Monate, bis der Vater einsah, dass dies widersinnig war und der Sohn sein Hitlerbild hängen lassen sollte. Wenn wir auch von Sophie Scholl zu diesem Zeitpunkt keinerlei Aussagen haben, so ist sie doch mit der positiven Sicht auf diesen neuen NS-Staat groß geworden, sie hat einfach die Konsequenzen gezogen und wollte auch dabei sein.

Zeichnung von Sophie Scholl von ihr und ihrer Schwester Elisabeth. Institut für Zeitgeschichte München. © 2021 manuel aicher, dietikon (schweiz).

Henn Unter dem Motto ‹Jugend führt Jugend› haben sich die Scholl-Geschwister auch während ihrer Zeit bei der HJ hochgearbeitet. Wie hat Sophie diese Jahre erlebt?

Beuys Diese NS-Jugendorganisationen waren für die Männer und Jungen nichts Besonderes. Das Besondere war, dass die Nazis als geschickte Menschenfänger das gleiche für Mädchen eröffneten. Erstmals konnten mit dem BDM junge Mädchen außerhalb der Familie eigenständig leben, sich bewähren, Führung ausüben, und Sophie Scholl hat das mit Engagement ergriffen, denn dazu war sie auch erzogen. Und insofern ist es völlig nachvollziehbar, dass sie da aufgegangen ist. 1937, als ihr Bruder Hans Scholl von der SS verhaftet wurde, hat das für sie keinen Anlass gegeben, aus dem BDM auszutreten. Erst 1938 hat sie sich zurückgezogen, aufgrund persönlicher Querelen, aber sie ist nicht ausgetreten. Das ist ganz wichtig! Bei ihr gibt es keinen Einschnitt, kein Bekehrungserlebnis, durch das sie gesehen hat, was sie falsch macht, sodass sie sich dann wandelt. Es war ein langsamer Prozess. Das erste Mal, dass wir überhaupt etwas über ihre Abkehr von der NS-Ideologie erfahren, ist in einem Brief an ihren festen Freund Fritz Hartnagel, dem sie zwei Tage nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, also am 5. September 1939, schreibt. Ihr Freund war Berufsoffizier in der Wehrmacht und sie schreibt ihm: «Ich kann es nicht begreifen, dass nun dauernd Menschen in Lebensgefahr gebracht werden von anderen Menschen. Ich kann es nie begreifen und ich finde es entsetzlich. Sag nicht, es ist für’s Vaterland.»

Kriegsgegnerschaft und Krise

Henn Während der Krieg anfängt, endet Sophies Schulzeit und sie beginnt eine Ausbildung zur Kindergärtnerin, auch in der Hoffnung, dem Reichsarbeitsdienst durch einen sozialen Beruf zu entgehen. Das klappt aber nicht, sie muss große innere Widerstände aushalten und gerät in eine persönliche Krise. Wie geht sie da hindurch?

Beuys Sie macht das Abitur 1940 und erkennt schon, wie ihre persönlichen Freiheiten eingeschränkt sind. Als sie 1941 ihr Diplom als Kindergärtnerin macht, wird sie doch zum Reichsarbeitsdienst gezwungen. Sie ist nun ganz klar eine Gegnerin dieses Regimes, aber sie kann ja nicht mit dem Kopf durch die Wand. Sie hofft, in sechs Monaten wäre sie fertig, sie liest abends unter der Bettdecke Thomas Mann und Augustinus und hält sich damit sozusagen aufrecht. Und entschlossen, wie sie ist, versucht sie es auch mit kalten Duschen. Nach sechs Monaten wird sie für weitere sechs Monate verpflichtet, und das löst Ende 1941 eine richtige Krise in ihr aus. Sie erinnert sich an den Gott ihrer Kindheit, bei dem sie Halt zu finden versucht. Aber dieser innere Gott ist ihr schon ganz fern.

Henn In ihrer Verbundenheit mit der Natur und der Kunst schwingt immer ihre große Nähe zu einem geistigen Hintergrund mit, eine Gottesnähe. Nun erlebt sie eine unbekannte Gottesferne. Hat sie diese Krise später überwunden?

Beuys Hier sind wir wieder bei den Gegensätzen, die immer bleiben, aber positiv verarbeitet werden – sie gibt nicht auf. Interessant ist, dass sie in ihrem Tagebuch nie vom Glauben spricht. Ich meine, es ist kein Zufall, dass sie sinngemäß wiederholt: «Ich weiß, er ist da, auch wenn er mich jetzt nicht sieht. Und ich werde mich an ihn klammern.» Das geschieht Ende 1941 bis Frühjahr 1942. Sie erkennt, dass ihr Verstand, ihre kritische Vernunft, nicht weiterhilft, dass sie etwas anderes braucht, um Gott wieder nah zu sein: Sie weiß, er wird ihr helfen, wenn sie an ihm festhält. In dieser Zeit wird sie von ihrer Mutter unterstützt. Da gibt es einen regen Briefwechsel. Sie versucht aber nicht, auf ihre Tochter einzuwirken. Nein, sie schreibt ihr nur: Die Liebe Gottes sei das Wichtigste, und er würde sie nicht verlassen. Sophie Scholl hat sich darauf verlassen und im Laufe des Frühjahrs fühlt sie: Ich habe Gottes Liebe wieder erkannt. Dies bleibt ihr dann, und das ist eine Grundlage für ihre weiteren Aktivitäten. Dann kann sie auch endlich nach München zum Studium gehen und schreibt sich für Biologie und Philosophie ein, wiederum Gegensätze vereinend.

Leben unter Hochspannung

Henn Ihr ganzes Heranwachsen, mit der Liberalität der Eltern und dem höheren Bildungsgrad, war zu der Zeit ein Privileg. Ist ihr daraus ein Gefühl der größeren Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, in der sie lebt, erwachsen?

Beuys Zweifellos. Insofern ist auch der Weg des Widerstands, den sie dann gegangen sind, geprägt von diesem Wissen: Wir sind verantwortlich. Wenn wir mit diesem Wissen und dieser Bildung nichts tun, machen wir uns schuldig.

Wir sind verantwortlich. Wenn wir mit diesem Wissen und dieser Bildung nichts tun, machen wir uns schuldig.

Henn Haben sie auch gegenüber anderen Menschen von Schuld gesprochen oder Vorwürfe erhoben?

Beuys Sie haben sich in ihrem Umkreis nicht missionarisch verhalten. In München, wo Hans Scholl schon studierte, lebten sie aber in einem festen Umkreis, einer Art Blase von Menschen, die nicht mit dem Nationalsozialismus verbunden waren. Die Mitschuld haben sie dann erst in den Flugblättern der Weißen Rose eindeutig angesprochen. Am Ende gab es kein Wischiwaschi für sie. Das war das distanzierte Verhalten im Widerstand.

Henn Wenn man jetzt auf die letzte und auch bekannteste Epoche in Sophies und auch Hans Leben schaut: Wie haben sich die Widerstandsaktionen angebahnt und welche Rolle hat Sophie in der Weißen Rose eingenommen?

Beuys Hans Scholl hat mit ein paar Freunden schon 1941 ein paar Flugblätter verteilt. Bis heute ist umstritten, ob Sophie da schon mitgemacht hat. Es wurde im Verlauf des Sommers 1942 klar, dass sie etwas tun mussten. Aber erst mal wurde Hans Scholl mit anderen Kommilitonen als Hilfsarzt nach Russland verpflichtet und kam erst im November 1942 wieder von dort zurück. In der Zwischenzeit hat Sophie Scholl versucht, einen Kopierapparat zu beschaffen, denn es gab offenbar schon die Idee, Flugblätter herzustellen. Und im November ging es dann richtig los. In den Weihnachtsferien in Ulm haben sie den Plan ausgearbeitet, Flugblätter herzustellen, die man im neuen Jahr verteilen wollte. Ihre Gefühle in dieser Zeit gingen auf und ab. Wir können das in den Briefen lesen, die sie an ihren Freund Fritz Hartnagel schrieb, um den sie sich große Sorgen machte, weil er zu dieser Zeit Soldat in Stalingrad war. Sie schildert ihm Alpträume, das Gefühl, dass Kraken nach ihr greifen, und schwenkt dann sofort wieder um: Sie lasse sich ihren Mut nicht nehmen und werde weitermachen. Auch wenn ihr Freund nicht wusste, was sie tat.

Henn Hans Scholl und Christoph Probst waren führend in der Gruppe, zumindest, was das Schreiben der Aufrufe angeht. Was waren Sophies Dienste?

Beuys Sie war sozusagen die Buchhalterin der Weißen Rose. Sie hat genau aufgeschrieben, wie viele Briefmarken und wie viele Umschläge gebraucht wurden, und sorgte auch für eine Kopiermaschine. Hans Scholl hat das akzeptiert, zum Teil auch, weil Sophie Scholl klug genug war, sich nicht in den Vordergrund, vor ihren Bruder zu schieben. Sie war ihm gegenüber auch kritisch. In einem Brief schrieb sie einer seiner Freundinnen, die auch mit ihr befreundet war, Hans sei ein Chamäleon, sie solle vorsichtig sein. In München kochte sie den Tee und blieb bescheiden, sodass es keine Komplikationen gab. Die Sache war für sie das Wichtigste. Sie saß wie die anderen im Postamt von München und versuchte, an Adressen heranzukommen. Und am 15. Januar 1943 bekam sie einen Rucksack mit 2000 Flugblättern, um sie im Zug von München nach Augsburg und Ulm zu bringen, ein lebensgefährliches Unternehmen.

Zeichnung von Sophie Scholl. Institut für Zeitgeschichte München. © 2021 manuel aicher, dietikon (schweiz).

Henn Die Verhaftung in der Münchener Universität – knapp einen Monat darauf – ist bekannt. Hans und Sophie haben zwischen den Vorlesungen sehr viele Flugblätter ausgelegt und auch in den Lichthof hinabgeworfen. Der Hausmeister hat sie entdeckt. Wie ging es weiter nach der Verhaftung?

Beuys Das Fatale war, dass die Buchführung von Sophie Scholl zu Hause in einer Schublade lag. Sie wurden verhaftet und stritten erst alles ab, aber die Gestapo durchsuchte natürlich ihre Studierzimmer und fand diese eindeutigen Unterlagen. Hans und Sophie wurden getrennt vernommen. Als Sophie hörte, dass ihr Bruder alles zugegeben hatte, gestand sie ihrem Gestapo-Verhörer alles und versuchte noch, so viel wie möglich auf ihre Kappe zu nehmen. Für den darauffolgenden Montag wurde eine Gerichtsverhandlung wegen Hochverrats angesetzt. Man holte dafür extra den berühmten Blutrichter Roland Freisler aus Berlin. Er fällte dann auch nach wenigen Stunden das Todesurteil.

Henn Kann man nachvollziehen, wie ihr zumute war, nachdem sie der Gestapo alles gestanden hatte?

Beuys Man muss aufpassen, dass man das nicht heroisiert. Aber als sie am Sonntag die Anklageschrift las, ist ihr wohl klar geworden, dass es mit einem Todesurteil enden würde. Da hat sie etwas gemacht, was erst Jahrzehnte später offenbar wurde. Sie hat diese Akten für den Prozess zugeklappt und auf die Rückseite des Ordners in ihrer Gefängniszelle ganz groß zweimal ‹Freiheit› geschrieben. Sie ist auch angesichts des Todes bei dem geblieben, wofür sie gekämpft hat. Auch als die Eltern und der Bruder Werner sie nach dem Todesurteil am Nachmittag noch besuchen durften, war sie gefasst. Sie nahm den Keks an, den die Mutter gebacken hatte, und sagte, sie esse ihn später. Ich glaube, sie hatte mit ihrem Schicksal abgeschlossen. Dahinter stand auch der feste Glaube, in einer anderen Welt nun ihrem Gott begegnen zu können und etwas getan zu haben, damit es einst eine gerechtere Welt gäbe.

Sophie Scholl war lebendig. Sie hat als junge Frau das Leben genossen.

Henn Wie würden Sie das Christentum beschreiben, das Sophie Scholl am Ende ihres Lebens in sich trug? Könnte man sagen, dass es ein individualisiertes Christentum war?

Beuys Sie hatte ihren Gott gefunden, den Gott, den sie bei ihrer Mutter einst erlebt hatte. Er war nun wieder bei ihr und es ist ganz offensichtlich ein christlicher Gott. Sie hatte einen offenen Blick. Er war zum Beispiel offener als der Blick von Hans Scholl, der ein richtiges Bekehrungserlebnis mit Christus hatte. Ich glaube, dass sie ihr Christentum als eine geistige Grundlage und ihren Humanismus zusammenbringen konnte.

Henn Sie zog eine starke Aufrichtekraft sowohl aus ihrem Freiheitsideal als auch aus ihrem Christentum. Sie werden oft an Schulen eingeladen, um über Sophie Scholl zu sprechen. Das ist auch ein starkes Jugendthema. Was möchten Sie an die Jugendlichen weitergeben?

Beuys Für mich ist es ganz wichtig zu sagen, dass Sophie Scholl lebendig war, dass sie als junges Mädchen, als junge Frau das Leben genossen hat, dass sie die Gemeinschaft gesucht hat, während sie gleichzeitig ein großes Bewusstsein für die Natur hatte und Kunst für etwas ganz Wichtiges hielt, vor allem die Musik. Sie hat wenige Tage vor ihrer Verhaftung das Forellenquintett aufgelegt und in einem Brief beschrieben, wie ihr diese Musik Mut macht. Und mir ist ganz wichtig zu sagen, dass sie sich als selbstbewusste junge Frau in einer Männerwelt behauptet hat. Sie hat mehrfach in ihren Briefen, vor allem an Fritz Hartnagel, geschrieben: «daß ich mein Hirn auch manchmal zum Denken gebrauche.» Und sie wusste, dass das nicht erwartet wurde von einem Mädchen. Es muss keinen Widerspruch geben zwischen Gefühl und Denken. Aber das Gefühl darf das Denken nicht überlagern oder ausschließen. Das hat Sophie Scholl nie verlassen.

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