In wenigen Wochen öffnet sich im Goetheanum erneut der Vorhang für die neue ‹Faust›-Inszenierung in der Regie von Andrea Pfaehler (Eurythmie: Eduardo Torres). Hier schreibt die Regisseurin und führt durch Bilder von ‹Faust II›.
Jetzt spielen wir am Goetheanum wieder ‹Faust›. Dabei ist es kein ‹wieder›, denn vieles ist in dieser Inszenierung neu. Das gilt dieses Jahr auch äußerlich: Ich habe mit einem Team neun Jahre lang die Junge Bühne geleitet und dabei mit über 100 Jugendlichen künstlerisch zusammengearbeitet. Dabei war mir wichtig, dass diese Jugendlichen mit den Schauspielern und -spielerinnen des Goetheanum zusammenkommen. Schon bei der Premiere des neuen ‹Faust› 2020 waren zwei jugendliche Darstellende, Gretchen, damals 17 Jahre alt, und der Valentin, 18 Jahre alt, dabei. Jetzt sind noch vier weitere Jugendliche dazugekommen und wurden von dem Ensemble wie in eine Familie über drei Generationen aufgenommen, denn mit Urs Bihler als Mephisto ist der älteste Darstellende 77 Jahre alt! So treffen sich im ‹Faust› von Goethe diese verschiedenen Menschen und beschenken sich gegenseitig. Die Alten werden verjüngt und die Jungen richten sich an den erfahrenen Spielenden auf. So wird Goethe zu einem Lehrer.
Jede Minute ist einzigartig
Doch warum spielen wir Theater? Warum will man heute Theater sehen? Darüber habe ich mit meinem Sohn, der selbst im ‹Faust› mitspielt, gesprochen. Was ihn am meisten am Theater fasziniere, sei, dass dabei keine Materie übrig bleibe. Ja, das ist Theater! Es bleibt kein Besitz, nichts kann konserviert werden. Das ist der Zauber der Gegenwärtigkeit, und diese ist reich, denn sie entsteht aus der Begegnung der Zuschauer und Zuschauerinnen als einer Schicksalsgemeinschaft auf Zeit und des Ensembles als künstlerischer Gemeinschaft. Das Ensemble ohne Publikum macht keinen Sinn und auch das Publikum ohne Ensemble, ohne Spielende, ist kein Publikum. Es bedingen sich beide, sie werden erst durch die andere Seite, was sie sind, was sie sein wollen. Wenn sich nun die Spielenden mit ihrer ganzen Existenz der Geschichte, dem Drama öffnen und es verkörpern und die Zuschauenden mit all ihren Sinnen aufnehmen, was von der Bühne kommt, dann kommen diese Pole zusammen. Was in dieser Begegnung unsichtbar entsteht, das nehmen vermögen wir mit den Augen der Seele zu sehen.
Die auf der Bühne stehen, spüren dabei den Körper des Publikums. So wird jede Vorstellung, wird jede Minute einer Vorstellung einzigartig. Indem wir uns mit den Figuren auf der Bühne identifizieren, mit ihnen denken, fühlen und handeln, schlagen wir die Brücke zur Bühne. Im ‹Faust› werden wir so zu Gretchen, Faust oder Helena. Große Meister und da ist Goethe der erste, geben in ihren Dramen sogar einem Bösewicht wie Mephistopheles solche Vielfältigkeit und Exaktheit, dass wir uns selbst mit ihm identifizieren können. Das gilt auch für Shakespeare: Ihm gelingt, dass man eine so zwielichtige Figur wie Macbeth versteht und sich – obwohl er ein Mörder ist – mit ihm verbindet und womöglich eine Träne unterdrücken muss, wenn die Figur im Drama stirbt. Wie ist das möglich? Wir sehen die Not, in der die Figur steht! Wenn wir bei Macbeth oder eben Mephistopheles die Zwangslage verstehen, warum er so und nicht anders handeln muss, nicht frei ist, sondern in einer Fülle von Grenzen und Zwängen steht, dann können wir auch an solchen Figuren Anteil nehmen. Da bekommen wir einen großartigen Schlüssel in die Hand, denn wir lernen so überhaupt, den Menschen zu verstehen. Der Mensch an sich ist nicht böse, sondern seine Handlung, seine Entscheidung ist von einer bösen Kraft gelenkt, die uns versucht, die droht, dass wir wir uns verlieren, die ermöglicht, dass wir uns finden. Goethe gibt Mephisto die reizvollsten Texte und fragt damit uns Zuschauende, ob wir mutig sind, dieser Kraft uns zu stellen und wach sind, sie zu durchschauen. Unsere Seele ist dabei in enormer Bewegung, denn sie verliert ja nicht ihr Urteilsvermögen. Wir unterscheiden zwischen einer guten und einer schlechten Tat, sehen, ob jemand Reue zeigt. Wir haben Mitleid, bejahen zugleich, dass jemand seine Strafe bekommt. In diesem Hin und Her sehen wir den großen Zusammenhang, und das können wir nur im Theater! So oft gelingt uns das im rechten Leben nicht, weil wir im Leben aufgehen. Anders im Theater: Da haben wir die Möglichkeit, ich will nicht sagen ‹draufzuschauen›, sondern ‹draufzuerleben›. Es klingt widersprüchlich, aber ist im Theater möglich: Wir sind im Erlebnis darinnen und haben zugleich im Erlebnis einen Überblick, ein Verständnis für das Ganze. Das ist ein hochgradig lebendiges Geschehen. Weil dieses Spiel von Augenblick und grosser Geschichte immer wieder neu ist, neu geschieht, ruft uns Goethes Faust uns dazu auf, seine Faustdichtung immer wieder von neuem, mit neuem Blick, neuem Verstehen auf die Bühne zu bringen. Deshalb wollte ich, dass unsere ‹Faust›-Inszenierung 2022 anders ist als diejenige von 2021 und anders als diejenige von 2020. Wir selbst sind jedes Jahr anders und ein so großes Werk wie Goethes ‹Faust› bewegt sich mit uns. Also wir bewegen uns an ‹Faust› und ‹Faust› bewegt sich an uns. Dazu ein Vergleich: Ich habe mit 20 Jahren begeistert Siddhartha von Hermann Hesse gelesen. Das Buch wurde mir zum Freund. Wenn ich nun 20 Jahre später erneut zum Buch greife, dann erinnere ich mich, in was für einer Lebenssituation ich damals mit 20 Jahren war. Es gibt da einen biografischen Bezug. Wenn ich also Goethe mit 20 Jahren und dann später wieder lese, dann erlebe ich nicht mich, wie ich war, sondern ich erlebe Goethe neu. Dass das Werk so groß ist, dass es immer von Neuem zum Begleiter wird, immer neu die geheimnisvolle Wechselwirkung zwischen Werk und der eigenen Biografie entsteht. Deshalb überrascht es nicht, dass man sich fortwährend mit Goethes ‹Faust› befassen kann, jedes Jahr, jeden Tag. Man wird immer neue Aspekte entdecken. Und nicht, weil man klüger wird, sondern weil das Werk sich gleichzeitig mit dem eigenen Leben bewegt. Goethe beschreibt es im Gespräch mit Eckermann am 20. Juli 1831 so:
«So siegle ich es ein [den ‹Faust II›] und dann mag es das spezifische Gewicht meiner folgenden Bände, wie es auch immer damit werden mag, vermehren. Wenn es noch Probleme genug enthält, in dem der Welt- und Menschengeschichte gleich das zuletzt aufgelöste Problem immer wieder ein neues aufzulösendes darbietet, so wird es doch gewiss denjenigen erfreuen, der sich auf Miene, Wink und leise Hindeutung versteht. Er wird sogar mehr finden, als ich geben konnte.» Das ist ein Schlüssel. Goethe wusste, dass er mit dem ‹Faust› vieles in der Hand hatte und doch vieles erst entstehen würde, wenn er es aus der Hand geben würde. Indem Goethe es nimmt, wird es, und indem er es gibt, wird es weiter. Erst ist Goethe der Quell und dann ist der ‹Faust› selbst der Quell.
Bitte nicht allein üben!
In einer meiner ersten Lektionen an der Schauspielschule sagte der Direktor der Schule: «Bitte übt nie allein, geht nie üben!» Ich habe lange nicht verstanden, was er damit gemeint hat, und ich war als Studentin zu schüchtern, um sogleich nachzufragen, was er eigentlich meint. Ich glaube es jetzt langsam zu verstehen: Der Spielende braucht das Publikum oder vielmehr den wahrnehmenden Menschen, den ersten Zuschauer. Sonst kann das, was Goethe meint, nicht geschehen. Wenn ein Schauspieler, eine Schauspielerin allein im Wohnzimmer übt, dann wird es ein Selbstgenuss. Der Unterschied, dass ein Mensch nicht als wahnsinnig verstanden wird, wenn er allein spielt, ist, weil ihm jemand zuschaut. Denn so entsteht etwas, was gar nicht verrückt ist, sondern ganz real. Natürlich kann man üben, einen Text zu sprechen, aber sobald ich in eine Rolle schlüpfe, eine mir fremde Situation verkörpere, zu einem gewissen Teil eine fremde Identität annehme, braucht es einen Zeugen, einen zuschauenden, wahrnehmenden Menschen. Dann geschieht diese Magie, dass etwas Drittes hervorkommt, was weder im Spielenden allein noch im zuschauenden Auge ist, sondern in beiden.
In dieser Brücke von den Spielenden zu den Zuschauenden geschieht nun die Handlung, die mit dem Ende von ‹Faust I› im Kerker an einen Endpunkt kommt. In unserer Inszenierung ist der Kerker ein Lichtraum, vielmehr eine Kapelle, eine Schutzzone des Gretchens, nichts Düsteres. Das Düstere liegt in der Situation, in der sie sich befindet. Aber sie ist eben nicht verloren. Mephisto tritt dann auf, nachdem Faust versucht, sie zu retten, und es nicht vermag, weil sie schon zu weit von ihm entfernt ist, ihre Seele zu beladen ist. Dann folgt dieser schreckliche Moment, in dem Mephisto in diesen einsamen heiligen Ort hereinbricht. «Komm, komm, ich lasse dich mit ihr im Stich.» Und das Gretchen: «Dein bin ich, Vater! Rette mich! Ihr Engel! Ihr heiligen Scharen, lagert euch umher, mich zu bewahren! Heinrich! Mir graut’s vor dir.» Es endet mit dem Wechselspiel der teuflischen Verdammung: «Sie ist gerichtet!» und der himmlischen Widerrede: «Ist gerettet!». Tod und Auferstehung! Das ist die Zerrissenheit, mit der wir aus ‹Faust I› entlassen werden.
Vier Lieder ohne Mephisto
Da gibt es nur eine Rettung, und die heißt ‹Anmutige Gegend›. Faust tritt in ‹Faust II› auf und sucht Schlaf. Wir wissen, was der Schlaf bedeutet. Wenn man keinen Schlaf mehr hat, keine Orientierung, keinen Rhythmus mehr, dann ist man nah am Wahnsinn. Macbeth schläft nicht mehr, Lady Macbeth schläft nicht mehr und wird wahnsinnig. Und Faust muss schlafen, sonst würde das Drama nicht weitergehen. Da hilft ihm die elementare Welt der Luft. Denn die Elementarwesen, die Elfen, die Feen, die Geister machen keinen Unterschied zwischen einem guten Menschen und einem schlechten Menschen. «Ob er heilig, ob er böse, jammert sie der Unglücksmann.» Diese Heilung hilft uns, uns wieder mit Faust zu verbinden. Das können wir, wenn wir selber gereinigt, geheilt werden. Faust geht dabei durch vier Schlafphasen, durch vier Regenerationsphasen führen die Elementarwesen Faust. ‹Pausen› nennt Goethe diese Ebenen des Schlafes. ‹Pause› ist ein seltsames Wort, weil so viel geschieht. Goethe gab ihnen insgeheim musikalische Namen. Die erste ‹Serena› heißt auf Deutsch das ‹sanfte Abendessen›. Dann folgt ‹Nocturne›, das nächtliche Ständchen, darauf ‹Martino› (italienisch), das Morgenlied, und als letztes ‹Revel› (wieder französisch), das Lied des Erwachens.
Ganz wie in der Musik, wo sich die Zeit dehnt und verdichtet, geschieht ja jede Nacht, wenn wir scheinbar untätig daliegen, solche natürliche Regeneration. Auf der Bühne können wir diese Wiedergeburt dann in kurzer Zeit erleben, ja den Moment, die Gegenwart anhalten und zu einer Dauer erklären. Wenn dann die Sonne aufgeht und ‹ertönt›, müssen all die elementaren Wesen, die diese Heilung bewirken, sich vor dem Licht des Tages schützen, denn der Tag gehört den Menschen und Faust erwacht. Und was passiert dann? In meinen Augen folgt dann eine der schönsten Stellen, die Goethe komponiert hat: diese Naturmeditation von Faust, in der er gleichsam eine Wiedergeburt erlebt ohne Mephisto. Mephisto ist weit weg, und es ist auch für uns als Zuschauende eine unglaubliche Erholung, dass wir Faust ohne Mephisto erleben dürfen in diesem Auferstehungsmonolog.
Fausts Wiedergeburt
Faust ernährt sich an der Natur. Er kräftigt sich, wie Goethe selbst es tut, an der göttlichen Schöpfung. Wie macht er das? Er betrachtet sie nicht, sondern erlebt und durchlebt ihre Kraft und kommt so in eine Wechselbeziehung mit der Natur. Die Sonne, die große Gottheit der Natur, ist es zuerst, die kräftig wärmt, strahlt. So beginnt es ja auch im ‹Faust I›, im Prolog im Himmel. Dann: Faust schaut in die Sonne und wird geblendet, weil er Mensch ist und kein Gott. Er muss sich abwenden von der Sonne und in dieser Abkehr erlebt er aber nun das andere Licht, das Feuer, die Farben um ihn herum, und so wird er langsam wieder inkarniert. Wir sehen bei dieser Meditation diesen Teil Fausts, der sich Mephisto nicht verschrieben hat. Denn Faust wurde in der Hexenküche ja nicht ein anderer Mensch, sondern ist lediglich verjüngt worden und trägt dabei das Hexengift in sich. Aber er ist ein geistig strebender, großer Mensch, eine große Persönlichkeit, die nicht die Identität wechselt, so wie Mephisto das immer tut, wenn er sich verwandelt. Faust verwandelt sich nicht in eine neue Identität. Er behält sich selbst und weitet seine Persönlichkeit. In ‹Faust II› sehen wir zu Beginn, dass er an diesen Teil in sich anknüpfen kann. Er strebt und will sich mit dem Göttlichen verbinden.
Diese Szene spielt deshalb in unserer Inszenierung der sogenannte alte Faust, Dirk Heinrich. So spüren die Zuschauerinnen und Zuschauer, dass wir es mit dem Faust zu tun haben, den wir am Anfang im Studierzimmer erlebt haben. Und dieser Faust schaut nun in die Sonne, wendet sich ab. «Und leider schon geblendet, kehr’ ich mich weg, vom Augenschmerz durchdrungen.» Dieser Schmerz ist ein Geburtsschmerz.
«So ist es also, wenn ein sehnend Hoffen
Dem höchsten Wunsch sich traulich zugerungen,
Erfüllungspforten findet flügeloffen;
Nun aber bricht aus jenen ewigen Gründen
Ein Flammenübermaß, wir stehn betroffen;
Des Lebens Fackel wollten wir entzünden,
Ein Feuermeer umschlingt uns, welch ein Feuer!
Ist’s Lieb’? ist’s Hass? die glühend uns umwinden,
Mit Schmerz und Freuden wechselnd ungeheuer,
So dass wir wieder nach der Erde blicken,
Zu bergen uns in jugendlichstem Schleier.»
Dieser jugendliche Schleier hat ihn schon einmal gerettet. Die Kirchenglocken bewahrten ihn davor, den Giftbecher zu trinken. Sie weckten die jugendlichen Erinnerungen, jugendlichen Schleier. So ist es auch jetzt.
«So bleibe denn die Sonne mir im Rücken.»
Das ist die Erkenntnis, dass ich nicht größer werde, wenn ich in die Sonne schaue, mich ins Licht stelle und mich zu Gott aufblähe, sondern dass ich Mensch bin und die Sonne in meinem Rücken haben sollte, um die Dinge zu erkennen. Wenn Faust das erkennt, versteht er, wo für Goethe alles Leben beginnt.
«Der Wassersturz, das Felsenriff durchbrausend,
Ihn schau’ ich an mit wachsendem Entzücken.
Von Sturz zu Sturzen wälzt er jetzt in tausend,
Dann abertausend Strömen sich ergießend,
Hoch in die Lüfte Schaum an Schäume sausend.
Allein wie herrlich, diesem Sturm ersprießend,
Wölbt sich des bunten Bogens Wechseldauer,
Bald rein gezeichnet, bald in Luft zerfließend,
Umher verbreitend duftig kühle Schauer.
Der spiegelt ab das menschliche Bestreben.
Ihm sinne nach, und du begreifst genauer:
Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.»
Mit diesen Erkenntnisworten wird er wieder Mensch und wir können uns mit ihm verbinden und gehen mit ihm weiter. Das haben wir so inszeniert, dass Faust von hinten in der Bühne diesen Wasserfall, dieses lebendige Element, wo alles sich spiegelt, wo ewiges Werden stattfindet, im Publikum sieht, sodass eigentlich wir Menschen dieses Element des lebendigen Werdens sind. Er läuft langsam in geradem Weg auf uns zu, kommt sehr langsam näher, sodass wir uns langsam mit ihm vereinigen und uns verbinden können. Er geht dann über die Stufe, die eigentlich diese beiden Pole trennt. Er geht hinüber und geht in der Mitte durch die Menschen hindurch, sodass er im Bilde sich mit uns verbindet und wir uns mit ihm.
Wenn alle sich verkleiden
Dann gehen wir mit Faust in die Gesellschaft, in die Welt, zum Kaiserhof. Dort ist Faust zuerst gar nicht zu sehen, sondern Mephisto, der jetzt auch eine andere Identität annimmt, indem er den Narren des Kaisers auslöscht. Das ist die Art, wie Mephisto sich eine neue Identität gibt. Er schaltet eine bestehende Identität aus und schlüpft in sie, um so dem Kaiser als Narr nahe zu sein. Dort, wo eine Krise ist, eine Unsicherheit, Angst, da ist auch Mephisto. So liegt der Gedanke nahe, man mache sich krisenfest und sei dann von Mephisto verschont. Aber dann gibt es auch keine Entwicklung. So schleicht sich eben Mephisto an diesen Kaiserhof, wo die Krise groß ist. Denn dieser Kaiser sitzt auf dem falschen Stuhl: Er ist ein wunderbarer, ein sehr spiritueller Mensch, ein der Kunst geneigter Mensch, aber er ist kein Machtmensch. Er ist diesem Amt des Regierens nicht gewachsen. Und das gefällt Mephisto, wenn jemand etwas tut, was er eigentlich nicht kann. Dort nistet er sich ein und bringt jetzt die Lösung für diese Krise, in der sich das ganze Volk, der Hof und die Minister befinden. Dem Staat droht der Bankrott, niemand hat mehr Geld. Da wartet Mephisto mit einer einfachen Lösung auf: Wir besinnen uns auf das, was unter unseren Füßen ist. Der Reichtum im Boden versteckt die Metalle, die Kristalle, die vielen Schätze, die man vergraben hat in Kriegen. Und er möchte jetzt, dass diese ganzen Schätze ans Licht kommen. Der Kaiser springt darauf an, doch zuvor kommt der Maskenball, der Karneval, der dem Kaiser so gefällt. Wo jeder sich eine andere Identität anbietet. Und dieses Fest nutzt er für seine Pläne. Und interessanterweise beschreibt jetzt Goethe nicht das Eigentliche, was an diesem Fest passiert, nämlich dass der Kaiser in Form von Pan das Papier unterschreibt, welches zu Geldscheinen gedruckt wird, sodass wir uns mit diesem Kaiser identifizieren müssen an diesem Fest. Und wir fragen uns im Zuschauerraum: Ja ist das jetzt passiert? Und der Kaiser, der versteht es auch nicht. Haben wir das vielleicht verpasst? In diesem bunten Treiben? Haben wir diese Szene irgendwie nicht gesehen, wo der Kaiser als Pan dieses Papier unterschreibt? Am Anfang sind wir alle noch ganz munter in diesem Fest. Doch bemächtigt sich Mephisto des Festes und es nimmt eine Wendung.
Da fährt ein Drachenwagen in die Gesellschaft und darauf sitzt Faust als Plutus, der Gott des Reichtums, und Mephisto als Gott des Geizes. Es ist bezeichnend, dass Goethe dem Teufel die Rolle des Geizes gibt. Dieses Gespann zieht in diesen Festsaal ein, sodass das Fest zu kippen beginnt. Erst tritt der Kaiser auf und man weiß nicht, ob er sich verkleidet hat als Gott Pan oder ob er bis zu einem gewissen Teil Pan geworden ist. Dann geschieht etwas Verrücktes: Indem er in die Kiste des Reichtums schaut, wird magisches Feuer entzündet, was alle blendet und Schrecken erzeugt. Schrecken und Angst, wenn das Blut stockt, der Atem angehalten wird, das sind die mephistophelischen Mittel, um den Verstand auszuschalten. In Schillers Drama ‹Die Räuber› kann sich Franz Moor nur so an seinem Vater bedienen, indem er ihn in Schrecken versetzt. Faust als Plutus vermag das Chaos zu lindern und wird somit als magischer Wohltäter, als Zauberer, vom Kaiser an den Hof geholt. Wir wissen, dass Faust schon im ersten Teil des Dramas seit der Hexenküche auf der Suche nach Helena ist, nach der Helena in sich selbst.
Goethe hüllt sich in Geheimnisse
Nun ist es aber so, dass auch dieser Kaiser, der übrigens dem Faust verwandt ist, vielleicht sogar ein geheimer Freund von Faust, auf der Suche nach der Helena ist. Und der möchte nun, dass die Helena erscheint an seinem Hof. Und da Faust als Plutus das Feuer löschen konnte, vermutet der Kaiser, dass Faust Helena erscheinen lassen könne. Da Faust kein Magier ist, kommt er jetzt in Not und wendet sich an Mephisto. Doch Mephisto kann schon gar nichts mit Helena anfangen, weil er als christlicher Teufel in der antiken Welt ganz verloren ist. Wohl hat er den Schlüssel, um in die Unterwelt zu gelangen, aber er vermag nicht, dorthin zu gehen. Das ist ein interessantes Bild: Der Teufel hat den Schlüssel und wenn wir den Schlüssel nehmen und ihn nutzen, dann tun wir es im Auftrag des Teufels. Also geht Faust in die Unterwelt zu den Müttern, zu diesen geheimnisvollen Müttern. Wenn Mephisto dieses Wort Mütter ausspricht, dann erschauert Faust. Wir haben in den Proben diesen Topos der ‹Mütter› immer wieder befragt. Wer sind sie? Schauen wir, was der Dichter selbst sagt:
Bei einem Besuch bei Johann Eckermann hat er sich dazu geäußert: «Heute zum Nachtisch bereitete Goethe mir einen hohen Genuß, indem er mir die Szene vorlas, wo Faust zu den Müttern geht. Das Neue, Ungeahndete des Gegenstandes, sowie die Art und Weise, wie Goethe mir die Szene vortrug, ergriff mich wundersam, so daß ich mich ganz in die Lage von Faust versetzt fühlte, den bei der Mitteilung des Mephistopheles gleichfalls ein Schauer überläuft. Ich hatte das Dargestellte wohl gehört und wohl empfunden, aber es blieb mir so vieles rätselhaft, daß ich mich gedrungen fühlte, Goethe um einigen Aufschluß zu bitten. Er aber, in seiner gewöhnlichen Art, hüllte sich in Geheimnisse, indem er mich mit großen Augen anblickte und mir die Worte wiederholte: Die Mütter! Mütter! – ’s klingt so wunderlich! ‹Ich kann Ihnen weiter nichts verraten›, sagte er darauf, «als daß ich beim Plutarch gefunden, daß im griechischen Altertume von Müttern als Gottheiten die Rede gewesen. Dies ist alles, was ich der Überlieferung verdanke, das übrige ist meine eigene Erfindung. Ich gebe Ihnen das Manuskript mit nach Hause, studieren Sie alles wohl und sehen Sie zu, wie Sie zurecht kommen.›»
Goethe ruft auf, es zu erleben! Und wenn wir es erleben, sind wir selbst ein bisschen Faust und können miterbleben, was uns zum Schauer führt. Faust steigt dann tatsächlich auf aus der Unterwelt und es ist ihm gelungen, die Vision der Vision so zu zeigen, Helena, das Abbild des Abbildes. Ist sie ein Trugbild? Aber die Magie ist so stark, dass alle diese Imagination sehen können.
Körperlos und hellsichtig
Faust wird beim Anblick dieser Erscheinung ganz menschlich: Er wird eifersüchtig. Denn mit Helena erscheint Paris. Und diesen Paris erträgt Faust nicht und stürzt sich in seine eigene Zauberei – und fällt in Ohnmacht. Ein großartiges Bild. Jemand, der in seine eigene Zauberei verfällt, verliert sein Bewusstsein! In Ohnmacht, Meditation oder Gebet kann Mephisto nichts ausrichten. Einer der seltenen Momente, in denen Mephisto verzweifelt ist. Während Faust im Studierzimmer im Koma liegt, hat Wagner sich einen Platz ergattert. Der Wissenschaftsbetrieb, in dem Wagner, der nun in seinem Labor daran ist, einen Menschen zu machen. Erst als Mephisto ihn besucht und ihm hilft, entsteht der künstliche Mensch. Wagner sieht sich selbst als Schöpfer, doch erst die Anwesenheit von Mephisto führte zum Erfolg. Wie so oft: Man selbst sieht sich als Erfinder oder Erfinderin, doch der Schatten ist der eigentliche Urheber. Das so geschaffene Wesen Homunculus ist sogleich hellsichtig. Seine Intelligenz, durch keinen Leib begrenzt, ist grenzenlos und sieht deshalb, was Faust in seiner Ohnmacht erlebt. Und was erlebt er? Die Zeugung der Helena, die Zeugung der Schönheit. Der Homunculus weiß: Wenn Faust in diesem Zustand, in dem er am Quell des Weiblichen ist, aufwachen würde, würde er sterben.
Deswegen ruft Homunculus, das körperlose, wirkungslose, aber weise Wesen, dazu auf, ins antike Griechenland zu ziehen, zum Ursprung des Schönen. Mephisto fürchtet die Antike, weil er sich dort nicht orientieren kann, doch er muss mit, um Faust nicht zu verlieren. Das ist der einzige Moment, bei dem es nicht nach Mephistos Willen läuft, sondern er sich der Schöpfung fügen muss. Homunculus zieht es ebenfalls ins antike Griechenland, weil er erst in der Welt des Werdens einen Körper gewinnen kann, um so Mensch zu werden. Jetzt gehen drei Wesen auf eine Geistesseelenreise in diesem antiken Griechenland. Faust sucht die Helena. Mephisto ist verloren und ist nur dahin zu bekommen, weil Homunculus es ihm gesagt hat. Da gibt es dann auch Hexen, thessalische Hexen, antike Hexen, klassische Hexen. Das Hauptziel für ihn und Homunculus ist, auf der Suche ein Mensch zu werden. Und so sehen wir diesen zweiten Akt eurythmisch in einer geistigen Seelenlandschaft. Sie gehen aber getrennte Wege. Faust trifft auf die Priesterin Mantu, die ihn in die Unterwelt führt, um Helena zu finden, während Mephisto von antiken Hexen in die Irre geführt wird.
Homunculus findet gedanklich das Werden, er trifft den Philosophen Thales, nach dem alles Lebendige aus dem Wasser stammt, und zeigt den Weg ins Ägäische Meer. Dort fühlt sich der künstliche Mensch so von Galathee, der Tochter des Meeres, angezogen, dass er geblendet von ihrer Schönheit an ihrem Muschelwagen zerschellt. Jetzt zerspringt seine Glashaut und dieses Wesen Homunculus, so beschreibt es Goethe, vereinigt sich mit den Elementen, um auf diesem Weg Mensch werden zu können.
«Dasein ist Pflicht. Und wär’s ein Augenblick», das sagt Faust Helena, wenn er sie im dritten Akt trifft. Es ist der Höhepunkt und Mittelpunkt von ‹Faust II›. Hier begegnen sich Mittelalter und Antike, Innerlichkeit und Natur, und es ist die Sprache, in der sich Faust und Helena finden und vereinigen, frei von Mephisto. Als Zuschauerinnen und Zuschauer nehmen wir teil an dieser Begegnung. Dieses Einswerden von Gemüt und Anmut geschieht so auch in uns.
Faust 1 & 2 im Goetheanum. Neun Stunden Schauspiel & Eurythmie. 8–10 Juli, 15–17 Juli, 23–24 Juli 2022
Tickets
Alle Fotos: Lucia Hunziker, 2020/2021
Die Bemühungen der Autorin um gendergerechte Sprache durch Verwendung von Partizipien ( die Spielenden, die Sehenden etc.) wirkt künstlich und verkrampft und steht in merkwürdigem Kontrast zu der Sprache des Dichters, um den es hier geht. Ein Schauspieler und eine Schauspielerin können nicht auf „Spielende“ reduziert werden. Das sind Fußballer auch.