Das Wachstum wird innerlich

Was ist der schönste Moment in einem Gespräch? Vermutlich, wenn aus dem Zuhören mit einem Mal, neue Worte, neue Gedanken hervorkommen.


Es ist die Wende, wenn man nicht mehr aufeinander einredet, sondern das Wort des anderen, Neues in der eigenen Seele zur Geburt bringt. Das ist ein johanneischer Moment, denn Johanni ist das Fest der Umkehr. Die Sonne kann nicht höher steigen. Wachstum wird jetzt zu innerem Wachstum. «Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen», sagt Johannes der Täufer, Johannes, dem das Fest Johanni gilt. Damit sagt er: «Mein höheres Ich muss wachsen und meine alte Persönlichkeit muss abnehmen.» So wie Weihnachten bedeutet, das Licht in der Nacht zu entzünden, bedeutet Johanni, das Licht aus der Welt des Tages nach innen zu nehmen. Äußeres Wachstum in inneres zu wenden. Es sind 50 Jahre her, dass Donella und Dennis Meados und ihre Mitarbeitenden mit dem Buch ‹Grenzen des Wachstums› erstmals global diese johanneische Gewissensstimme erklingen ließen. In 30 Sprachen wurde es übersetzt. Es ist der Ruf, die Adjektive des 20. Jahrhunderts ‹schneller, höher, weiter› in diejenigen des 21. zu wandeln: ‹nachhaltiger, tiefer, sozialer›.

Wenn Weisheit zur Liebe wird

Johanni 2022 ist der Schlussakkord eines zweijährigen himmlischen Schauspiels in drei Akten. Es begann mit der engen Konjunktion von Jupiter und Saturn am 21. Dezember 2020. Mit einem Abstand von nur 6 Winkelminuten, das entspricht einem Fünftel des Monddurchmessers, standen die beiden Wandler beisammen. Jupiters herrschaftlicher Glanz, Bild der Kraft des Denkens, und Saturns mildes Glimmen, Bild von Reife und Sensibilität, vereinigten sich. Was für ein Bild für das menschliche Ich: Unsere Persönlichkeit verwirklicht sich, wenn Urteilskraft und Empathie zusammenfinden, wenn Herz und Kopf zu einem Organ werden. ‹When Knowledge becomes love›, so titelt Arthur Zajonc sein Buch über Meditation und so verstehe ich den Ruf der Begegnung von Jupiter und Saturn. Die große Konjunktion findet alle 20 Jahre statt, doch jetzt ist es erstmals der Fall, dass an der Wintersonnenwende dieses Siegel der Gemeinschaft von äußerer und innerer Weisheit am Himmel steht. 2020 verband sich diese Konjunktion mit der Sonne, die am 21. Dezember ihr neues Leben feiert. «Sol invictus», ‹die unbesiegte Sonne›, hieß diese jährliche Neugeburt in der römischen Mithrasreligion. So ist der erste Akt des gegenwärtigen Himmelsschauspiels der Ruf zu einer neuen Geburt, einem inneren Weihnachten.

Lernt, miteinander zu tanzen …

An der gleichen Tierkreisstelle, zwischen Schütze und Steinbock, folgte dieses Frühjahr dann der zweite Akt. Mars und Venus, die Nachbarn der Erde, begannen ab Ende Januar eine gemeinsame Wanderung. Nicht die einmalige Konjunktion, der Höhepunkt einer Begegnung, war hier entscheidend, sondern vielmehr ein gemeinsamer Lauf bis zu Ostern. Mit gleichbleibendem Abstand von etwa 6 Grad kreisten die beiden Planeten am morgendlichen Himmel umeinander – ein Ostertanz! Damit steigert sich, was die Begegnung von Jupiter und Saturn war, zu einem Prozess, einem Miteinander in der Zeit. Welch ein kosmischer Ratschlag zum Frühling: Lernt, miteinander zu tanzen! Denn was geschieht beim Tanz? Man ist aufeinander bezogen in wechselnden räumlichen Umständen. Man ist zu zweit und zugleich aufmerksam auf das umgebende Geschehen – sonst stürzt man. «Gott achtet uns, wenn wir arbeiten. Aber Gott liebt uns, wenn wir tanzen», sagt ein arabisches Sprichwort.

… und tanzend die Welt gewinnen

Jetzt im Juni folgt der dritte Akt des himmlischen Schauspiels. Am Morgenhimmel bilden die Planeten einen gewaltigen Bogen über das Firmament und ordnen sich dabei gemäß ihrem Abstand zur Sonne. Am Horizont im Osten steht Merkur, etwas höher dann Venus. Ihr folgen Mars und Jupiter. Saturn bildet den Abschluss des kosmischen Bogens. Dahinter, unsichtbar für das bloße Auge, bilden die transsaturnischen Wandler Uranus, Neptun und Pluto einen zweiten Bogen. So sind alle Planeten des Sonnensystems am Morgenhimmel versammelt. Sie bilden nicht, wie zuletzt im Mai 2000, ein enges Konzil, sondern sie weisen in der aufsteigenden Reihenfolge auf die Ordnung hin, die seit babylonischer und dann griechischer Zeit die Astronomen und Sterndeuterinnen zu verstehen versuchen. Vermutlich ist das Miteinander aller Planeten ein Bild für das Ganze, das heute in jeder Begegnung mitschwingt. Wenn man sich seiner Persönlichkeit bewusst wird und sie entfaltet, dann lernt man, dass auf der anderen Waagschale das Interesse, die Empathie für die ganze Welt liegt. Man wird Persönlichkeit, je mehr Welt in uns ist. Rudolf Steiner hat es schon in seiner Theosophie so formuliert: «Das Ich erhält Wesen und Bedeutung von dem, womit es verbunden ist.» Aus der Begegnung mit sich selbst durch die Weisheit und Liebe sich finden können, das war der Ruf der Weihnachtskonstellation. Der Mensch, mit dem wir tanzen lernen, wird zum Okular für die Welt.

Leben braucht Hülle

Ich lese, ich befrage die Konstellation noch anders, weil in dem johanneischen Planetenbogen die Ordnung, die Hierarchie der Wandler vollkommen am Himmel steht. Leben braucht Hülle! Ob das Leben der eigenen Seele, als fortwährendes Spiel von Innen und Außen, von Jupiter und Saturn, ob der Tanz mit dem Mitmenschen oder der ganzen Menschheit, die Erde, alles braucht eine Hülle. Kosmisch sind die Planeten die Hüllen der Erde. Das studierten die Neuplatoniker, das gehört zur Innenseite der keplerschen Astronomie, davon weiß auch die astrophysikalische Planetologie. Angefangen vom Mond, der die Erdachse stabilisiert, der die Erde auf den Tagesrhythmus von 24 Stunden abgebremst hat, über Merkur, dessen Rhythmen die Erde mit der kosmischen Weite verbinden, über Venus, die ein Pentagramm um die Erde zeichnet und so unseren Planeten in Schönheit taucht, bis zu Saturn. Der Mond wechselt in 29,5 Tagen seine Lichtphasen und fügt so die sublunare Sphäre um die Erde. Saturn läuft die gleiche Zeit in 29,5 Jahren durch den Tierkreis und erzeugt damit eine kosmische Hülle. Jetzt, wo die engste Hülle der Erde, die Atmosphäre, gefährdet ist, ist es gut, die fernen, die geistigen Hüllen der Erde auch in den Blick zu nehmen – die Planeten. Die Planetenreihe inspiriert dazu, wo wir Leben stiften wollen, nach den Hüllen zu fragen, nach denen dieses Leben ruft. Das sind heute keine physischen Hüllen mehr, sondern seelische und geistige. Auch hier wandelt sich äußeres in inneres Wachstum.


Bild Wolfgang Held

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