Das Weizendrama

Aus Weizen backen wir Brot. Das ‹tägliche Brot› steht für die tägliche Nahrung überhaupt. Woher kommt der Weizen für das Brot? Natürlich von den Feldern, wo Bauern und Bäuerinnen den Weizen anbauen. Aber für viele Menschen, die täglich Brot essen, sind die Felder, wo ‹ihr› Weizen wächst, weit weg, zum Beispiel in der Ukraine oder auch in Russland.


So kommt 90 Prozent des Weizens für die 100 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner von Ägypten aus der Ukraine und Russland. Ähnlich ist es für den Libanon, für Marokko und andere Länder. In diesen Ländern wird viel weniger Weizen angebaut, als konsumiert wird. In der Ukraine wiederum wird weit mehr Weizen angebaut, als im Land verbraucht wird, und somit kann viel Weizen exportiert werden. Der in Friedenszeiten eingerichtete Handel mit Weizen und anderen Grundnahrungsmitteln ist jetzt in Kriegszeiten gestört. Die Frachtschiffe können in Odessa und anderen Schwarzmeerhäfen nicht auslaufen, weil die Seewege vermint sind. Und somit kommen in Beirut und Alexandria keine Weizenschiffe an. Das ist das aktuelle Weizendrama.

Der Weizen aus der Ukraine fehlt auf dem Weltmarkt. Dazu kommt die Unsicherheit, wie die Ernte 2022 ausfallen wird. Kann gesät werden, kann gedüngt werden, kann geerntet werden? Der größte Produzent von Stickstoffdünger der Welt ist Russland. In vielen Ländern wird der Dünger knapp durch die gegenseitige Sanktionspolitik. Die Preise im Agrarsektor sind schon stark gestiegen. Es herrscht Instabilität, Unsicherheit, Spekulation, und am Horizont erscheint das Gespenst einer Hungerkrise. Die Verantwortlichen für das UNO-Welternährungsprogramm schlagen Alarm, weil die rund 20 Millionen Tonnen, die in der Ukraine noch lagern, gerade für ihre Hilfsprogramme fehlen, die so bitter nötig sind, zum Beispiel in Ostafrika, wo gerade durch eine Jahrhundertdürre über 20 Millionen Menschen akut in Hungersnot sind.

Ist der biologische Anbau schuld?

Schon am 19. März meldete sich Werner Baumann zu Wort. Er ist Chef des Pharma- und Agromultis Bayer und wurde 2018 bekannt durch die Akquisition von Monsanto, dem Hersteller des Totalherbizides Round-up. «Wir sind schon jetzt in einer Getreideversorgungskrise», sagt er und gibt sich besorgt über den bevorstehenden Hunger für viele Millionen Menschen. Als Lösungsstrategie sieht er eine forcierte Technisierung der Landwirtschaft, etwa durch Gentechweizen, der Stickstoff binden kann wie die Leguminosen, oder durch Smart-Farming, was die Einführung künstlicher Intelligenz in der Landwirtschaftstechnik bedeutet, oder durch ein Trainingsprogramm für 100 Millionen Kleinbauern. Das tönt nach einer Neuauflage der Grünen Revolution, deren Versprechungen nie eingelöst wurden. Am 8. Mai gab Erik Fyrwald, CEO von Syngenta, ein Statement ab, das in einer Anschuldigung des Biolandbaues gipfelte. Dieser sei schuld am Hunger in Afrika, weil er pro Hektar gegenüber der Chemielandwirtschaft nur 50 Prozent des Ertrages bringe. (In der Realität sind es im Schnitt aller Kulturen 81 Prozent Ertrag bei einem viel geringeren Einsatz an Energie und einer gesamthaft viel besseren Ökobilanz). Fyrwald plädiert ähnlich wie sein Kollege von Bayer für einen ökotechnischen Weg.

Eine weitere Reaktion gibt es aus der Bauernschaft und ihrer Lobby: Diejenigen, die produktivistisch unterwegs sind und ökologische Anforderungen als lästig empfinden, haben jetzt Oberwasser. In den Parlamenten, Kommissionen und Verwaltungen werden viele Ökoprogramme infrage gestellt. Die Argumentation ist einfach: Es droht Hunger, also soll auf möglichst allen Flächen möglichst viel produziert werden. Es sind die Anfänge einer Kriegsernährungswirtschaft in Korrelation mit der allgegenwärtigen Aufrüstung.

Die aktuellste Reaktion kommt aus der Politik. Am G7-Gipfel in Deutschland am 14. Mai fallen Worte wie ‹Kornkrieg›, ‹Krieg mit Lebensmitteln›. Die Verantwortlichen sprechen apokalyptisch von einem ‹Dritten Weltkrieg um Brot›. Joe Biden ist hemdsärmelig auf dem Feld bei den US-Farmern zu sehen. Er wird sie finanziell unterstützen, damit sie für die Welt produzieren können. Indien hingegen hat gerade einen Weizenausfuhrstopp verhängt, da der Boden nach den Rekordtemperaturen im April ausgetrocknet ist und die Vorräte im eigenen Land gebraucht werden.

Krisenfest durch regionalen und ökologischen Anbau

Die Ukraine verfügt mit den Schwarzerdeböden über die besten ackerbaulichen Voraussetzungen, die man sich denken kann, und der anspruchsvolle Weizen im Wechselanbau mit Sonnenblumen oder Mais ist dafür die richtige Kultur. Diese Güter sind lagerbar und dadurch handelbar und machen 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Ukraine aus. Dazu muss man wissen, dass diese Exportlandwirtschaft großflächig in einer gewissen Weise industriell betrieben wird. Das war schon in kommunistischen Zeiten so und heute sind an die Stelle der Kolchosen die ‹Agrogesellschaften› getreten, die in der Regel mit Kapital ausgestattet sind, das aus dem Westen oder aus China, oder von den sogenannten Oligarchen kommt. Es gibt auch Biobetriebe in der Ukraine, und auch Kleinbauern, Agronominnen und Betriebsleiter, die zu biodynamischen Einführungskursen kommen. Ein Betrieb in Potutory mit 400 Hektar in der Westukraine ist Demeter-zertifiziert, seine wirtschaftliche Basis wird durch einen Schweizer Verein gebildet.

Agrarexportgüter wie solche aus der Ukraine sind nötig für die Welternährung, sie leisten Nothungerhilfe und überbrücken Ungleichgewichte, die sich durch demografische Entwicklungen ergeben, wie in Regionen Afrikas, wo die Bevölkerung schnell wächst. Es besteht die Gefahr, dass dabei eine strukturelle Abhängigkeit von ganzen Ländern entsteht. In Ägypten müssen wöchentlich Weizenschiffe aus der Ukraine gelöscht werden, sonst gibt es kein Brot. Damit sitzt man sozial auf einem Pulverfass. Entsprechend ist der Brotpreis von der ägyptischen Regierung nun auch eingefroren worden. Würde er steigen, entsprechend dem gestiegenen Weizenpreis, wäre die Revolte schon im Haus. Die jetzige Krisenzeit bringt zutage, was man in Friedenszeiten gern vergisst: Die Ernährungswirtschaft muss bis zu einem gewissen Grade regional verankert sein. Wir lernen ja gerade, dass der Welthandel auch für Prozessoren und Waschmaschinenersatzteile nicht immer funktioniert. Bei den Nahrungsmitteln ist es fatal, wenn Lieferketten unterbrochen werden.

Neben einer angemessenen Regionalisierung der Land- und Ernährungswirtschaft braucht es auch eine Ökologisierung. Denn der Klimawandel, die Bodenerosion und der Schwund der Biodiversität verursachen heute schon und in Zukunft immer mehr Hunger und Not. Der bio- und biodynamische Anbau ist gerade hier stark, da er bei 20 Prozent weniger Ertrag gleichzeitig in vielen Bereichen eine positive Klima- und Ökobilanz hat. Bio kann die Welt ernähren, allerdings nicht allein, gleichzeitig muss ein moderater Fleischkonsum Einzug halten und Food Waste muss reduziert werden. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass weltweit bis zur Hälfte des Weizens in der Tiermast verfüttert wird. Und man glaubt es kaum: ‹Heizen mit Weizen› ist Realität in vielen Biogasanlagen.

Schon der Weltagrarbericht von 2008 formulierte eine Kernstrategie für eine zukunftsfähige Landwirtschaft: Sie soll regional, ökologisch, multifunktional und auf Erfahrungswissen basiert sein. Insofern die Vorschläge der Agromultis in diese Richtung gehen, muss man sie prüfen. Wir leben ja auf demselben Planeten. Gleichzeitig bin ich der Ansicht, dass wir den biodynamischen Weg nicht als Nischenmarkt sehen sollten. Er hat das Potenzial, Beiträge für die epochalen Herausforderungen in der Land- und Ernährungswirtschaft geben zu können. Entsprechend formuliere ich eine ‹Weizenstrategie› in sieben Punkten:

Kernpunkte einer biodynamischen und assoziativen Weizenstrategie

Bereitstellung von lokal angepassten Sorten

Weizen ist nicht einfach Weizen. Es gibt viele Sorten, die Getreidezüchter und -züchterinnen entwickeln. Seit über 40 Jahren gibt es eine professionelle biodynamische Getreidezüchtung, in der Schweiz ist dies die Getreidezüchtung Peter Kunz, GZPK, die unter anderem die erfolgreiche Sorte Wiwa auf den Markt gebracht hat, die sich gerade in klimatisch schwierigen Jahren als ertragssicher bewährt, und zwar für die Bäuerin, den Müller und den Bäcker. Das Know-how für eine standortangepasste Kulturpflanzenzüchtung mit hoher Nahrungsmittelqualität wird inzwischen auch in Italien und Ägypten für Hartweizen angewendet und unterrichtet. Es ist über regionale Schulungszentren absolut möglich und schnell zu verwirklichen, dass junge Agronomen und wache Praktikerinnen die Basisschritte dieser phänomenologischen Methode lernen. So kann von solchen Schulungszentren aus – eines ist in Sekem in Ägypten im Aufbau – die Verantwortung für regional angepasste Sorten in die Hände der Menschen kommen, die damit ihre Felder bestellen und ihr Brot erzeugen.

Anbau in Systemen mit ausgewogener Stickstoffversorgung

Der Weizen als anspruchsvolle Kultur braucht insbesondere genügend Stickstoff aus dem Boden, damit er quantitativ und qualitativ einen befriedigenden Ertrag bringt. Will oder kann man keinen Chemiedünger einsetzen, muss man für die Stickstoffversorgung andere Quellen finden. Die Pflanzenfamilie der Leguminosen kann den Luftstickstoff N2 ‹einatmen› und in den organischen Prozess einbinden. Es geht jetzt darum, die Leguminosen in geschickter Kombination mit den Getreiden anzubauen, damit der Stickstoff für Wachstum und Ertrag des Weizens zur Verfügung ist. Eine Möglichkeit ist, Leguminosen – Erbsen, Bohnen, Kleearten – als Vorfrucht anzubauen, die Stickstoffanreicherung kommt dann dem nachfolgenden Weizen zugute. Eine zweite direkte Möglichkeit ist der Gemengeanbau von Getreide und Leguminosen. Dabei müssen die beiden Partner gut aufeinander abgestimmt sein. Ein übliches Gemenge ist zum Beispiel Gerste und Erbsen. Eine dritte Möglichkeit in Betrieben mit integrierter Viehhaltung ist der Anbau von Futtermischungen mit Klee und Luzernearten, die über zwei Jahre den Boden aufbauen und mit Stickstoff anreichern. Das wird traditionell schon gemacht: In Ägypten sieht man bei einer Fahrt durch das Nildelta die goldgelben Weizenfelder in Abwechslung mit den tiefgrünen Feldern, wo Alexandrinerklee wächst.

Düngung mit Kompost

Für den langfristigen Aufbau und Erhalt der Bodenfruchtbarkeit braucht es mehr als die Stickstoffzufuhr der Leguminosen. Es braucht eine Art umfassender und universaler Regenerationsquelle für den Boden. Es ist möglich, sich diese Quelle selber zu erschließen, indem man Kompost herstellt. Jegliches organische Material kann durch die Kompostierung in frischen Humus verwandelt werden. Kompostierung ist überall und in jeder Größenordnung möglich. Es ist ein erlenbares Handwerk für jede Bäuerin, für jede Kommune und auch für größere Betriebe. Besonders wertvoll ist der Kompost, wenn tierischer Mist zugesetzt werden kann oder wenn der Mist gepflegt und als Dünger auf den Feldern ausgebracht wird.

Präparate und Gesundheitsmanagement

Jedes Anbausystem braucht Resilienz und Gesundheitskräfte. Mit den biodynamischen Präparaten hat man dafür eine Technik zur Hand, die erprobte Resultate bringt und überall und allen frei zur Verfügung steht. Das Hornmistpräparat stärkt die Verbindung von Pflanzenwurzel und Boden, das Hornkieselpräparat hilft der Pflanze im Umgang mit Licht und Wärme. Über die Kompostpräparate bringt man eine salutogenetische Wirkung in den ganzen Betrieb. Darüber hinaus gibt es regional unterschiedliche Handhabungen von Spezialkomposten, oft als Weiterentwicklung von traditionellen Verfahren, so zum Beispiel das Cow-Pat-Pit (CPP) in Indien. In wärmeren Klimaten ist auch die Applikation von Heilpflanzentees über eine Blattspritzung ein probates Mittel, um Schwächen einer Kultur direkt auszugleichen.

Lokale und regionale Verarbeitung

Nach erfolgter Ernte ist die Frage, wo der Weizen gereinigt und gelagert wird. Wenn man diese erste Verarbeitungsstufe auf dem Hof, im Dorf, in der Region durchführt, ist viel gewonnen, denn trocken und schädlingsfrei gelagert sind diese Körner für das zukünftige Brot nahezu unbeschränkt und verlustfrei haltbar. Eine lokale oder regionale Infrastruktur zur Getreidelagerung kann überall eingerichtet werden. Daran schließt sich direkt auch die Vermahlung des Getreides an. Eine frische Vermahlung und eine nicht zu weit gehende Aussiebung bringen ein viel nahrhafteres Mehl als das standardisierte Weißmehl. Das sind entscheidende Faktoren, wenn wir nach Wegen suchen, die Ernährungssicherheit mit einer regionalen Getreidewirtschaft zu stärken.

Assoziative Vermarktung

Vom Acker auf den Teller, das ist oft ein langer Weg, zum Beispiel von der Ukraine bis nach Oberägypten. Die vielen Stufen des Zwischenhandels wirken verbilligend oder verteuernd, abhängig davon, was alles in die wirtschaftliche Bilanz eingerechnet wird. Auf jeden Fall sind die Handelswege nur bedingt krisensicher, wie wir jetzt erleben, und ein gewisser Grad an regionaler Versorgung im Lebensmittelbereich, wo es um das ‹tägliche Brot› geht, ist vernünftig. Der kürzere Weg macht vieles einfacher und überschaubarer. Tendenziell bekommen Bauer und Bäuerin zu wenig für ihre Produkte und zahlen die Konsumenten zu viel für das Essen. Die volkswirtschaftlichen Verhältnisse einer Industrie- und Konsumgesellschaft führen zu diesem Umstand. Die Land- und Ernährungswirtschaft passt da eben nur sehr bedingt hinein. Sie braucht zum Teil andere Wirtschaftsformen als den freien globalisierten Markt. Der Weltagrarbericht hat den Begriff der Lebensmittelsouveränität (Food Sovereignty) entwickelt. Ernährungspolitisch erkennt man immer mehr den Wert von ‹Lebensmittelsystemen› (Food Systems), auf regionaler Stufe gibt es einige Beispiele von assoziativer Zusammenarbeit in der Wertschöpfungskette und auf Betriebsebene besteht schon viel Erfahrung mit Solidarischer Landwirtschaft (Community Supported Agriculture, CSA).

Innovative Getreideküche

Der Weizen und die anderen Getreide sind eine universale Grundlage für unser tägliches Essen. Die Verarbeitungsmöglichkeiten gehen dabei weit über mit Hefe getriebenes Weißbrot hinaus – obwohl ein Baguette ab und zu nicht zu verachten ist. Bereits die lange Teigführung beim Backen, insbesondere bei Ruch- und Vollkornmehl, schließt die hochkonzentrierte Kornkraft auf und bietet eine Vielfalt an genussvollen Broten. Daneben gibt es Spezialitäten wie Knäckebrot oder Pumpernickel. Aus Italien haben die Teigwaren aus Hartweizen Eingang in die ‹Weltküche› gefunden. Viele Getreide können zu Flocken gepresst werden. Im Maghreb gibt es viele Gerichte aus Grütze, Grieß oder Couscous. Kurz: Eine innovative Getreideküche birgt als siebter Schritt dieser Weizenstrategie nochmals viel Potenzial für eine sichere, vielfältige und gesunde Ernährung, die allen Menschen zugänglich ist.

Der Weizen als Kulturträger

Der Weizen ist eine alte Kulturpflanze, die man bis ins Neolithikum zurückverfolgen kann. Er ist in seiner gehaltenen Mittelstellung zwischen den anderen Getreidearten wie Gerste, Roggen und Hafer anspruchsvoller im Anbau, aber ausgewogener und vielseitiger als Nahrung. Die Schwarzerdeböden der Ukraine sind von Natur aus bestens geeignet für den Weizenanbau. Aber mit einer gut entwickelten Landbaukunst kann der Weizen auch auf vielen anderen Standorten angebaut werden. Der Weizen ist wie ein hoher Repräsentant für die Inaugurierung der Landwirtschaft in der altpersischen Kultur und ihrer seitherigen Entwicklung. Durch den ritzenden Pflug kommen Licht, Luft und Wärme in den Boden und der eingebrachte Weizensamen bringt einen vielfachen Ertrag. In den Körnern der Ähre findet sich die verwandelte Kraft des Bodens. Wird daraus Brot gebacken, ist das die Grundlage für das klare irdische Bewusstsein, das sich in der Kulturentwicklung seit dem Übergang vom Nomadentum zur Sesshaftigkeit immer mehr herausgebildet hat. In diesem Strom stehen wir noch heute. Dieses irdische Wachbewusstsein ist – verbunden mit innerer Aufrichtigkeit – auch heute die Grundlage für eine Horizonterweiterung ins Geistige. Gerade der Weizen bietet die Grundlage vonseiten der Nahrung, um in der aktuellen Zeit besonnen und gleichzeitig geistoffen zu leben und zu urteilen.

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