‹Das Herz im Umkreis. Die Bedeutung der therapeutischen Gemeinschaft› – das bewegte 850 Menschen in der zweiten Septemberwoche am Goetheanum auf der medizinischen Jahreskonferenz.
Aus der ganzen Welt kamen Menschen für diese sechs Tage zusammen. In Fachkonferenzen konnten sich die Professionen aus dem gesamten Gesundheitsbereich austauschen. Eine gemeinsame Mitte während der Tagung war die spirituelle Vertiefung und ein multiprofessionelles Treffen rundete den Kongress ab. Dadurch entsprach die Tagung in ihrer Dreigliedrigkeit und mit der geistigen Arbeit als Herzpunkt ihrem Thema.
Warum bildet das Herz den Mittelpunkt? Das Herz wird laut Rudolf Steiner vorgeburtlich von Strömungskräften gebildet, die in einer bestimmten Dynamik zueinanderfließen und in dem entstehenden Menschen einen Ausgleichsort finden müssen, um diese Kräfte richtig einzusetzen. Daraus wächst das Organ und die Fähigkeit, Extreme zu verbinden, Ausgleich zu schaffen, in feinster Wahrnehmung zu reagieren. Es trägt die Fähigkeit, Wärme und Rhythmus zu regulieren. Es ist der Sitz des Ichs, der Ort, auf den Menschen deuten, wenn sie sich bezeichnen. Wenn Menschen sich in Gemeinschaft verbinden, sind Herzkräfte im Spiel. Diese Kräfte schlagen die Brücke vom Ich zum Du, vom Inneren zum Äußeren, von der Ärztin oder dem Arzt zum Patienten, von Patientin zu Patientin. Sie verbinden die therapeutische Gemeinschaft miteinander und sind spürbar, wenn das gemeinsame Sorgetragen für einen Menschen etwas Größeres entstehen lässt.
Gemeinschaftsbildung mit Maschinen?
Maschinen spielen im Alltag und im medizinischen Arbeiten und Behandeln eine immer größere Rolle. Wie erhält sich dabei die Verbindung von Mensch zu Mensch? Die brisante Geschwindigkeit dieser technischen Entwicklungen beobachtend, stellt sich die Frage, ob sich unsere Gemeinschaftsentwicklung daran anpassen müsste?
In der heutigen medizinischen Versorgung sind Errungenschaften wie die intensivmedizinische Betreuung durch hochtechnische Geräte nicht mehr wegzudenken. Ultraschallgeräte, die ganz handlich transportierbar in der Notfallmedizin lebensrettend sein können, und auch der Rollstuhl sind etwas Alltägliches geworden. In ihrem Vortrag ‹Gemeinschaftsbildung mit Maschinen?› beschrieben Rolf Heine, Gründer der Akademie für Pflegeberufe an der Filderklinik und in der Medizinischen Sektion aktiv, und Jan Vagedes, Leitender Arzt der Kinderabteilung an der Filderklinik, die Dimensionen technischer Entwicklungen. Ein Beispiel brachten sie aus der Medizintechnik: die Entwicklung von Exoskeletten, eine Art äußere Stützstruktur, die bei Menschen mit einer Querschnittslähmung aller Gliedmaßen die Muskelfunktion ersetzen können. Neu sei an diesen Exoskeletten, dass eine Kopplung zwischen einer Nerven-Sinnes-Tätigkeit, also die mental ausgeführte Bewegung dieses Menschen, und der Steuerung der unterstützten Gliedmaßentätigkeit hergestellt werden kann. Eine Schicht tiefer und mehr verankert in dem zwischenmenschlichen Teil der Gemeinschaft, sprachen sie über Pflegerobotik, eine Entwicklung, in der versucht wird, die Intelligenz der immer menschenähnlicheren Roboter dahin zu steigern, dass sie Emotionen nachempfinden können. Im Bereich der Virtual Reality werde eine Sensorik erschaffen, mit der hautecht Situationen nachgeahmt werden können. Die Avatare, die eine grafische Darstellung und Verkörperung des Benutzenden sind, nehmen dessen simulierte Wahrnehmung, die sich nach der eigenen anfühle, und der Benutzende sich somit von außen wahr. Dadurch entsteht eine Art außerkörperlicher Erfahrung, die auch exkarniert. Eine virtuelle Welt namens Second Life hatte in Spielform bereits 70 Millionen Einwohnende repräsentiert. Die etwas eingeschlafene Second-Life-Community soll in anderer Form ein neues Hoch erleben, durch das vom Facebook-Gründer Marc Zuckerberg konzipierte ‹Metaverse›. Darin gibt es nicht nur ein Universum, in dem alleine agiert wird, sondern ein vernetzendes ‹Metaversum›, in dem verschiedene Universen zusammenfließen. Das große Ziel dieser virtuellen Welt ist, dass man nicht alleine dort eintaucht, sondern auch ein Gemeinschaftsleben entwickelt. Die Schattenseiten sind auch deutlich, wenn man auf Sexualität und Gewalt schaut. In Ego-Shooterspielen werden die Spielenden noch stärker in die Position der Schießenden befördert, die Verbündete zur Seite haben, und in einer Gemeinschaftsbildung werde der Krieg gekämpft werden. In Bezug auf Sex: Es gibt eine Gemeinschaftsbildung mit Maschinen, die dazu führt, dass in einem virtuellen Bordell durch Körperanzüge Generiertes gespürt werden könne.
Wo die Herzenskräfte sind, bleibt der Raum für den Menschen frei.
Im Bereich zwischen einem neu konzipierten Nerven-Sinnes-System und einem neu geschaffenen Gliedmaßensystem kann die Mitte um den Herzraum aber nicht technisch ergriffen werden und bleibt frei. Wo die Herzenskräfte sind – der Raum der Freiheit zwischen virtueller Welt und Robotik –, bleibt der Raum für den Menschen frei. Das ist der Raum, den wir für die Gemeinschaftsbildung, die von Herzen kommt, offen halten.
Könnte eine solche Wärme auch von der Maschine ausgehen? Rolf Heine geht zurück zu den Ursprüngen der Wärme: Der Mensch hat als gleichwarmes Wesen die Fähigkeit, im eigenen Körper Wärme zu erzeugen; er kann seinen Wärmeorganismus beherrschen. Die Fähigkeit, durch das Feuer nicht nur die eigene Wärme zu beherrschen, gibt dem Menschen die Kraft, Wärme auch im Umfeld zu gestalten. In dem weiteren Versuch, die Technik menschenähnlich zu gestalten, versucht der Mensch die durch diesen Wärmeprozess erlangte Selbständigkeit auf Maschinen zu übertragen. Heine konkludiert: «Die Fantasie, dass die Maschine irgendwann Empfindungen haben könnte – all das, was der Mensch kreativ kann, möge auch die Maschine können –, es wäre ein Gegenstand nicht nur von Geisteswissenschaft, sondern von gesundem Menschenverstand, zu sehen, dass das eine kategoriale Unmöglichkeit ist.» Dennoch bleibt die Frage, wie wird diese vom Menschen herausgesetzt maschinelle Welt in einen gemeinsamen Lebenszusammenhang integriert?
Rudolf Steiner beschreibt, dass der Mensch nur dann nicht überwältigt wird durch das Hinabsteigen in die Unternatur der Technik, wenn er durch innere Erkenntniskraft ebenso weit in die Übernatur hinaufgestiegen ist. Diese Balance sieht man auch an der Geste des Erzengels Michael, der in der einen Hand mit dem Schwert abwehren kann und die andere in einer gewissen Verbindungsbereitschaft ausstreckt. Vagedes führt an: «Insofern könnte man sagen, wir oszillieren zwischen einer Gemeinschaft ohne Maschinen, einer Gemeinschaft mit Maschinen, einer Gemeinschaft durch Maschinen und auf jeden Fall einer Gemeinschaft trotz Maschinen. In diesem Sinne nutzen wir alle weiterhin im Alltag das, was auf uns zukommt, was wir als Menschen externalisieren, im Sinne einer michaelischen Freiheit.»
Wie werden Herzensqualitäten in der Biografie erkennbar
Matthias Girke, Leiter der Medizinischen Sektion und im Vorstand am Goetheanum, erklärt einführend zu dem nachfolgend erwähnten Vortrag: «Wenn wir uns fragen, wo innere Kraftquellen für unser therapeutisches, für unser ärztliches Tun sind, dann liegen sie darin, was wir innerlich pflegen, was wir an meditativer Arbeit pflegen und was dann herausstrahlen kann in den Umkreis zu unseren Patienten und Patientinnen, zu unserer therapeutischen Gesamtheit.»
In ihrem Vortrag ‹Erfahrungen von spirituellen Wegen› berichteten Iramaia Chaguri, Michaela Glöckler und Matthew Mirkin von tiefen persönlichen Fragen und Herausforderungen. Iramaia Chaguri erzählt, sie habe in ihrem Leben immer nach etwas Höherem gesucht, womit sie sich verbinden kann. Als Ärztin kam sie mit den Schwellen der geistigen Welt in Kontakt, mit Geburt und mit Sterben. Als sie die Anthroposophie kennenlernte und als Patientin bei einem anthroposophischen Arzt in Behandlung war, sei es für sie so wirksam gewesen, dass sie darin viele Möglichkeiten erblickte. Die Anthroposophie ist für sie eine Methode geworden, einen akkurateren Blick für das suchende Individuum zu haben und wenn möglich seinen geistigen Hintergrund miteinzubeziehen.
Matthew Mirkin ist in einer wohl behüteten Umgebung in einem Camphill in Südafrika aufgewachsen. Im Laufe der Kindheit spürte er eine Abgetrenntheit und dass die innere Welt und das, was im Außen passiert, nicht mehr zusammenpassten. Er erlebte eine Separation von der Natur und sah die Fähigkeit des Menschen, Schlechtes in das Schöne dieser Welt zu bringen. In der Universität studierte er Biologie und beobachtete, wie die Welt immer mehr auseinandergenommen und wissenschaftlich untersucht wurde, aber keine Verbindung mehr zum Menschen hatte. In einer schwierigen Lebensphase kam ihm die Inspiration, sich der anthroposophischen Medizin zuzuwenden. Daraufhin habe sich vieles verändert. Er las ‹Die Geheimwissenschaft im Umriss› von Rudolf Steiner und die ‹auseinandergenommene› Welt wurde durch eine größere, bedeutungsvollere Symphonie von Weisheit und Bestimmung der menschlichen Rolle in der Erdevolution wieder zusammengefügt. Alles bisher Erlebte kann Mirkin als Teil davon verstehen.
Michaela Glöckler beschreibt zwei Aspekte ihres inneren Wegs: einerseits die Frage nach der eigenen Identität und andererseits die Frage nach dem Umkreis. Sie erzählt, wie sie in ihrer Kindheit eine große Angst verspürt hatte und in dem Wissen lebte, dass die Welt dunkel und gefährlich sei und dass es das Böse gebe. Dies wurde zur Identitätsfrage: In welcher Welt bin ich hier gelandet? Als Jugendliche las sie Rudolf Steiners Werk ‹Christus und die Widersachermächte›. Dass sie darin die Widersacherkräfte beschrieben, benannt sah, gab ihr ein Friedensgefühl, denn es bestätigte, dass das Böse ein Teil der Realität sei. In der weiteren Auseinandersetzung mit christlichen Inhalten lernte sie, dass auch das Licht und die Suche nach dem Weg Aspekte des Ichs sind. Dieses zu Idealen zu entwickeln, war ein wichtiger Schritt, die Ich-Kraft zu stärken.
Die Zuhörenden waren berührt von diesen völlig persönlichen Erzählungen. «Es ging um ein persönliches Thema und sie konnten nur aus dem Persönlichen heraus sprechen und haben das mit einer Klarheit und auch Intensität getan, die sehr stark auf mich selbst gewirkt hat», berichtete in einem Pausengespräch eine Heileurythmistin.
Wenn wir Menschen durch innere Erkenntniskraft in die Übernatur aufsteigen, werden wir von der Technik nicht überwältigt.
Die Gemeinschaft von Patientinnen und Patienten
Damit die Ichkraft während einer Krankheit gestärkt wird, ist auch die Gemeinschaft der Behandelten untereinander wichtig. Jede Krankheit reißt mehr oder weniger aus dem bis dahin geführten Leben und aus der gewohnten Gemeinschaft heraus. Sich im Behandlungsumfeld in einem akzeptierenden Umkreis zu befinden, erlaubt ein eigenes Annehmen der Krankheit. Die Erkrankten treten in Kontakt mit verständigen professionellen Menschen, die vielerlei unterschiedliche Lebenssituationen und Herausforderungen begleiten, und andererseits mit anderen Patienten und Patientinnen, die sich gegenseitig verstehen können in ihrer Krankheitssituation. Dieses In-Kontakt-Treten hilft, die Krankheit nicht zuerst als Beschwerliches zu sehen, sondern die Herausforderung und Chance der Veränderung wahrzunehmen.
Georg Soldner, Facharzt für Kinderheilkunde und stellvertretender Leiter der Medizinischen Sektion, führt an: «Wir stellen bei Schulungen fest, dass eine therapeutische Gemeinschaft Kräfte freisetzen kann, die über das hinausgehen, was wir beim Einzelnen erleben.»1
Ein ebensolches Projekt entstand in Brasilien durch Iramaia Chaguri in Zusammenarbeit mit der Clinica Tobias und mehreren Therapeutinnen und Therapeuten. Sie trafen sich alle drei Monate mit bis zu 18 Patienten für eine Sitzung. Auf Initiative der Behandelten steigerte sich das während der Covid-Beschränkungen zu einem wöchentlichen virtuellen Treffen.
Auch eine Teilnehmerin der Konferenz, die als Pflegefachfrau in einem Kantonsspital tätig ist, beschreibt die dortigen Patientenbesprechungen so: «Das ist unwahrscheinlich nährend. Da kommen Lebenskräfte auf!»
Therapeutische Gemeinschaft
Die Anthroposophische Medizin lebt vom Zusammenwirken unterschiedlicher Professionen. Krankheiten mit unterschiedlichsten Ausprägungen, leiblich und geistig, können so ganzheitlich erfasst werden. Der Mensch wird als Ganzes begriffen und die therapeutische Gemeinschaft bildet den Rahmen, in dem Heilung stattfinden darf, in dem Medizin vom Herzen kommt.
Stefan Schmidt-Troschke, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, beschreibt im Zweiergespräch auf der Tagung: «Ein Grundgestus der anthroposophischen Medizin ist, dass da, wo es um eine persönliche Hilfeleistung geht, man den Sozialraum immer mitdenkt. In der Pädagogik gibt es die Kinderbesprechung und wir haben in der Medizin die Patientenbesprechung. Das Soziale und das inhaltlich Pädagogisch-Medizinische hängen sehr eng miteinander zusammen. Das macht uns in der Tat einzigartig. Und das hängt weiter damit zusammen, dass wir eine spirituelle Orientierung haben, die das sozusagen zusammenführt. Geschenk der Anthroposophie ist, dass wir Motive haben, sodass es gar nicht anders geht, als dass wir uns zusammenschließen und dass man das Gemeinschaftlich-Soziale als eine geistige Qualität denken kann. Dadurch, dass wir gemeinsam um einen Menschen herum handeln – was eine geistige Realität ist, die sich da vollzieht –, können geistige Wesenheiten tatsächlich anwesend sein – das ist sehr kostbar.»
In einem Workshop ist ein solches Begegnen spürbar gewesen. Rolf Heine, Elma Pressel und Wolfgang Linninghäuser gestalteten die Arbeitsgruppe ‹Das Herz berühren›: «Rolf Heine hat die Pentagramm-Einreibung demonstriert. Es entstand eine große Stille. Von den Anwesenden wurde beschrieben, allein das Zusehen sei wirksam gewesen, beinahe magisch im positiven Sinn. Rolf Heine war bei der Einreibung voll anwesend – das ist ein Teil der therapeutischen Wirksamkeit im Zusammenspiel zwischen Therapierenden und Patienten oder Patientinnen. Dadurch, dass die anderen im Raum anwesend waren, war es gemeinschaftsbildend, diese Erfahrung der Wirksamkeit dieser Zweierbeziehung mitzuerleben. Das bleibt für das Leben: es real existent erfahren zu können», beschreibt eine Heileurythmistin das Erlebte.
So kann eine therapeutische Gemeinschaft wirksam für die Erkrankten und wirksam für die Menschen in dieser Gemeinschaft sein. Und auch Gemeinschaft an sich kann therapeutisch wirken im Hinblick auf das Wachsen in sich, das Wachsen im anderen und das gemeinsame Wachsen.
Die Schwerpunkte dieser Jahreskonferenz und Rudolf Steiners Gedanken bilden eine Einheit: «Aber es entsteht nur, wenn der Einzelne in dem andern lebt, wenn der Einzelne seine Kraft nicht bloß aus sich selbst, sondern auch aus den andern schöpft […] das ist das Geheimnis des Fortschritts der zukünftigen Menschheit, aus Gemeinschaften heraus zu wirken.»2 Gemeinschaft lässt uns in die Zukunft schreiten!
Bilder Eindrücke von der Jahreskonferenz der Medizinischen Sektion. Alle Fotos: Ariane Totzke.