Eine stete Übung der Freiheit

Rückblick auf die Dokumenta 15

Heute, am 25. September, endet die Documenta Fifteen. Was nehmen wir mit von den hundert Tagen? Hat die Ausstellung der Kunst ein neues Gesicht gegeben? Ist die Sicht auf die Welt nuancenreicher, klüger, respektvoller geworden? Ist es dem Künstler*innenkollektiv aus Jakarta, das die künstlerische Leitung der Documenta innehatte, gelungen, seine Kernwerte Kollektivität, Ressourcenaufbau und gerechte Verteilung zu vermitteln? Anders gefragt: Ist es den Gastgeber*innen gelungen, die konkrete Praxis des ‹lumbung› – so heißt es in der Sprache der Ruangrupa – zu üben und zu beherzigen?


Auf der einen Seite ein Angebot des sozialen Ge­wi­s­sens aus dem globalen Süden – auf der anderen eine Ausstellungsplattform mit Weltruhm, Tradition und Erfolgserwartungen des globalen Nordens. Ist es ein Zeichen für die Not, dass die Ideen im Norden, im europäischen Westen ausgegangen sind, aus dem heraus die Einladung erfolgte? Oder ist es ein Versuch des Wiedergutmachens, jahrhundertlange koloniale Unterdrückung endlich hinter uns zu lassen? Für beides lassen sich gute Argumente finden. Nicht die Religion, nicht die Kultur, sondern die ‹Wissenschaft› soll uns heute im globalen Norden leiten. Ja, so arm sind wir geworden. Und die Schatten des kolonialen Erbes? Es wird tatsächlich ernst genommen, aber dringen wir durch bis zum bitteren Ende? Halten wir es aus, wenn die Einsicht droht, bodenlos zu werden?

Die koloniale Kritik ist an den Universitäten und in aufgeklärten und kulturkreativen Kreisen der Gesellschaft angekommen; von einer breiten gesellschaftlichen Sensibilität können wir noch nicht sprechen und die Tendenz, dass sie bloss zum guten Ton gehört, überwiegt. Dies steht in keinem Verhältnis zur Tatsache, dass die westliche Zivilisation auf Raub und Ausbeutung begründet ist. Gerade hier hakt der globale Süden ein: Es geht nicht darum, dass wir die koloniale Vergangenheit «hinter uns schaffen», wir müssen sie verstehen, uns erinnern, ihre Strukturen durchdringen.

‹lumbung› ist das indonesische Wort für ‹Reisscheune›, in der die überschüssige Ernte zum Wohle der Gemeinschaft gelagert und verteilt wird. ‹lumbung› versteht sich als eine Praxis des gerechten und verantwortlichen Umgangs mit der Ernte. Sie begründet eine alternative Ökonomie der Kollektivität. Ruangrupa tat gerade dies mit der ihr zugespielten Ernte: der Leitung der Documenta. Früh in der Vorbereitungsphase luden sie weitere Kollektive ein, Teil der Ausstellungsgestaltung zu werden. Damit war von Anfang an klar, dass es keine Identifikationsfigur geben wird, an die Bewunderung, Neid und Kritik gerichtet werden kann. Das Teilen wurde zum Prinzip und zum Reichtum der Ausstellung.

Das vielversprechende Ausstellungskonzept konnte sich leider schlecht entfalten. Schon wenige Tage nach der Eröffnung wurde in dem Werk ‹People’s Justice› eine antisemitische Bildsprache entdeckt. Die Leitung sah sich gezwungen, das monumentale Werk des indonesischen Kollektivs Taring Padi abzubauen. Seit 1998 setzt es Puppen, Plakate und Banner ein, um Missstände anzuprangern. Seine satirische Ikonografie ist als Protest gegen die Militärdiktatur des damaligen Präsidenten Suharto gewachsen.

Es geht nicht darum, dass wir die koloniale Vergangenheit «hinter uns schaffen», wir müssen sie verstehen, uns erinnern, ihre Strukturen durchdringen.

Die Verwendung antisemitischer Symbolik fußte jedoch eher auf Naivität und Unwissen, insbesondere über die Wahrnehmung dieser Symbole in der deutschen Öffentlichkeit. Tarig Padi hat sich entschuldigt und erklärt: «Alle auf dem Banner abgebildeten Figuren nehmen Bezug auf eine im politischen Kontext Indonesiens verbreitete Symbolik, zum Beispiel für die korrupte Verwaltung, die militärischen Generäle und ihre Soldaten, die als Schwein, Hund und Ratte symbolisiert werden, um ein ausbeuterisches kapitalistisches System und militärische Gewalt zu kritisieren.»1 Übrigens: Westliche Regierungen, auch die deutsche, haben Suharto geduldet und jahrelang unterstützt.

Installationsansicht aus dem Ottoneum, das währtend der Documenta 15 vom spanischen Kollektiv Inland bespielt war. Inland ist eine Para-Institution, die sich mit Kunst, Territorium und sozialem Wandel beschäftigt u. a. mit der Frage, wie eine Ökonomie von Werten geprägt sein kann. Foto: Johannes Nilo

Anfang August wurde von den Documenta-Gesell­schaftern ein wissenschaftlicher Beirat eingesetzt, der zwei Wochen vor dem Ausstellungsende einen weiteren Fall von Antisemitismus entdeckte, nämlich in dem Werk ‹Tokyo Reels› des Kollektivs Subversive Films – eine Kompilation von pro-palästinensischen Propagandafilmen aus den 1960er- bis 1980er-Jahren. Farid Rakun von Ruangrupa fühlte sich in dem Schritt, das Gremium wissenschaftlich zu nennen, an die koloniale Geschichte erinnert. Wissenschaft als Instrument, um Menschen zu delegitimieren. «Wir verstehen, dass die Politiker ein solches Gremium brauchen, damit sie nicht ganz allein zu einer Schlussfolgerung kommen müssen.»2 Wenn aber «der Staat etwas tut, um seine Macht durch andere, in diesem Fall durch Wissenschaftler, auszuweiten, ist das sehr beunruhigend».3

Hätte man anstelle eines ‹wissenschaftlichen› Rates nicht einen ‹künstlerischen› Rat einberufen oder sich um einen öffentlichen Dialog zwischen den Beteiligten bemühen sollen? Denn ist der ‹Kolonialismus› nicht letztlich Ausdruck einer gescheiterten Begegnung, die durch eine Kultur des Dialogs überwunden werden müsste? Wie gesagt: Es geht nicht darum, dass wir die koloniale Vergangenheit «hinter uns schaffen», wir müssen sie verstehen, uns erinnern, ihre Strukturen durchdringen. Und wir sollten unterscheiden zwischen der Sprache der Propaganda und Staatspropaganda, sagt Farid Rakun. «Es wird immer deutlicher, dass Archive nicht neutral sind. Sie sind umkämpftes Terrain, und es ist wichtig, das zu zeigen.»4

Die Dokumenta Fifteen hat gezeigt, dass die Kunst ein notwendiges Gegengewicht zu einer zunehmend technokratisch werdenden Wissenschaft ist. Kunst, nicht als Inhalt, sondern als Praxis des Zusammenlebens, Teilens und als eine stete Übung der Freiheit.


Bild Der Britto Arts Trust aus Bangladesch beschäftigt sich mit Ernährungspolitik, Vertreibung und Kultur. An der Documenta 15 zeigte er die Installation rasad. Foto: Johannes Nilo

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Footnotes

  1. Taz vom 21.6.2022, taz.de/Kuenstlerkollektiv-Taring-Padi/!5859643/, abgerufen am 26.9.2022.
  2. Monopol vom 22.9.2022, monopol-magazin.de/interview-ruengrupa-documenta-fazit-indra-ameng-farid-rakun-ayse-g%C3%BClec-wir-hatten-nie-das-ziel-perfekt-zu-sein, abgerufen am 26.9.2022.
  3. Ebd.
  4. Ebd.

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  1. wie sehr ahnend spüre ich einer empfindung nach, die in diesem seltsamen intermezzo der kritik an einer kuratierung von kunst, die sich nicht vorab einer zensur der wahrnehmung beugt, wurzelt und bei einem vergnüglichen Lesen des artikels vorert mündet. danke sehr also für einen blick aufs geschehen, dass mir sehr viel wahrer erscheint als die automatismen feuilltonistischer kritik mit einem denken, dass sich auf der seite des rechts bewegt statt anzuerkennen, dass sich vielleicht gerade neues recht entwickelt, global?

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