Aufwachen in einer anderen Welt

«Wir sind aufgewacht in einer anderen Welt», sagt nach Beginn der Angriffe auf die Ukraine die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock. Dieser Satz bewahrheitet sich im Gefühl und in der Realität von uns allen. Eine Revolution der Gesinnung steht an.


Das Zeichen sind wir, deutungslos,
Schmerzlos sind wir und haben fast
Die Sprache in der Fremde verloren.
Wenn nämlich über Menschen
Ein Streit ist an dem Himmel und gewaltig
Die Monde gehn, so redet
Das Meer auch und die Ströme müssen
Den Pfad sich suchen. Zweifellos
Ist aber Einer. Der
Kann täglich es ändern. Kaum bedarf er
Gesetz. Und es tönet das Blatt und Eichbäume wehn dann neben
Den Firnen. Denn nicht vermögen
Die Himmlischen alles. Nämlich es reichen
Die Sterblichen eh an den Abgrund. Also wendet es sich, das Echo,
Mit diesen. Lang ist
Die Zeit, es ereignet sich aber
Das Wahre.

Friedrich Hölderlin: Mnemosyne [1. Strophe, 2. Fassung]

Das derzeitig zu Herzen gehende Leiden der Ukraine, die Kriegssituation, ist das Ergebnis von Versäumnissen, gebrochenen Vereinbarungen und Eigenmächtigkeiten. Das gilt für alle beteiligten Seiten. Putin ist dabei, den souveränen Staat Ukraine, wie schon Stalin in den 1930er-Jahren, zu zerstören. Er hat nicht zuletzt mit den Bombardierungen in Syrien gezeigt, dass er Despoten stützt und Demokratieentwicklungen bekämpft. Aber auch die USA haben Raketensysteme unabgesprochen zum Beispiel in Polen stationiert. Verhandlungen wurden ohne die Europäer geführt. Es wiederholt sich die Kuba-Krisenkonstellation vom Oktober 1962. Damals standen in der Türkei US-Raketen gegen die UdSSR. Die Antwort waren Raketen in Kuba. Wieder geht es um die Erweiterung und Sicherung von Vormachtstellung. Hier ein demokratisch-rechtsstaatlicher Privatkapitalismus. Dort ein kommunistischer Staatskapitalismus.

Polarisierte Gesellschaftswesen verhalten sich unterschiedlich rücksichtslos. Man kann eine Anhäufung zunehmender Verstrickung wahrnehmen: Krieg und Leiden (jetzt Ukraine); zunehmende Bedrohungen der Gesundheit; Klimawandel und Artensterben. Europa ist beteiligt – und buchstäblich mittendrin. Europa hat sich bis heute nicht gegenüber US-Vorstellungen von Ökonomie und Weltmacht emanzipiert, sondern sich untergeordnet und versucht, daraus selbst Gewinn zu schlagen. In Europa hat sich dadurch keine heilsame, einige und ausgleichende Mitte zwischen der ökonomisch-militärischen Expansion der Blöcke entwickelt. Die Welt, in der doch alle miteinander Handel treiben, wirkt zunehmend zerstückelt durch Regelbrüche, Raubbau, Korruption, Verlogenheit. In der brutalen Reaktion Putins verbinden sich nun alle Übel miteinander. Eine erneute Militarisierung im Westen wird die bestehenden Probleme allein nicht lösen. Die menschlich produzierte Machbarkeitshybris lässt, bis in furchtbar grausame Waffensysteme hinein, zunehmend entfesselte und zerstörerische Kräfte toben.

Es besteht kein Zweifel, dass jetzt Hilfe für die Menschen und den selbständigen Staat Ukraine vorrangig ist. Wenn nun aber von einem ‹Aufwachen in einer anderen Zeit› gesprochen wird, sollte das keinesfalls denselben Mustern folgen, die ins Dilemma geführt haben. Wie soll sich etwas ändern, ohne Überwindung gewohnter Vorstellungen und Haltungen? Zum Aufwachen gehört ein grundlegend erweitertes An-Erkennen von Zusammenhängen. Das Ausmaß der Zerstörungskräfte macht deutlich, dass Zusammenleben und der Schutz von Lebensgrundlagen nicht durch Grenzverletzungen, Despotismus, Maximierung von Ausbeutung und Entrechtung von Menschen gelingen kann. Europa hat als demokratisch verfasster Kultur- und Rechtsraum die Fähigkeit, eine erneuernde Kraft der Mitte zwischen den genannten Extremen zu bilden. Die weltweiten Jugendbewegungen zeigen, wie Miteinander geht – und dass die Weiterentwicklung jeden einzelnen Menschen, alles Denken, Empfinden und Handeln betrifft, überall. Das 21. Jahrhundert stellt die Menschheit vor völlig neue Aufgaben, die ein neues Bewusstsein erfordern. Dieser Krieg zeigt es bedrängend deutlich.

Reif sind, in Feuer getaucht, gekochet
Die Frücht und auf der Erde geprüfet und ein Gesetz ist,
Dass alles hineingeht, Schlangen gleich,
Prophetisch, träumend auf
Den Hügeln des Himmels. Und viele
Wie auf den Schultern eine
Last von Scheitern ist
Zu behalten. Aber bös sind
Die Pfade. Nämlich unrecht
Wie Rosse, gehn die gefangenen
Element und alten
Gesetze der Erd. Und immer
Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht. Vieles aber ist
Zu behalten. Und not die Treue.
Vorwärts aber und rückwärts wollen wir
Nicht sehn. Uns wiegen lassen, wie
Auf schwankem Kahne der See.

Friedrich Hölderlin: Mnemosyne [1. Strophe, 3. Fassung]

Friedrich Hölderlin ‹erinnert› in dem Gedicht ‹Mnemosyne› an die schicksalshafte Verbundenheit des Menschen mit allem irdischen und geistigen Dasein. Die Menschheit hat die Schwelle überschritten. Nicht Zufall, sondern die Folgen menschlichen Handelns zeigen sich schicksalsträchtig und dramatisch. Früher natürlich zusammenwirkende Organe sind auseinandergezogen. Zugleich erwacht eine große, über vormalige Gräben reichende Solidarität und Einigkeit. Wie finden wir dauerhaft tragende Menschlichkeit und Anerkennung des anderen? Wie ein neues Bewusstsein im Zusammenwirken der Menschheit als Organismus unterschiedlicher Kulturen (Organe)? Im Verbund mit, nicht gegen die Erde, nicht gegen den Kräftezusammenhang des Lebendigen, der uns trägt? Das ‹Aufwachen in einer anderen Welt› muss sich auf den lange vergessenen Teil der menschlichen Seele durch eine tiefer wahrnehmende Mnemosyne erweitern, durch Anschluss an den wirkenden Geist im Menschen. («Zweifellos / Ist aber Einer. Der / kann täglich es ändern / Kaum bedarf er / Gesetz …») «Und was das allgemeine betrifft, so hab’ ich Einen Trost, dass neulich jede Gährung und Auflösung entweder zur Vernichtung oder zu neuer Organisation nothwendig führen muß. Aber Vernichtung giebts nicht, also muss die Jugend der Welt aus unsrer Verwesung wiederkehren. […] Ich glaube an eine künftige Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten, die alles bisherige schaamroth machen wird.» (Aus einem Brief von Hölderlin an seinen Freund Ebel nach Paris am 10.1.1797)


Bild Sapan Patel

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