An den Ufern des Amur

Über eine Länge von etwa 2000 Kilometern ist der Amur Grenzfluss zwischen dem sibirischen Russland und dem Norden Chinas, um sich dann nach Norden zu wenden und in den Pazifik zu münden. Für die meisten von uns ist diese Gegend ein weißer Fleck, nicht nur in topografischer Hinsicht, der durch Sören Urbanskys Buch erhellt wird.


Der 1980 in Leipzig geborene Historiker Sören Urbansky hat über das Gebiet promoviert und es im Rahmen seiner Studien mehrmals bereist, zuletzt 2019 von Irkutsk nach Wladiwostok. Nach seinem Zivildienst in Moskau war er Student in Harbin, Kasan und Peking, spricht russisch wie chinesisch. Entstanden ist aber kein wissenschaftliches Buch mit Fußnoten, sondern eher der Bericht eines Rucksacktouristen, der über ein großes Hintergrundwissen verfügt. Mal mit Zug, mal per Anhalter oder Bus unterwegs, ist seine anekdotenreiche Schilderung vielleicht vergleichbar mit den Reiseberichten eines Bruce Chatwin.

Diese Reise beginnt in Irkutsk, folgt am Baikalsee den Spuren russischer Kolonialzeit, führt anschließend über Ulaanbaatar nochmal nach Transbaikalien, um nach einem Halt in Harbin im Nordosten Chinas die Mandschurei zu durchqueren und in Lüshunkuo (dem ehemaligen Port Arthur) das Gelbe Meer zu erreichen. Nordkorea wird nur berührt. Es geht nochmal hoch zum Amur, diesem folgend nach Chabarowsk, um mit dem Transsibirien-Express den letzten Abschnitt der 9288 Kilometer langen Strecke (von Moskau aus) im Fernbahnhof von Wladiwostok zu enden.

Der Amur wird mehrmals überquert: Auf der einen Seite des Flusses liegen prosperierende chinesische Städte, während auf der russischen Seite das Leben sich noch in den alten Bahnen bewegt. Die Spannungen zwischen Russland und China waren zeitweise gewaltig, und doch befruchten sich die zwei Riesenreiche in den Grenzgebieten auch gegenseitig.

Auf der einen Seite des Flusses liegen prosperierende chinesische Städte, während auf der russischen Seite das Leben sich noch in den alten Bahnen bewegt.

Rasante Veränderungen

Was dem Buch eine besondere Note gibt: Urbansky trifft in den bereisten Gebieten immer wieder Exkommilitonen und Kolleginnen, sucht und findet Kontakte, die ihm Einblick in die Lebensverhältnisse der dort lebenden Menschen gestatten. Indem er an diese früheren Besuche anknüpft, vermag er einen gewissen Zeitraum zu überblicken, sodass die rasante Veränderung, die in der Region stattgefunden hat, sichtbar wird. Skurrile Widersprüche zeichnen sich ab, zum Beispiel in der 1921 gegründeten Mongolei. Hier trifft Urbansky in der Hauptstadt Ulaanbaatar auf Badma, eine ehemalige Mitstudentin aus Kasan, die in einem ‹Ger› lebt. So nennt die mongolische Bevölkerung ihre mobilen Behausungen. Der Name Jurte ist dem Türkischen entlehnt und bedeutet ‹Heim›. In den Hochhäusern des Zentrums wohnt eine Oberschicht, die durch den Bergbau reich geworden ist. Da es kaum bezahlbaren Wohnraum gibt – die Quadratmeterpreise sollen sich mit New York und Moskau vergleichen lassen –, sind im Umkreis über die Jahre 200 000 Rundzelte aus Leinen und Fell entstanden, mit wlan und Solarpaneel auf dem Dach, aber ohne fließendes Wasser und Kanalisation. Eine der vielen ökologischen Herausforderungen, die mit diesen schnell wachsenden Veränderungen in der Gegend zusammenhängen.

Blick in die Geschichte

Außer Naturbeschreibungen erfahren wir viel über die wechselhafte Geschichte des Nordostens Chinas, beginnend mit dem auch ‹Nullter Weltkrieg› genannten russisch-japanischen Krieg, bei dem Japan 1904 den russischen Machtanspruch und Geltungsdrang bremste, allerdings seinerseits Interesse an den reichen Rohstofflagern in der Mandschurei hatte. Um Rohstoffe und Territorialgewinn ging es auch, als Japan 1932 nach einem inszenierten Zwischenfall in China einfiel und das Marionettenkaiserreich Mandschukuo errichtete, das bis 1945 bestand. Wer hat heute im Bewusstsein, dass es infolge dieses Krieges bis zu 20 Millionen chinesische Opfer gab? Wer weiß, dass Japan mit der geheimen Einheit 731 in Pingfang, ‹dem Auschwitz Asiens›, chemische und biologische Waffen entwickelte und in Versuchen an Menschen erprobte? Unter Mao wurde über dieses Kapitel geschwiegen, jetzt dokumentiert eine Gedenkstätte und ein gut ausgestattetes Museum diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Heute scheinen die Wunden zwischen den Völkern allerdings weitgehend geheilt zu sein. Ökonomie beherrscht das Leben. In den diversen Städten wird an erster Stelle gedealt. Insbesondere im russisch-chinesischen Grenzgebiet begegnen uns oft Menschen, die ein ‹bissness› betreiben. Nach 1989 sollen in der Region Primorje bis an die 100 000 Menschen am Gebrauchtwagenhandel beteiligt gewesen sein. Daher sind bis zum Ural immer noch viele Autos mit dem Steuer auf der ‹falschen› Seite zu finden. Mit Wladiwostok (wörtlich: ‹Beherrsche den Osten›) ist die Endstation einer Reise erreicht, der man als Leser und Leserin mit Spannung folgt, gerade jetzt, wo sich die eigene Reiselust nicht so entfalten kann, wie man es sich vielleicht gewünscht hätte.


Zum Buch Sören Urbansky, An den Ufern des Amur. Die vergessene Welt zwischen China und Russland. Beck, 2021

Titelbild: Fluss Amur in Chabarovsk, Russland. Foto : Czochralski Soeren Urbansky, wikimedia commons

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