Vom Frieden

Es ist mehr als die Atmosphäre des Friedens, mehr als seine Kraft, ja es scheint etwas vom Wesen des Friedens selbst anwesend zu sein, als Bassam Aramin und Rami Elhanan im Goetheanum mit den 500 Anwesenden, darunter viele Schülerinnen und Schüler, ihr Schicksal und ihre Mission teilen.


Was für ein Bild. Da sitzen die beiden befreundeten Männer der verfeindeten Kriegsparteien auf der Bühne und hinter ihnen blickt man auf das Bild von Smadar und Abir, ihren im Krieg getöteten jungen Töchtern – machtlos und übermächtig. Ich bin vermutlich nicht der Einzige, der fühlt: Friedensbotschaften wie diese haben einen längeren Atem als Rache und Kriegskalkül, als das ‹Aber-Denken›, wie es Udi Levy, Moderator des Abends, nennt. Die Macht dieser Friedfertigkeit zeigt sich mir in der Gegensätzlichkeit, der Weite, die durch den Saal weht. Da bildet sich eine tief betroffene Gemeinschaft und zugleich bleibt jeder im Gespräch mit seinem Herzen bei sich, wird mit sich selbst konfrontiert. Davon sprechen die beiden Männer. Sie erzählen von ihrem ungeheuren Schmerz, als sie vom Tod ihrer Töchter erfahren. Wie der Schmerz in die Seele sickert und sich auf alles legt und wie sie ihn bewältigt haben. Und sie schütten ihren orientalischen Humor im Saal aus. So beginnt Rami Elhanan, 73, von seinen Eltern zu erzählen. Sein Vater, Überlebender von Auschwitz, wurde im Krieg 1948 schwer verwundet und die Sorge der Krankenschwester, seiner späteren Mutter, sei der Grund gewesen, dass er nun hier sitze. In drei Kriegen hat Rami gekämpft: im Jom-Kippur-Krieg, dem Sechstagekrieg und dem Libanon-Krieg. Als Panzertechniker musste er die Verletzten aus den Panzern bergen und sah jedes erdenkliche Leid. Dann erzählt er von Smadar. Sie wurde 1997 geboren, Tänzerin, Klavierspielerin, ein Mädchen, das jeder ‹Prinzessin› nannte. Er, Grafikdesigner, und seine Frau, Professorin für Erziehung, erlebten mit drei Söhnen und der Tochter eine glückliche Familienzeit in Jerusalem.

Am 4. September 1997 sprengt ein palästinensischer Attentäter sich in die Luft und reißt 32 Menschen in den Tod. Darunter auch seine Tochter. Sie war mit zwei Freundinnen unterwegs. «Es war ein Donnerstagnachmittag, der Beginn einer langen dunklen Nacht, die bis heute andauert. Da spürst du, wie das Blut in den Adern gefriert, ganz langsam.» Rennen zwischen Polizeiwachen und Krankenhäusern. Dann: Forensisches Institut! «Dann beginnst du zu verstehen, dass du gleich dein totes Mädchen sehen wirst. Eine Einsicht, die du dein Leben lang nicht mehr vergisst. Das Familienhaus füllt sich mit Tausenden, die dir Anteilnahme schenken. Dann musst du aufwachen, musst eine Entscheidung treffen. Was kann ich mit dieser untragbaren Bürde auf meinen Schultern tun, dem Zorn tun, der mich beginnt aufzufressen? Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Die erste ist offensichtlich: Du folgst der Rache. Das schafft die nicht endende Spirale von Gewalt.»

Der Schmerz eint

Dann beschreibt Rami, wie er lernt, die andere Option auszuloten. «Was kann jemanden dazu bringen, so wütend, so hoffnungslos zu sein, dass er bereit ist, sich mit einem 14-jährigen kleinen Mädchen in die Luft zu sprengen?» Ein Jahr habe er gebraucht. Dann traf er Yitzhak Frankenthal, und das habe sein Leben verändert. Frankenthals Sohn Arik wurde 1994 von der Hamas entführt und ermordet. Daraufhin hat er eine Organisation begründet, in der Israelis und Palästinenser, die ihre Angehörigen verloren haben, sich finden. «Er lud mich einfach ein, einem Treffen beizuwohnen. Ich stand abseits, zynisch, wie ich zu sein schien. Ich hätte nie gedacht, dass ich eines Tages einer von ihnen sein würde: Menschen, die ihre Angehörigen verloren haben und trotzdem für den Frieden eintreten. Dann sah ich etwas, das für mich völlig neu war, für meinen Verstand, für meine Augen, für meine Seele. Ich stand da und sah, wie palästinensische Hinterbliebene mir die Hand schüttelten.» Er habe sich geschämt, dass es das erste Mal gewesen sei, dass er Palästinenser als Menschen sah, nicht als Arbeiter auf der Straße, nicht als Terroristen. «Ich erinnere mich, dass ich eine alte arabische Frau sah, in schwarzem, traditionellen, Kleid, und sie trug das Bild eines sechsjährigen Kindes, wie meine Frau.

Ich kann mir nicht erklären, was damals mit mir passiert ist. Von diesem Moment an bis heute verbringe ich mein Leben damit, überall hinzugehen, wo es möglich ist. Ich spreche mit jedem Menschen, mit Menschen, die zuhören wollen, und mit Menschen, die nicht zuhören wollen, um diese einfache Botschaft zu vermitteln, die besagt, dass wir es ändern können – ein für alle Mal, diesen endlosen Kreislauf von Gewalt, Rache und Vergeltung. Der einzige Weg, dies zu tun, ist, miteinander zu reden, den Schmerz voneinander zu erfahren – gemeinsam den langen Weg der Versöhnung zu gehen.» Rami findet hundert Formulierungen für diesen Ruf: Es gäbe keine Abkürzungen, für diesen langen holprigen Weg. Der andere Weg führe ins Leere und habe einen furchtbaren Preis. Er und Bassam seien keine Politiker, zeichnen keine Karten. Rami: «Wir glauben, dass das, was uns eint, unser Schmerz ist. Und der Schmerz wird durch die anormale Situation verursacht, in der ein Volk ein anderes beherrscht. Die israelische Besatzung der Palästinenser. Und das muss geändert werden.» Er nennt den Schmerz den Verbündeten. «Man kann ihn nutzen, um Dunkelheit, Zerstörung, Schmerz und Tod über die Menschen zu bringen. Und ihr könnt nutzen, um Licht und Wärme zu bringen.»

Den Schmerz des anderen hören

Dann ergreift Bassam Aramin das Wort. Seine Geschichte ist polar und identisch: Er wächst bei Hebron auf und findet mit Freunden ein Waffenversteck. Seine Freunde werfen daraufhin nachts Handgranaten auf einen israelischen Militärjeep. Niemand wird verletzt, aber die Gruppe geht für 14 bis 22 Jahre ins Gefängnis. Bassam war nicht dabei, aber die Ermittler erfahren, dass man ihn im Dorf mit der Gruppe gesehen hat. So kommt er mit 17 Jahren unschuldig für sieben Jahre hinter Gitter – Schläge und Demütigung im jungen verletzlichen Lebensalter. Während andere Insassen nach der Haft gleich wieder zur Waffe greifen, sucht Bassam einen anderen Weg. Mit seiner Frau Salva bekommt er sechs Kinder in Anata, einem kleinen Dorf bei Jerusalem. 16. Januar 2007: Bassam sagt seiner Tochter Abir, sie solle pünktlich nach Hause kommen. Trotzig sei sie gegangen. «Sie muss immer ihren Kopf durchsetzen», hatte er noch zu seiner Frau gesagt. «Sie hatte eine starke Persönlichkeit und war sehr selbständig. Am Checkpoint auf dem Weg zu meiner Arbeit nach Ramallah kam der schlimmste Anruf meines Lebens.  Er war von der Anata-Mädchenschule. Auf der anderen Seite der Leitung war Abirs Schwester Areen, und sie hat Abirs Namen gerufen. «Abir, Abir!». Eine Freundin, die dabei war, hat mir dann erzählt, dass Abir von Soldaten in den Kopf geschossen wurde und verletzt sei. Mit meiner Frau fuhr ich ins Krankenhaus. Dort fanden wir Abir. Ich begann das Schlimmste zu denken, und das ist dann geschehen.» Rami wachte mit Bassam am Bett. Rami: «Ich habe mir überlegt, ob Bassam die Kraft und den Mut behalten wird, auf dem Weg des Friedens zu bleiben. Ich habe daran gedacht, wie viel leichter es ist zu hassen, die Gefühle in gewalttätige Bahnen zu lenken.» Man muss den Schmerz des anderen hören, sagen Bassam und Rami auf die Publikumsfrage: Man muss in sich die Menschlichkeit entdecken, dann kommt der Frieden.


Aus der Veranstaltung am Goetheanum, 15. Okt. 2024  ‹Wie aus tiefstem Schmerz Bruderschaft wird› und dem Film ‹Sie alle sind unsere Kinder› (2010), Filmakademie Baden-Württemberg, Youtube. Foto Screenshot aus der Aufnahme der Veranstaltung.

Gedanke am nächsten Tag Es gibt die Diskussion, ob man Rudolf Steiners Plastik ‹Der Menschheitsrepräsentant› auf die Bühne stellen solle – hier waren zwei Menschheitsrepräsentanten anwesend.

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