Die Aufgaben der Jugend

Für ihre Abschlussarbeit des Studienganges Anthroposophie am Goetheanum wählte Rosemary Channin die Frage «Sind Rudolf Steiners Angaben für junge Menschen 2023 noch relevant?» Dafür untersuchte sie seine Ansprachen an die Jugend und befragte Studierende am Goetheanum.


Junge Menschen heute erleben den rasanten Fortschritt von Technik und künstlicher Intelligenz, gravierende politische Unruhen vielerorts in der Welt, die Auswirkungen des Russland-Ukraine-Krieges und ständig steigende Lebenskosten. Im stetig schneller werdenden Leben tun sich junge Menschen schwer, ihren Platz und Weg in der Welt zu finden. Die (oft unbewusste) Suche und Sehnsucht nach dem Geistigen ist vielleicht wichtiger und dringender als je zuvor. Vor etwa 100 Jahren, als die Welt nach dem Ersten Weltkrieg wieder Fuß zu fassen versuchte, gab Steiner einen Vortragskurs für junge Menschen, die Antworten auf ähnliche Fragen suchten wie wir heute.1 Die alten Strukturen der Vorkriegszeit waren nicht mehr tragfähig und die Jugend suchte nach neuen Lebens- und Beziehungsformen. Laut Steiner brachten die damals geborenen Seelen etwas Neues mit sich: Bevor sie sich neu inkarnierten, hatten sie in der geistigen Welt den Anbruch des Michael-Zeitalters erlebt und wussten, dass sie Teil davon waren. Allerdings waren in den älteren Generationen die alten Gewohnheiten und Traditionen noch lebendig, sodass die jungen Menschen eine Unstimmigkeit erlebten. Steiner warnte die jungen Menschen, dass die Welt ohne den notwendigen Mut immer tiefer in Materialismus und Intellektualisierung versinken würde, beides Erscheinungsformen des ‹Drachens›, den es zu überwinden gilt. Erzengel Michael kann der Menschheit helfen, diesen ‹Drachen› zu überwinden, aber er drängt sich uns nicht auf. Wir müssen selbst entscheiden, uns mit dem lebendigen Geist zu durchdringen.

Rosemary Channin

Lebendige Menschlichkeit

Steiners Aufgaben für die Jugend (u. a. GA 217, GA 217a und GA 266, dritter Band) stehen in Zusammenhang mit der Bewusstseinsseelen-Epoche und lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  1. Dem Drachen begegnen und ihn überwinden – wir können ihm weder entkommen noch uns vor ihm verbergen.
  2. Aus geistiger Aktivität heraus tätig werden und wie Kinder suchen, fragen und unvoreingenommen auf die Dinge zugehen – kurz gesagt: inneres Tätigsein und eigene Wachstumskräfte pflegen.
  3. Wegbegleitende Michaels werden.
  4. Für Michael den Wagen bauen, mit dem er auf der Erde einziehen und wahrhaft mit uns wirksam werden kann. «Dazu brauchen wir lebendige Menschlichkeit, wie sie aus übersinnlichen Welten in das irdische Menschenleben sich hineinlebt und sich darinnen manifestiert, gerade in den ersten Zeiten des Menschenlebens.»2 Es geht also darum, in Kindern durch eine kunst- und herzbetonte Erziehung lebendige Menschlichkeit zu kultivieren.

Als Rudolf Steiner vor 100 Jahren vor jungen Menschen sprach, beschrieb er vor allem drei Wege, um sich diesen Aufgaben zu stellen:

  1. Individuelle innere Arbeit, um die eigene Beziehung zur geistigen Welt in vollem Bewusstsein zu finden.
  2. Das Bilden geisteswissenschaftlicher Forschungsgruppen auf Grundlage gemeinsamer Meditation und gemeinsamen Studiums. Dieser Vorschlag führte zur Bildung eines esoterischen Meditationskreises junger Menschen und bald darauf zu den Mantren des Jugendkreises.3
  3. Eine künstlerische und imaginative Kindheitspädagogik, damit das Schöne zum Verständnis des Wahren führen kann.

Herausgeforderte Jugend

Um herauszufinden, wie relevant diese Aufgaben und Angaben heute sind, konzipierte und leitete ich den Workshop ‹Herausforderungen der Jugend 2023› in der Jugendsektion am Goetheanum mit zwei Jugendgruppen. Es ging mir darum, die wichtigsten Herausforderungen zu identifizieren, denen sich junge Menschen in der heutigen Gesellschaft gegenübersehen. Ich bat die Teilnehmenden, über ihre Anliegen und Bedürfnisse nachzudenken und lud sie ein, sowohl ihre inneren als auch ihre äußeren Erfahrungen in Augenschein zu nehmen. Ich hoffte, auf Grundlage ihrer Antworten wesentliche Muster und Themen formulieren zu können. Obwohl einiges für mich sehr deutlich war, gab es bei anderen Themen Überschneidungen, die eine eindeutige Einordnung erschwerten. Erfahrungen lassen nicht einfach bestimmten Kategorien zuordnen, sondern durchdringen sich in Erlebnissen auf physischer, seelischer, geistiger und auf der Ich-Ebene. Ich habe dennoch versucht, die Antworten lose in vier Kategorien einzuteilen (siehe Tabelle).

Die Teilnehmenden kamen von verschiedenen Kontinenten, hatten in anderen Ländern gelebt oder waren ausgiebig gereist. Einige beschrieben ein Gefühl der Entwurzelung. Obwohl sie einerseits das Gefühl hatten, frei zu sein und dass die Welt darauf wartet, erkundet zu werden, hatten sie andererseits auch ein tiefes Verlusterlebnis in Bezug auf eigene Wurzeln und Identität. Für mich gehört das Gefühl der Entwurzelung in alle vier Kategorien. Es ist aber eher eine moderne Erfahrung, weil es vor 100 Jahren schwieriger war, international zu reisen.

Ausgehend von den zentralen Themen aus dem Workshop entwickelte ich drei Hauptaufgaben:

  1. Erkenne dich selbst. Beobachte offen und ehrlich deine Stärken und Schwächen, dein Seelenleben und deine moralischen Ideale. Selbsterkenntnis ermöglicht Weltbegegnung und wenn man die Welt versteht, kann man auch seinen Platz in ihr finden, d. h. man findet Sinn und ein Gefühl der Zugehörigkeit.4
  2. Innere Arbeit. Schule dein Seelenleben (Denken, Wollen, Fühlen, Positivität, Unvoreingenommenheit) z. B. durch Meditation und Steiners sechs grundlegende Übungen als Vorbereitung für die Herausforderungen, die uns in der Welt mit zunehmender Geschwindigkeit und Dringlichkeit entgegenkommen.
  3. Menschliche Beziehungen. Seid euch bewusst, dass jede Begegnung geistig ist, wie sehr andere sich auch von einem selbst unterscheiden mögen. Lernt trotz Unterschiedlichkeiten zusammenzuarbeiten. Entdeckt das Menschliche ineinander.

Sind Steiners Aufgaben für die Jugend 2023 noch relevant?

Es ist offensichtlich geworden, dass Rudolf Steiners Aufgaben heute nicht nur relevant sind, sondern sogar noch dringlicher als vor 100 Jahren. Wir sind in der Bewusstseinsseelenepoche und im Michael-Zeitalter weiter vorangeschritten und der ‹Drache› ist exponentiell gewachsen.5 Er öffnet Tor und Tür für zerstörerische geistige Kräfte. Junge Menschen sind besonders gefährdet, weil sie ein Leben ohne Internet, Smartphones und ähnliche Technologien nicht kennen. Die ältere Generation kann ihnen nicht vorleben, wie sie sich schützen können. Es braucht inneres Arbeiten, um Kraft und Stabilität aufzubauen, klares, lebendiges Denken und starke Willenskräfte zu entwickeln. Außerdem brauchen junge Menschen Möglichkeiten, sich ohne gesellschaftlichen Druck zu entwickeln und ihre Jugend wirklich auszuleben. In der Pädagogik braucht es Aktivitäten, die einatmen und ausatmen lassen (wie in Waldorfschulen schon praktiziert), auch im Umgang mit Technologien. Kinder müssen Verständnis und den bewussten Umgang damit erlernen. In einer ‹post-truth-world›, in der man Antworten auf fast alle Fragen googeln kann, in der Meinungen aus dem Internet wie Tatsachen erscheinen, in der Fotos gefiltert und verändert werden können, bedarf es dringend einer Pädagogik, die lehrt, Wahrheit von Unwahrheit zu unterscheiden. Viele der Herausforderungen, die junge Menschen sowohl zu Steiners Zeit als auch heute beschreiben, sind symptomatisch für die Suche nach dem Geist. Für junge Menschen ist das ein tiefes, ja existenzielles Seelenerlebnis. Die Menschen sind heute (oft) noch weniger als vor 100 Jahren fähig, den Geist im anderen Menschen zu finden, denn sie erleben nur das Voneinander-getrennt-Sein, das in der virtuellen Welt noch verstärkt wird. In Bezug auf das Zwischenmenschliche betonte Steiner, dass junge Menschen «mit eisernem Willen zusammenhalten» und zusammen finden sollten, «auch in der größten Differenz der Gefühle und Empfindungen.»6

Zukunftsschritte

Meine Ergebnisse haben weitere Fragen aufgeworfen. Was können wir tun, um jungen Menschen zu helfen, mehr innere Resilienz zu entwickeln, um die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern? Ich erinnerte mich an Steiners Vorträge zur anthroposophischen Gemeinschaftsbildung (GA 257). Eines der wichtigsten Dinge, die junge Menschen heute tun können, darin besteht, Zeit miteinander zu verbringen, Freundschaften zu knüpfen und zu pflegen und sich über ihre Suche und Ziele auszutauschen. Ein Ort, an dem dies schon weltweit geschieht, ist die Jugendsektion. Sie bietet jungen Menschen einen sicheren Ort, um Fragen zu stellen, zusammenzukommen, die Aufgaben des Lebens gemeinsam anzugehen. Meine Zeit in der Jugendsektion, sowohl als Mitglied als auch als Koordinatorin für Großbritannien, erlebte ich wie ein nach Hause Kommen. Als einen Ort, in dem der Teil von mir, der sich nach geistiger Nahrung sehnt, Halt findet und in Gemeinschaft mit Gleichgesinnten suchend forschen kann. Angesichts der Herausforderungen, denen sich junge Menschen heute gegenübersehen, ist die Jugendsektion wichtiger als je zuvor. Gemeinsam sind wir stärker und es verbindet uns der Mut und die Hoffnung, dass wir ein weltweites Netzwerk sein können für junge Menschen, die Antworten suchen, die nicht im Materialismus des äußeren Lebens zu finden sind.


Übersetzung aus dem Englischen von Margot M. Saar

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Kontakt rosemarychannin@gmail.com

Bilder Rosemary Channin

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Footnotes

  1. Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation. Pädagogischer Jugendkurs, GA 217, 2010.
  2. Rudolf Steiner, ebd., S. 186.
  3. Rudolf Steiner, Aus den Inhalten der Esoterischen Stunden. GA 266.
  4. Joan Melé sprach ausführlich zu diesem Thema in einer Goetheanum-TV-Sendung zur sozialen Dreigliederung und der Aufgabe der heutigen Jugend.
  5. Robin Schmidt, Digitale Transformation gestalten: Perspektiven für Gesellschaft und Pädagogik in einer digitalen Welt. Perspectives, 1-2021.
  6. Rudolf Steiner, Die Erkenntnis-Aufgabe der Jugend. GA 217a, 9. Juni 1924.

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