Wolfgang Schad

Er war für mich und vermutlich auch für viele andere Menschen einer der wichtigsten und bedeutendsten Lehrer. Er gehört zur Generation jener Goetheanisten, die der Anthroposophie als Wissenschaftler begegneten und Rudolf Steiner nicht als Anreger für Glaubenssätze auffassten, sondern als Quelle interessanter Hypothesen, die es zu überprüfen gilt.


Wolfgang Schad wurde am 27. Juli 1935 in Biberach an der Riss geboren, wo er die ersten Lebensjahre in einem musikalischen Haushalt verbrachte und die oberschwäbische Natur einatmete.  Nach dem Umzug der Familie kam er, mitten im Zweiten Weltkrieg, in Hildesheim in die Volksschule. Sobald der Krieg beendet und am 17. Juni 1946 die einzige Waldorfschule im ganzen Gebiet von Rhein und Ruhr in Wuppertal eröffnet war, wechselte er als einer der 72 Schüler, mit denen diese Schule begann, sofort in die 5. Klasse der Rudolf-Steiner-Schule in Wuppertal. Dort begegnete er dem wegweisenden Dreigestirn Wilhelm Rauthe aus Barmen, Elsbeth von Esebeck aus Teltow in der Mark und Carl Brestowsky aus Siebenbürgen. Für seine biologischen Interessen war allerdings ein anderer Mensch wegweisend, der Schularzt Lothar Vogel (1917–1997), der an der Wuppertaler Schule Epochen in der Oberstufe gab und sich mit der Dreigliederung des menschlichen Organismus beschäftigte, wovon sein 1967 herausgegebenes Buch ‹Der dreigliedrige Mensch. Morphologische Grundlagen einer allgemeinen Menschenkunde› zeugt. Damit tönte für Wolfgang Schad ein wichtiges Thema seiner späteren Studien schon während der Oberstufenzeit an. 1955 legte er dort das Abitur ab. Schon als Jugendlicher erkundete er, ohne dass es dazu eines besonderen Beschlusses gebraucht hätte, seine nähere und weitere Umgebung und suchte die Natur, wie sie ihm auf seinen Spaziergängen, Fahrten, Exkursionen begegnete, in all ihren Einzelheiten kennenzulernen. Zur Natur gehörte alles, also Steine, Pflanzen, Tier und Mensch. Im Laufe seines langen Lebens erarbeitete sich Wolfgang Schad eine unglaublich weitläufige, tief gehende und gründliche Kenntnis der Natur.

Biologische Wegbegleiter

Nach seinem Studium der Biologie und Chemie in Marburg/Lahn und in München war der Weg nicht unbedingt vorgezeichnet. Allerdings beschäftigte er sich schon während seiner Studienzeit mit der Anthroposophie und lernte die unterschiedlichsten Menschen kennen, die ihn auf diesem Weg begleiteten. Einer der wichtigsten Wegbegleiter wurde Herbert Grohmann (1897–1957), der Urbiologe der Waldorfbewegung, von dem die ersten, in den 1950er-Jahren erschienenen Bücher zur Pflanzen- und Tierkunde der Waldorfschule geschrieben worden sind. Der Ornithologe Friedrich Kipp (1908–1997) wurde ihm ein weiterer wichtiger Gesprächspartner, mit dem er seine phänomenologischen Interessen, die Detailkenntnisse und vor allem die Fragen nach einer Erkenntnis der Evolution teilte. Eine Begegnung in einem Arbeitskreis auf der Rüspe, damals ein Anthroposophisches Studien-Zentrum im Sauerland, an dem Menschen wie Thomas Göbel (1928–2006), Christof Lindenau (*1928), die Sprachgestalterin und spätere Kollegin an der Pforzheimer Waldorfschule Ilse Schuckmann, die Kollegin aus Wanne-Eickel und Gründerin der Waldorfschule in Kakenstorf Liesel Gienapp (1928–2011), Klaus J. Fintelmann (1924–2005) und andere mitwirkten, festigte die Idee, mit all diesen Kenntnissen und dem inzwischen absolvierten Pädagogik-Studium an der Pädagogischen Hochschule in Göttingen doch an die Waldorfschule zu gehen. 1962 begann Wolfgang Schad als Klassenlehrer an der Pforzheimer Waldorfschule. Kurz zuvor hatte er die Eurythmistin Christiane Schad geheiratet, die ein Leben lang an seiner Seite stand, seine Arbeit unterstützte und zu einem großen Teil erst ermöglichte und ohne deren selbstlose Unterstützung alles Weitere überhaupt nicht denkbar gewesen wäre.

Im gleichen Jahr, 1962, nahmen Stefan und Sigrid Leber ihre Lehrtätigkeit an der Pforzheimer Waldorfschule auf. Ich wurde im gleichen Jahr als Erstklässler in diese Schule eingeschult, kannte aber Wolfgang Schad damals schon, weil er einige Zeit bei uns zu Hause gepflegt worden war, als ihn eine Krankheit für mehrere Wochen ans Bett gefesselt hatte. 1965 wurde die Stelle des Biologielehrers an der Pforzheimer Waldorfschule frei – bis dahin war mein Vater Thomas Göbel Lehrer für Biologie an der Oberstufe der Pforzheimer Waldorfschule gewesen – und Wolfgang Schad wurde diese Aufgabe selbstverständlich mit Vergnügen übergeben.

Am Wochenende: Mineraliensammeln

Wolfgang Schad unterrichtete an der Pforzheimer Waldorfschule fortan Biologie und Chemie in der Oberstufe, gab zum Beispiel auch die Anthropologie-Epoche in der zwölften Klasse und setzte seinen Unterricht von Englisch und Latein in der Mittelstufe fort. Überhaupt unterrichteten damals die meisten Kollegen alles, was nötig war. Schads Wirkungskreis war immer vielfältig. Während seiner Unterrichtstätigkeit nahm sein Interesse an der Natur selbstverständlich nur zu. An vielen Wochenenden fuhren die Familien Göbel, Schad und Leber zu irgendeinem Steinbruch, um Mineralien zu sammeln, in die Pfalz, um Achate zu finden, zu irgendeinem Acker, um Stinkquarze zu suchen, zu irgendeiner Wiese, auf der besondere Orchideen blühten, oder auch nur zu den Obstwiesen, um jeden Stein am Wegesrand umzudrehen und die darunter sitzenden Käfer einzusammeln. Alles Anregungen für die goe­theanistischen Studien und oft ein Beweis, dass Evolution nicht so einfach gedacht werden kann, wie von manchen Naturlyrikern gemeint. Mit der Zeit entstand ein vielfältiges Herbarium und eine umfangreichste Sammlung von Mineralien, Versteinerungen, Käfern, Schmetterlingen, Tierschädeln und vielem anderem mehr.  Die dicht gefüllten Kisten stapelten sich sowohl in der Schule als auch in seiner Wohnung. In dieser Zeit verstärkte sich die Zusammenarbeit mit seinen goetheanistischen Kollegen, insbesondere Andreas Suchantke (1933–2014) und Thomas Göbel, mit denen er sich das eine oder andere Scharmützel lieferte, die nicht selten auch mit gegenseitigen – allerdings überwindbaren – Blessuren abliefen.

Der Streifenbeutler Dactylopsila trivirgata Nord-australiens. Zeichnung: W.Schad nach Strahan 1984. Aus: Wolfgang Schad, ‹Säugetiere und Mensch›.

Es gelang Wolfgang Schad, in den Schülern ein solches Verständnis der Natur anzuregen, das vom Detail zum Ganzen und vom Ganzen zum Detail führt und offenbart, wie jede einzelne Art, jedes einzelne Ereignis, jeder Prozess in der Natur im Zusammenhang steht mit allem anderen und in einem großen Ganzen organisiert ist. Und zwar völlig unabhängig davon, ob gerade ein Pilz im Schwarzwald studiert, die Zwergbirke (Betula nana) im Harz von der Moorbirke (Betula pubescens) im Hochland unterschieden wird oder ob es um den aussterbenden Apollofalter (Parnassius apollo) geht, den er auf einer seiner Exkursionen gesichtet hatte. Das Verständnis der gegenseitigen Interdependenz und der Organisationsstruktur, die man natürlich auch die Ideengestalt nennen könnte, arbeitete Wolfgang Schad insbesondere nach seiner ersten Afrikareise aus. Diese Reise trat er zusammen mit Andreas Suchantke und Jochen Bockemühl (1928–2020) an. Sie führte ihn nach Kenia und ermöglichte ihm zum ersten Mal, die Vielfalt der Säugetiere Afrikas so eindrücklich und ursprünglich vor Augen zu bekommen, dass fortan ein kleines Stichwort genügte, um stundenlange Erzählungen zu provozieren. Afrika hat ihn fortan und zeitlebens nicht mehr losgelassen und war jahrzehntelange Inspirationsquelle seiner Fragestellungen. Dass er dabei nicht der Organisator und praktische Reiseleiter war, weiß jeder, der ihn kannte. Die tiefen Erlebnisse dieser Reise fanden jedenfalls ihren Niederschlag in dem Buch ‹Säugetiere und Mensch›, das 1971 zum ersten Mal erschien und in dem Wolfgang Schad in sehr vielen Einzelheiten beschrieb, auf welche Weise das Prinzip (die Idee), dem das Reich der Säugetiere mit einigen Ausnahmen folgt, ein auseinandergefalteter Mensch ist. Später kamen ihm Zweifel und er ergänzte diese Sicht durch seine evolutionsbiologischen Untersuchungen. Dieses Buch – Wolfgang Schads Opus magnum – erschien 2012 in einer überarbeiteten und wesentlich erweiterten Edition als zweibändiges Werk mit dem Untertitel ‹Säugetiere und Mensch – Ihre Gestaltbiologie in Raum und Zeit›.

Damals, in den 1970er-Jahren, erarbeitete er sich nicht nur das Verständnis der Dreigliederung der Mammalia, sondern widmete sich bereits einem anderen Lebensthema: der Entwicklung der Embryonalhüllen durch die verschiedenen Tierklassen hindurch. Ich erinnere noch mit intensiver Lebhaftigkeit, wie er die Entwicklung der Embryonalhüllen schilderte und wie in der Stufenfolge der Embryonalhüllen durch die Tierreiche bis zum Menschen der Sinn der Entwicklungsstufen manifest wurde. Plötzlich leuchtete in der jugendlichen Seele ein Sinn auf für das, was den Menschen ausmacht und was den Menschen ins Risiko stellt. Wolfgang Schad simplifizierte seine Darstellungen nicht für Schüler, er erarbeitete die wesentlichen Entwicklungsschritte durch die Tierreiche bis zum Menschen in aller notwendigen Differenzierung. Damit pflanzte er einen Sinn für wissenschaftliches Arbeiten in seinen Schülern. Als ich meine Jahresarbeit über die Dreigliederung der Reptilien bei ihm abgab, immerhin ein Buch von über 100 Seiten, las er es und gab es mir mit den Worten zurück, dass er leider die Resultate nicht beurteilen könne, da er sich nicht in die Welt der Reptilien eingearbeitet habe. Das war eine der beeindruckenden Reaktionen für mich und typisch für Wolfgang Schad. Er beurteilte nur, was er kannte. Allerdings kannte er sehr viel und sehr viel mehr als die allermeisten Menschen und schien daher für viele in vielen Bereichen urteilsfähig.

Im Antworten blieb er fragend

Die Attraktivität der Oberstufe der Pforzheimer Waldorfschule hing zu dieser Zeit vor allem an zwei Personen, Wolfgang Schad und Stefan Leber. Sehr verschiedene Persönlichkeiten, was sowohl ihren seelischen Stil als auch ihr Erscheinen betraf. Der eine eher asketisch und nüchtern, der andere eher opulent und ausdruckskräftig. Beide engagierten sich für eine zeitgemäße und für Schülerfragen offene Oberstufe mit einem leistungsaffinen Qualitätsanspruch und beide arbeiteten Hand in Hand. Sie schätzten sich in ihren pädagogischen und wissenschaftlichen Anliegen. Wolfgang Schad und Stefan Leber konnten gemeinsam sehr viel bewirken und führten die Pforzheimer Waldorfschule, unterstützt zum Beispiel von Frieda Gögler und Waltraud Buggert, aus sehr stürmischen in ruhigere, aber immer zukunftsoffene und zukunftsinteressierte Gewässer. Beide beantworteten unsere Fragen nach der Waldorfpädagogik und der Anthroposophie – aber nur außerhalb der Schule. Während wir mit Stefan Leber Soziale Dreigliederung studierten, führte uns Wolfgang Schad in die Anthropologie der Waldorfschule und vorsichtig und andeutend auch in den Schicksalsbegriff ein. Er nahm die latenten Fragen wahr und lud in seine Wohnung ein, um die aufkeimenden Fragen ernsthaft und immer selbst in Fragehaltung zu bearbeiten. Es war ihm wichtig, dass die Waldorfschule kein Ort ist, um mit Schülern Anthroposophie zu studieren. Deshalb sorgte er bei der Bearbeitung entsprechender Fragen für eine räumliche Trennung und lud zu sich nach Hause ein.

Wolfgang Schad, Foto: Privatbesitz.

1975 wurde Wolfgang Schad an das Waldorf-Lehrerseminar in Stuttgart berufen. Zwei Jahre zuvor war schon sein Pforzheimer Kollege Stefan Leber ans Waldorf-Lehrerseminar nach Stuttgart gewechselt, genauso wie Winfried Schmidt, der Bildhauer und Plastizierlehrer. In Stuttgart fand Wolfgang Schad nicht eine vergleichbare Aufnahme und ein vergleichbar offenes Ambiente, wie in Pforzheim vor. Für sehr viele Studenten am Lehrerseminar in Stuttgart wurde Wolfgang Schad ein wegweisender Dozent und als gründlicher Kenner der anthropologischen Grundlagen der Waldorfpädagogik auch inspirierendes Vorbild. Aber innerhalb des Kollegiums ergaben sich zunehmend Spannungen vor allem mit Ernst-Michael Kranich und dessen ganz anderer Sicht auf die Natur, die den Goetheanisten – und damit meine ich natürlich nicht nur Wolfgang Schad, sondern auch seine Goetheanisten-Kollegen – höchst suspekt war und entsprechend kritisiert wurde. Ähnlich geartete Spannungen bestanden auch im Verhältnis zur Naturwissenschaftlichen Sektion am Goetheanum, der so manches Mal die Wissenschaftlichkeit abgesprochen wurde. Wer die Natur nicht in ihren Einzelheiten kannte und es trotzdem wagte, Urteile über diese zu verkünden, wurde entweder, wenn es nicht so schlimm war, nur als Poet und Romantiker bezeichnet, oder, wenn die Urteile zu sehr neben der Wirklichkeit lagen, als kenntnisloser Fantast disqualifiziert. Äußerlich konnten solche Vorgänge sogar freundlich ablaufen, denn zwischen den Ansprüchen an die wissenschaftliche Arbeit und der eher privaten Begegnung mit den Kollegen wurde selbstverständlich unterschieden. Jedenfalls hinderten gewisse Vorbehalte die damals tätigen Naturwissenschaftler nicht daran, Aufsätze in der von der Sektion herausgegebenen Zeitschrift ‹Elemente der Naturwissenschaft› zu veröffentlichen. Überhaupt war Wolfgang Schad in dieser Stuttgarter Zeit sehr produktiv und veröffentlichte Aufsätze in den verschiedenen anthroposophischen Zeitschriften und gab mehrere wichtige Sammelbände heraus, so auch die vier Bände zur ‹Goetheanistischen Naturwissenschaft› und den wichtigen Band über ‹Was ist Zeit? Die Welt zwischen Wesen und Erscheinung›.

Erstaunliche Produktivität

Während der Stuttgarter Jahre förderte Wolfgang Schad die Arbeit der Pädagogischen Forschungsstelle, die als Forschungszweig beim Bund der Freien Waldorfschulen eingerichtet worden war. Von 1975 an arbeitete er im Vorstand der Pädagogischen Forschungsstelle mit, von 1980 bis 1991, leitete er diese Forschungsstelle und setzte Themenschwerpunkte. Ansonsten tat er sich schwer damit, Verbandsaufgaben zu übernehmen, für die man sehr viel Zeit einsetzen musste, ohne dass sonderlich viel dabei herauskam. Diese Aufgaben übernahm dann Stefan Leber. Beide aber waren in diesen Jahren als Vortragende in den großen Veranstaltungen des Bundes der Freien Waldorfschulen zu hören und wurden regelmäßig als Vortragende eingesetzt. Immer perfekt vorbereitet, überzeugte Wolfgang Schad durch seine glasklare Gedankenführung, seine normalerweise weit ausgreifenden historischen Bezüge und brillierte so manches mal mit Zeilen Johann Wolfgang Goethes, mit denen er auf tiefere Fragen der Zeit hinwies. 1991 zum Beispiel, nur eineinhalb Jahre nach der Wende 1989, sprach er über die Aufgaben der Zukunft und betonte nachdrücklich, dass es in der Zukunft nicht auf Systemfragen ankomme, zum Beispiel ob marxistische oder kapitalistische Modelle Vorherrschaft gewinnen, sondern dass es für die Zukunft darauf ankomme, das Umweltproblem anzupacken. Die große kommende Frage, so sagte Wolfgang Schad, sei die Heilung der Erde. Sehr skeptisch äußerte er sich über den damals üblichen Umweltunterricht, da er am Verhalten der jungen Menschen nichts ändere. Und er entwarf einen Umweltunterricht, der zwar beim Einzelnen und seinem sich verändernden Verhalten ansetzt, aber die Gestaltung der Umwelt im großen gesellschaftlichen Maßstab zum Ziel hat, einschließlich einer neuen Stadtplanung. Ein visionärer Blick, den die Waldorfbewegung damals nicht stark genug ergriff. Seine Vorträge hielt er, seine Aufsätze und Bücher schrieb Wolfgang Schad selbstverständlich neben all den Dozentenaufgaben am Waldorflehrerseminar. Im Rückblick auf diese Zeit können wir uns von heute aus nur wundern, wie diese erstaunliche Produktivität möglich war.

Auch wenn die Wirksamkeit von Wolfgang Schad im Waldorf-Lehrerseminar in Stuttgart für viele Studentengenerationen bedeutend war, so war sie für ihn sozial doch mühsam und er musste sich mit der Zeit überlegen, ob er an dieser Stelle wirklich auf Dauer arbeiten und wirken wollte beziehungsweise wirken konnte.

Die embryonale Bildung des Innenohres beim Menschen. 1.Verdickung der Oberhaut in der künftigen Ohrregion (Ohrplakode), 2. Einstülpung derselben, 3.Abschnürung des Ohrbläschens, 4. u. 5. Gestaltdifferenzierung desselben, 6.ausgebildetes Innenohr. a) Rest der ehemaligen Außenverbindung = Ductus endolymphaticus, b)Utriculus, c) Sacculus, d) Cochlea.(Zeichnung: W. Schad nach Starck 1955)

Der Ruf aus Witten

In dieser Situation kam die Frage von Konrad Schily (*1937), der die Universität Witten-Herdecke (UWH) mitgegründet hatte, ob er nicht an die Universität wechseln wolle. Konrad Schily verfolgte die Intention, innerhalb der UWH mehr Wissenschaftler und auch Fächer anzusiedeln, die nicht nur aus einem Mainstream-Hintergrund arbeiteten. Und für Wolfgang Schad war er bereit, ein eigenes Evolutionsbiologisches Institut zu eröffnen und auch nach der Grundfinanzierung zu suchen, die er dann bei Karl Ludwig Schweisfurth fand. Nach längerem Überlegen entschloss sich Wolfgang Schad, nach Witten umzuziehen, was auch für seine Frau Christiane Schad einen großen Einschnitt bedeutete. Sie löste den umfangreichen Haushalt in Stuttgart auf und organisierte den Neuanfang in Witten. Ohne ihre stille, tatkräftige Gestaltung wäre dieser Einschnitt sicher nicht so leicht bewältigt worden. Wolfgang Schad musste zu diesem Zweck aber erst einmal seine Promotion abschließen und dann eine Habilitationsschrift verfassen, sodass er überhaupt in der Lage war, innerhalb eines akademischen Ambientes, ernst genommen zu werden. Diesen Mühen unterzog er sich im Alter von über 50 Jahren. Ab Oktober 1992 übernahm Wolfgang Schad die Leitung des Instituts für Evolutionsbiologie und Morphologie an der UWH, schloss seine Promotion zum ‹Heterochronie-Modus in der Evolution der Wirbeltiere und der Hominiden› allerdings erst im folgenden Monat ab. Für seine Habilitation wählte er ein weiteres, ihn lebenslang begleitendes Thema: ‹Die Zeitintegration als Evolutionsmodus›. 1997 habilitierte er sich, was es ihm erlaubte, das Institut für Evolutionsbiologie und Morphologie weiter auszubauen. Die Frage nach der Zeit, was Zeit überhaupt ist und wie sie sich in der Entwicklung der Natur darlebt, begleitete ihn schon lange, so wie er an den meisten Themen lebenslang arbeitete.

Während der Jahre seiner Institutsleitung gewann er einige wenige Schüler (keiner der großen anthroposophischen Goetheanisten hatte übrigens eine solche Vielzahl von Schülern), musste sich zu seinem Leidwesen auch den bürokratischen Anforderungen eines solchen Lehrstuhls widmen, und intensivierte seine wissenschaftliche Arbeit. In seinen Forschungen zeigte sich immer deutlicher, dass evolutionäre Entwicklungen nicht allein durch Zufall, aber auch nicht allein durch Teleologie stattfinden. Wolfgang Schad widmete sich verstärkt der inneren Autonomie verschiedenster Lebewesen und verfolgte, wie diese infolge epigenetischer Veränderungen, sofern diese vererbt werden, zu neuen Entwicklungsformen führen kann. «Das Zufallselement befreit den Evolutionsverlauf von dem teleologischen Determinismus jedweden Plans. Es ist inzwischen durch die Quanten- und Chaostheorie auch von dem kausalen Determinismus in seinem Absolutheitsanspruch befreit.»

Goethe und das Leben

Nachdem Wolfgang Schad die Leitung des Instituts 2005 in andere Hände gelegt hatte, setzte er seine Beschäftigung mit den grundlegenden, ihn das ganze Leben begleitenden Fragen fort. Also die Fragen nach dem Leben, der Zeit, der inneren Autonomie der Lebewesen, deren Interdependenz, der Freiheit des Menschen und deren Voraussetzungen in der Leiblichkeit des Menschen, der Evolution und ihrer Sonderfälle. So schrieb er für einen Beitrag 2011 in der Einleitung:

In der Biologie findet sich immer schon eine Behandlung der Simultanität aller drei Zeitmodi, allerdings ohne dass schon das begriffliche Fazit gezogen wurde. Sie geht fortwährend damit um, dass in jedem Lebewesen dessen evolutive Vergangenheit als sein Erbgut gegenwärtig vorliegt. Ebenso liegt in jedem Lebewesen dessen Potenz zu vielen Realisationsmöglichkeiten in der Zukunft in jedem Augenblick vor: die ‹prospektive› Potenz zu Restitution und Regeneration. Beides zu verbinden macht seine permanente Gegenwart aus. Dadurch laufen in jedem Organismus ontogenetisch wie phytogenetisch unterschiedliche Zeitströme gleichzeitig neben- und miteinander ab, die wir heute als Heterochronien bezeichnen. Leben besteht mehr noch als in der Physik und Chemie des Toten in der Zeitintegration über alle drei Zeitmodi.1

Dieses Zitat ist zwar nur ein Anriss, beleuchtet aber, mit wie wenigen Worten Wolfgang Schad gegen Ende seines Lebens Grundtatsachen beschreiben konnte. Hier also, wie Zeit und Leben miteinander zusammenhängen.

Darüber hinaus widmete er sich einem weiteren lebenslangen Thema, dem er sich immer liebevoll zuwandte, Johann Wolfgang Goethe. Viele seiner Aufsätze zu Goethe, dessen Naturauffassung und dessen Verhältnis zum Christentum, zeugen davon. Wie die Anregungen Goethes im Goetheanismus eine Fortsetzung finden, beschäftigte ihn intensiv. Unermüdlich suchte Wolfgang Schad die methodischen Grundlagen des Goetheanismus zu beschreiben und diesen methodischen Ansatz zu reflektieren. Dabei war es ihm auch ein Anliegen, den Unterschied zwischen Goetheanismus und Anthroposophie herauszuarbeiten und die unterschiedlichen methodischen Herangehensweisen darzustellen. Je älter er wurde, desto mehr tauchten Themen zur geistigen Wesensseite des Menschen auf. In Abgrenzung vom Goetheanismus, der die sinnlich sichtbare Welt studiert, fragte sich Wolfgang Schad, wie die Anthroposophie als wissenschaftliche Methode entwickelt werden kann. Und das war durchaus praktisch gemeint. Denn worauf kommt es zum Beispiel beim Lehrer an: darauf, dass dieser die Notwendigkeit der Selbstreflexion erkennt, darauf, dass der Lehrer sich als derjenige entdeckt, der auf der Suche nach sich selbst ist und dem Schicksal die Chance gibt, sich zu offenbaren. Wolfgang Schad knüpfte seine Überlegungen und Betrachtungen immer an die Aufgaben an, die es für jeden einzelnen zu erledigen gilt. Er war insofern ein praktischer Mensch.

Aber die Natur versteht gar keine Spaß, sie ist immer wahr, immer ernst, immer strenge; sie hat immer recht, und die Fehler und Irrtümer sind immer des Menschen.

Johann Wolfgang Goethe: Gespräche mit Eckermann. 2. Teil, 13.2.1829.

Wolfgang Schad verabschiedete sich aus seinem Forscherleben am 15. Oktober 2022.


Wolfgang Schad, Säugetiere und Mensch, Ihre Gestaltbiologie in Raum und Zeit. Verlag Freies Geistesleben, 1. Auflage Stuttgart 2012, 2 Bände. 1255 Seiten.

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Footnotes

  1. Wolfgang Schad, Expedition in die Zukunft. In: Wendezeit – Bausteine für einen anderen Fortschritt. 2011, S. 6–15.

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