Verlust der Mitte

Sie hat sich aus der Seele, hat sich zwischen uns Menschen zurück­gezogen. Ein innerlich-äusserlicher Rückzug. Ihn zu verstehen, ein Schritt seiner Wandlung?


Vor 24 Jahren, gefühlt kurz nach dem Mauerfall, erfüllt von der Suche nach Alternativen – es wurde zu dieser Zeit viel vom dritten Weg gesprochen – haben wir das Unternehmen Mitte gegründet. Ein Kaffeehaus in einer alten Bank in Basel. Ein Freiraumprojekt für das Zwischenmenschliche, für die aktive Bewirtschaung der Mitte.

Das Haus stand zwar mitten in der Stadt, aber wir wussten, die Mitte ist kein Ort. Die Mitte ist eine Aktivität, die überall stattfinden kann. Ein Interesse, ein Bemühen, ein Anliegen, eine Aufmerksamkeit, eine Höflichkeit, ein Zwischenraum, den man sich schenkt.

Dann, im dritten Jahr, als das Kaffeehaus schon zu florieren begann, sackten an einem strahlenden Septembertag, durch mutwillige Flugzeugeinschläge getroffen, zwei Hochhäuser zu Boden und begruben Manhattan unter grauem Staub. Das war das Ende der hoffnungsvollen 90er-Jahre. Es gab Wut und Trauer. Es gab sogar die Wut auf die Trauer. Es wurde grau.

Die Mitte, das Vertrauen, der Zwischenraum, in dem die Farben entstehen, wurde ein erstes Mal zerschlagen. Jeder könnte ein Terrorist sein. Ab jetzt wurde aufgerüstet, verdächtigt und zurückgeschlagen. Afghanistan. Irak. Behauptungs- und Rechthabertaten überall.

Dann kam das Smartphone, und alle waren hin und weg. Verschwunden, versunken, gefangen, sogar süchtig. So wurde die Mitte ein zweites Mal vernichtet, denn hinter dem Bildschirm gibt es keinen Zwischenraum, keine echten Farben, keine Seele, keine Aufmerksamkeit, nur ein rechthaberisches Daumen hoch oder runter.

Die Rechthaberei ist so gefährlich, weil sich ein Rechthaber, eine Rechthaberin nur noch mit seines- oder ihresgleichen umgibt.

Ja, Rechthaberei. Das ist es, was spaltet, was jede Freundschaft trennt, was jeden Zwischenraum zerschlägt und jedes wahre Interesse verhindert. Wir haben in den letzten zwei Jahren alle hautnah erlebt, wie – noch mehr, als die physische Belastung der Atmosphäre zwischen den Menschen durch ein Virus – die Rechthaberei im Umgang damit zur großen Spaltung mitten durch die kleinsten sozialen Zellen geführt hat.

Es gäbe noch von vielen verlorenen Mitten zu berichten. Von rechthaberischen Präsidenten, die den höflichen Zwischenraum im politischen und diplomatischen Betrieb mutwillig zerstören, von Medien, die Andersmeinende sofort als Schwurbler und Verschwörer oder als Systemtreue und Schafe in die Ecke drängen, oder von Sprach- und Kulturpolizisten, die alle Äußerungen in richtig und falsch aufspalten und entsprechend belohnen oder bestrafen.

Die Rechthaberei ist so gefährlich, weil sich ein Rechthaber, eine Rechthaberin nur noch mit seines- oder ihresgleichen umgibt, bis er, verloren in der eigenen Welt, fern seiner Mitmenschen, ja vielleicht fern seines eigenen Herzens, hart und verrückt geworden, die Welt tyrannisiert und zerstört, nur um recht zu behalten. So scheint Putin. Jede Mitte, jeden Raum für Austausch hat er einen nach dem anderen abgeschafft und verboten. Jetzt ist schmerzlich sichtbar, was daraus resultiert.

Unsere Hoffnung nach dem Mauerfall, die Hoffnung auf das Dritte, auf die Mitte, hat sich über die Jahre hinweg Stück um Stück verloren. Rechthaberisch und achtungslos wurde der Zwischenraum zwischen Ost und West Land für Land besetzt, bis die Mitte fast ganz verschwunden war. Und jetzt ist die Hölle los, weil die Mitte fehlt. Jetzt hilft kein Bewaffnen, kein Kämpfen, nur beten und beistehen, denn da im Herzen lebt in jedem Mensch die Mitte. Und sie lebt zwischen uns, zwischen allen Menschen.


Die Tangente der Kreise ergibt das geometrische Mittel der beiden Durchmesser. Der Umkreis macht die Mitte möglich.

Wo ist die Mitte?

Mathematisch gibt es darauf drei Antworten. Die einfachste Form der Mittelbildung ist das arithmetische Mittel. Beispiel: Zwischen den Zahlen 4 und 9 ergibt dies mit (4 + 9) : 2 = 6,5. Wie gut, dass es nun weitere Mittelbildungen gibt. So zeigt schon die einfache Mathematik, dass die Mitte ein viel reicherer, vielfältigerer Ort ist als das simple arithmetische Mittel. Es folgt das geometrische Mittel. Hier werden die Zahlen nicht addiert, sondern multipliziert und anschließend die Wurzel gezogen. Für die Anschauung: Man zeichnet aus den beiden Zahlen 4 und 9 ein Rechteck und formt es zu einem Quadrat gleicher Fläche, um nun dessen Seite als neu gewonnene Mitte zu verstehen. Als Rechnung: √(4 × 9) = √ 36 = 6

Diese Mitte gewichtet die kleinere Zahl stärker. Die harmonische Mitte aus der projektiven Geometrie ist die dritte Möglichkeit, zwei Zahlen in einen Ausgleich zu bringen. Hier wird das doppelte Produkt der beiden Zahlen durch ihre Summe geteilt. 2 × (4 × 9)/(4 + 9) = 5,54. Die kleinere Größe erhält hier noch mehr Gewicht und nicht ohne Grund heißt diese Mittelbildung ‹harmonisch›, weil hier die Mitte noch mehr zum kleineren Partner wandert, das Kleine durch die Mittelbildung groß wird. Wer nach diesem Exkurs das arithmetische Mittel als das eigentliche versteht, zeigt, wie sehr er bzw. sie in der klassisch griechischen Geometrie beheimatet oder sogar gefangen ist. Denn: Die Mitte ist zu beiden Polen gleich weit entfernt, aber das ‹gleich weit› ist nicht starr, nicht absolut zu nehmen – so ist das Leben. Deshalb ist das vertraute arithmetische Mittel das Mittel der leblosen Natur, während geometrisches und harmonisches Mittel den Weg zum Lebendigen zeigen.

Wolfgang Held

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